Magazinrundschau

Spukhafte Resonanz

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
11.10.2022. Atlantic untersucht die linke Cancel Culture in der amerikanischen Kunstwelt, der New Yorker das nationalistische Anschwärzen in Bollywood. Die New York Times berichtet, dass auch im franquistischen Spanien ärmeren Familien die Kinder geraubt wurden. In der LARB blickt Swetlana Alexijewitsch auf Russland und versucht zu begreifen, wie der Rote Mensch faschistisch wurde. Eurozine setzt auf die Wahrheit von Frauen über 45. In Elet es Irodalom erkennt der Philosoph Mihály Szilágyi-Gál, dass Schweigen dem Monotheismus der Macht dient. Der Merkur vermisst den künstlerischen Mehrwert der Documenta Fifteen.

The Atlantic (USA), 01.11.2022

Helen Lewis beschreibt an mehreren Beispielen in der amerikanischen Kunstwelt (darunter Nancy Spector vom Guggenheim), wie schnell cancel culture dort Opfer forderte, die als Sündenböcke für ein System herhalten müssen, das sich so jeder Reform entziehen kann. Das hat gewissermaßen Methode: "Einer meiner Gesprächspartner merkte an, dass eine unverhältnismäßig große Zahl der leitenden Kuratoren, die unter schwierigen Umständen ausgeschieden sind, weiße Frauen oder Homosexuelle waren - Gruppen, die in Führungspositionen aufstiegen, als sie noch als marginalisierte Identitäten galten, bevor ihr Weißsein politisch stärker ins Gewicht fiel als ihr Geschlecht oder ihre Sexualität. Luke Nikas, ein Anwalt, der Olga Viso bei ihrem Vergleich mit dem Walker Art Center vertrat, sagte mir, dass sie eine von einem halben Dutzend Klienten mit ähnlichen Geschichten sei. Frauen in Spitzenpositionen in Museen, so Nikas, werden härter angegangen als Männer, wenn sie schwierige personelle oder kuratorische Entscheidungen treffen müssen. Er hat sich bereit erklärt, mehrere Kuratorinnen pro bono zu vertreten, weil er der Meinung ist, dass Museen nicht wie risikoscheue Unternehmen geführt werden sollten: Wenn eine Bank oder ein Eiscreme-Unternehmen sich dem Druck der sozialen Medien beugt, ist das ihre Sache, aber die Kunst sollte ein Ort sein, an dem provokante Fragen gestellt und Tabus in Frage gestellt werden. Marilyn Minter, eine Pädagogin und Künstlerin, sieht hinter der Flut von Entlassungen und erzwungenen Rücktritten einen Generationswechsel. In den 1980er Jahren, als ihre pornografischen Bilder von der christlichen Rechten und von radikalen Feministinnen angegriffen wurden, standen ihre Künstlerkollegen ihr bei. Aber Nancy Spector erhielt nicht die Unterstützung ihrer Kollegen, so Minter, weil die Welt der sozialen Medien 'versucht, Unvollkommenheit auszulöschen - und Unvollkommenheit ist das, was wir sind. Wenn wir diese aufgeräumte Welt sehen, wird sich jeder ständig wie ein Versager fühlen.'"

Weitere Artikel: Die im amerikanischen Exil lebende Bushra Seddique hofft gegen besseres Wissen, dass die afghanischen Frauen sich einen Rest Freiheit bewahren können: "Es wäre schön zu glauben, dass Frauen in der Privatsphäre ihres eigenen Heims frei geblieben sind; dass sie einer unterdrückenden Regierung, die sie nicht als vollwertige Menschen ansieht, den Rücken kehren und zumindest in ihren persönlichen Beziehungen weiterhin die sein können, die sie schon immer waren. Aber das ist nicht der Fall. Indem die Regierung die Frauen aus dem öffentlichen Raum entfernt hat, hat sie auch das Patriarchat im Haus wiederhergestellt, wo Männer wieder Richter und Geschworene sind." Und der Historiker Christopher R. Browning erinnert die Amerikaner mit dem Beispiel von Hitlers Aufstieg daran, wie man auch mit einer "legalen Revolution" die Demokratie unterminieren kann.
Archiv: The Atlantic

New Yorker (USA), 11.10.2022

Wo ideologisch motiviertes Anschwärzen hinführen kann, erfährt man in Samanth Subramanians Reportage über Bollywood, wo immer öfter Filmemacher und Schauspieler von nationalistischen Hindus schikaniert, angezeigt oder gar verprügelt werden, weil sie sich beleidigt fühlen. "'Erst in den späten Achtzigerjahren und immer häufiger in den Neunzigerjahren beginnen Mainstream-Filme, Muslime als Gangster, Schmuggler und dann als Terroristen zu zeigen', meint der Filmwissenschaftler Ira Bhaskar. Es sei kein Zufall, dass dies auch die Jahrzehnte seien, in denen die BJP als Wählergruppe wachse. ... Im Jahr 2010 traf Bhaskar den Regisseur Yash Chopra, der zwischen den sechziger und achtziger Jahren viele streng säkulare Filme gedreht hatte. 'Diese Art von Filmen könnten wir heute nicht mehr machen', sagte er ihr. Das pluralistische Ideal sei zu sehr verwelkt. "Damals haben wir daran geglaubt.' Aber vielleicht war es ein Fehler, das Kino als moralischen Kompass zu betrachten, es als etwas anderes zu behandeln als das, was es ist: eine Maschine, die Geld verdient, indem sie so viele Menschen wie möglich zufriedenstellt. 'Ein Teil der Kritik, Bollywood sei frivol oder frauenfeindlich, kommt von der wohlmeinenden liberalen Linken, die auf die Form herabschaut', sagte mir Nandini Ramnath, eine Filmkritikerin für die indische Nachrichten-Website Scroll.in. Ramnath ist der Meinung, dass Bollywoods beliebtestes Produkt, die Familienunterhaltung, das Publikum nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Vanille-Universalität anspricht. 'Wenn die Linke besorgt war, dass solche Filme nicht präskriptiv oder edel genug waren - nun, die Rechte will, dass Filme auf ihre eigene Art präskriptiv sind', sagte sie. Die Führer der BJP sind 'brillant darin, den Eindruck zu erwecken, dass sie allwissend und allmächtig sind', fügte sie hinzu. 'Und ich denke, das deutlichste Signal ist: Überlegt es euch zweimal, bevor ihr etwas sagt oder tut, denn ihr wisst nicht, wen ihr damit verletzen werdet, und ihr könnt davon ausgehen, dass es uns verletzen wird.'"

Im New Yorker der letzten Woche erzählt David Kortava die Geschichte von Taras, einem Ukrainer aus Mariupol, der zusammen mit etwa 40 anderen Ukrainern von russischen Soldaten in ein Filtrationslager verschleppt wurde. Im Lager Kozatske konnte Taras den russischen Oppositionsjournalisten Eduard Burmistrow über Telegram kontaktieren. "Taras schickte eine Reihe von Nachrichten an Burmistrow: 'Eine Person hatte einen Mini-Schlaganfall. . . Wir werden alle krank... . . Jeder hustet. Wir gehen auf dem Feld auf die Toilette. Wir essen mit Löffeln, die nicht mehr gewaschen werden. Es gibt kein fließendes Wasser. . . . Es gibt keine Antworten auf unsere Fragen, warum wir festgehalten werden und wann wir freigelassen werden.' Mit der Erlaubnis von Taras plante Burmistrov, Teile des Berichts zu veröffentlichen. 'Dies kann nicht aufgeschoben werden', schrieb Taras. 'Wenn uns etwas zustößt, sollte die Welt davon erfahren!!!!!!!'. Aus Angst, dass sein Telefon kontrolliert werden könnte, löschte Taras den gesamten Austausch." Nach sechs Wochen wurden Taras und seine Mithäftlinge freigelassen. Doch viele verschwinden für immer in den Lagern. "Die genaue Zahl der Ukrainer, die in Filtrationszentren in Russland und den besetzten Gebieten festgehalten werden, ist nicht bekannt", so Kortava. "Nach russischen Angaben wurden bereits fast vier Millionen Ukrainer in irgendeiner Form gefiltert und nach Russland 'evakuiert', einige davon bis nach Wladiwostok im Osten, nahe der russischen Grenze zu Nordkorea. (Die USA schätzen die Zahl auf zwischen neunhunderttausend und 1,6 Millionen.) Ilja Nusow, ein in Russland geborener Rechtsanwalt und Leiter der Abteilung Osteuropa und Zentralasien der Internationalen Föderation für Menschenrechte, bezeichnete das russische Filtersystem als 'ein Programm zur Erleichterung der Zwangsumsiedlung eines großen Teils der Bevölkerung, das auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinauslaufen könnte'."

Weitere Artikel: Rivka Galchen überprüft die Akkustik im renovierten Lincoln Center. Alex Ross feiert den Genius des Tenors Lawrence Brownlee. Anthony Lane sah Park Chan-wooks "Decision to Leave" im Kino. Peter Schjeldahl besucht die große Tillmans-Schau im Moma.
Archiv: New Yorker

HVG (Ungarn), 11.10.2022

Die Proteste von Lehrern und Schülern gegen die Bildungspolitik erreichten vergangene Woche in Ungarn einen Höhepunkt. Flächendeckend haben Lehrerinnen und Lehrer die Arbeit niedergelegt, obwohl ihnen das Streikrecht kürzlich durch eine Verordnung genommen worden war. Die beteiligte Pädagogen werden nun von der zentralisierten Schulbehörde einzeln ermittelt und entlassen. Die Lehrerin und Übersetzerin Katalin Törley, Gründungsmitglied der Bewegung Tanítanék für eine bessere Bildung in Ungarn, spricht im Interview mit Péter Hamvay über die Proteste. "Uns kann man zwar entlassen und zum Verlassen des Berufs zwingen, doch das zusammenbrechende Schulsystem, dass sich beinahe nicht mal mehr zur Kinderaufbewahrung eignet, bleibt am Hals der Regierung hängen … Das Bildungssystem ist meiner Ansicht nach bereits zusammengebrochen, doch das merkt man nicht, weil die verbliebenen Lehrer es auf ihren Schultern tragen. So heldenhaft dies auch sein mag, ist es weder für die Kinder gut noch für die Gesellschaft."
Archiv: HVG

LA Review of Books (USA), 27.09.2022

Die belarussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch erzählt im Gespräch, wie sie ihre Interviews zu einem polyphonischen Gesang fügt. Sie spricht auch über Tschernobyl und das neue Buch an dem sie gerade arbeitet, über die Revolution in Belarus: "Dort gab es einen Versuch einer Revolution, einer friedlichen Revolution. Im 21. Jahrhundert brauchen wir keine Explosionen mehr, um eine Diktatur zu beseitigen. Aber es hat nicht geklappt, und viele Menschen, Millionen von Weißrussen, mussten fliehen, auch ich. Ich versuche, darüber zu schreiben, und ich habe diese Dinge auf meinem Schreibtisch, aber ich möchte die Geschichte beenden, was mit dem Roten Menschen, der Mensch der Roten Idee, passiert. Wir dachten, es sei alles vorbei, der Kommunismus sei tot, die Diktatur sei tot, aber nein, es geht weiter und weiter. Ich dachte, ich wäre mit dem Buch fast fertig, und dann begann der Krieg in der Ukraine, und mir wurde klar, dass ich weiterschreiben muss, weil alles miteinander verbunden ist. Ich muss hinzufügen, was dort passiert. Dieser rote Mensch träumte von der Freiheit, und sie schien in greifbarer Nähe zu sein. Aber wir wussten nicht, was für eine langwierige Arbeit das sein würde. Wenn man sein ganzes Leben in einem Gefangenenlager verbracht hat, wird man nicht frei, wenn man entlassen wird. Das ist nicht das, was Freiheit ist. Man befindet sich nur in einem anderen Raum. Wir hatten unseren Versuch einer friedlichen Revolution, jetzt haben wir den Krieg in der Ukraine, wir haben jetzt den russischen Faschismus. So weit ist es gekommen, eine neue Art von Faschismus. Das Buch geht also weiter, denn das Leben geht weiter. Ich habe das Gefühl, dass ich das ganze Buch neu schreiben muss. Ich habe so viel Material, und ich kann einfach nicht aufhören."

Aktualne (Tschechien), 27.09.2022

Anlässlich einer Ausstellung in der Millenium-Galerie in Prag erinnert Ivan Adamovič an den tschechischen Künstler, Schriftsteller, Diplomaten und Reisenden Adolf Hoffmeister (1902-1973). Hoffmeister sei eine wahre Renaissance-Persönlichkeit gewesen. Schon das Haus, in dem er fast sechzig Jahre lebte, war einzigartig: das kubistische Prager Gebäude Diamant des Architekten Emil Králíček. 1920 war Hoffmeister Mitbegründer der Künstlergruppe Devětsil, lernte unter anderem die Kafka und Majakowski kennen, später Man Ray, Chesterton, Shaw, Joyce. Heute ist Hoffmeister in Tschechien vor allem für seine Porträts und Karikaturen bekannt (hier eine Auswahl). Karikaturen, so Adamovič, seien damals die Antwort der Künstler auf die zunehmende Technisierung gewesen. "Im Zeitalter der Maschinen schien es, dass auch die Kunst vereinfacht werden musste, wenn sie nicht spießbürgerlich wirken wollte. Die ganze klassische Malerei schien den jungen Künstlern veraltet - der Bilderrahmen wurde zum Gefängnis der Imagination. Und Zeitungen - ein ohne Maschinen undenkbares Medium - konnten die aus wenigen markanten Strichen bestehenden Zeichnungen besser abbilden." Hoffmeister engagierte sich politisch als Linksintellektueller und schrieb das Libretto der Kinderoper "Brundibár", die durch ihre Aufführung durch jüdische Kinder im KZ Theresienstadt traurige Berühmtheit erlangte. Nach dem Einmarsch der Deutschen floh er nach Paris, wo er zusammen mit anderen tschechischen Intellektuellen verhaftet wurde, die der Spionage für Moskau verdächtigt wurden, dann über Afrika, Kuba weiter in die USA. Nach dem Krieg war er unter anderem als Diplomat für die kommunistische Regierung tätig, in der Zeit der politischen Prozesse verlor er jedoch seine Ämter, reiste aber weiter durch die Welt. Nachdem sich seine Hoffnungen des Prager Frühlings zerschlagen und die kommunistische "Normalisierung" eingesetzt hatte, zog sich der Vielgereiste, der Mann, der den ersten tschechischen Staatspräsidenten Masaryk mit einer einzigen Linie zu zeichnen verstand, in die innere Emigration zurück.
Archiv: Aktualne

Quietus (UK), 08.10.2022

Von Comics hat er sich 2019 offiziell verabschiedet, heute ist Alan Moore "nur" noch Schriftsteller. Weniger grantig oder weniger genial durchgeknallt in seiner Amalgamisierung von Kulturgeschichte, Esoterik und Gesellschaftskritik ist er dadurch aber weißgott nicht geworden. Dieser Tage erscheint auf Englisch seine neue Kurzgeschichtensammlung "Illuminations" und angekündigt (und dem Vernehmen nach zur Hälfte geschrieben) ist eine fünfbändige Fantasy-Saga über London. Dem Popkultur-Magazin The Quietus hat Moore daher ein großes Interview gegeben - oder vielleicht besser gesagt: einen von nur gelegentlichen Nachfragen durchkreuzten Vortrag gehalten, in dem es mal wieder um tausend Themen und alles und jenes geht. Unter anderem auch um die Fähigkeiten Englands, Honig für erzählerischen Stoff zu saugen: "Nahezu mein gesamtes, auf Englisch basierendes Werk fokussiert auf Northampton. Aber ja, tatsächlich stoße ich in der englischen Landschaft auf ein ansehnliches Stück spukhafter Resonanz. Ich würde sagen, das ist der vierdimensionale Aspekt dieser Gegend. Wenn Einstein Recht damit hat, dass wir in einem Universum aus mindestens vier Dimensionen leben, von der wir eine als den Fluss der Zeit erleben, dann muss man dieses Zeit-Element berücksichtigen, wenn man sich Orte näher ansieht. Möchte man das Ausmaß eines Ortes in den Blick bekommen, muss man auch die vierte Dimension betrachten. Rein geografisch betrachtet sind wir eine verhältnismäßig kleine Insel, die irgendwo an Europa abknickt. Aber das tatsächliche Ausmaß von England, von Britannien, ist historisch betrachtet enorm. Nur mal Northampton als Beispiel: Wir hatten Mammutjäger hier, die Römer, aus Perspektive der Sachsen bildeten wir den Mittelpunkt des Landes. Die Normannen waren hier, aber da gerieten wir in Missgunst wegen Hereward the Wake, einem örtlichen Terroristen, der, als ich aufwuchs, noch zu Englands legendären Helden zählte. Die englische Sicht auf die Welt ist ein wenig seltsam oder exzentrisch und das treibt wunderbare, fantasievolle Blüten. Ich kann meinen Finger nicht genau drauf legen. Ich würde sagen, seit dem Zweiten Weltkrieg sind wir sicher ein bisschen verrückt geworden. Ich denke, eine posttraumatische Belastungsstörung könnte ziemlich gut erklären, warum die Briten sich den Dingen ein wenig schrullig nähern - zumindest seit dem Krieg. Aber das geht noch viel tiefer. Ich denke, es hat damit zu tun, dass wir so oft überfallen wurden, aber vielleicht auch mit der englischen Sprache selbst. Englisch ist eine Art brillanter Sklaven-Zungenschlag. Wir haben uns von jedem, der uns überfallen hat, Wörter geborgt. Man stößt im Englischen auf so viele Ausdrucksmöglichkeiten und Schattierungen von Wörtern und Bedeutungen. Vielleicht prägt das auch einfach in gewisser Hinsicht unser Denken?"
Archiv: Quietus

Merkur (Deutschland), 01.10.2022

Cristina Nord bilanziert die Film- und Videoarbeiten auf der Documenta fifteen und muss zugeben, dass sie nicht besondern glücklich wird mit all den eindimensionalen Agitprop- und Folklorefilmen. Ästhetischen Mehrwert erlebt sie selten, am Ende steigt bei ihr der unbehagliche Gedanken auf, dass die Kunstschau unter Okwui Enwezor vor zwanzig Jahren schon weiter war als jetzt unter Ruangrupa. Dass ihr Beharren auf Komplexität westlicher Arroganz entspringt, glaubt sie eigenlich nicht. Der Beweis: "Im hintersten Raum der documenta-Halle verebben meine Zweifel für die Länge eines Spielfilms. Das Kollektiv Wakaliga Uganda zeigt hier neben vielen Filmplakaten und Requisiten einen ihrer No-Budget-Filme, Football Kommando. Mit einem deutschen Fußballstar, seiner ugandischen Frau und ihrem Sohn, der verschwindet, was eine action- und trickreiche Ermittlung nach sich zieht. Hier wird das eigentlich teure Medium Film zu einem fröhlichen DIY-Spektakel, fast für umsonst, pointen- und einfallsreich, wagemutig in den Appropriationen (Kung Fu ist in den meisten Actionszenen das Mittel der Wahl) und Mehrdeutigkeiten (der deutsche Fußballer heißt Ruminiger). Hier gibt es kein Othering, keine Selbstexotisierung und schon gar keinen Miserabilismus. Versprochen wird nicht viel, außer vielleicht ein Beschäftigungsprogramm für die Bewohnerinnen und Bewohner des Wakaliga-Slums in Kampala, die sich von den Kollektiv-Mitgliedern zu Kostüm- oder Maskenbildnern ausbilden lassen können. Und vielleicht, dass Quatsch seine ganz eigenen Utopien generiert, indem er die Notwendigkeit von Sinnproduktion übermütig infrage stellt."
Archiv: Merkur

Eurozine (Österreich), 06.10.2022

Anna Efimova unterhält sich für New Eastern Europe (von Eurozine ins Englische übersetzt) mit Liliya Vezhevatova, einer Koordinatorin des Feministischen Antikriegs-Widerstands in Russland, über ihre Bewegung, die sich besonders auf Frauen ab 45 konzentriert. "Die Aktivisten verteilen unseren Samisdat (Selbstverlag), eine Zeitung für Frauen über 45 mit dem Namen Female Truth, in 20 russischen Städten und Gemeinden. Die russischen Behörden können die Daten über die Verluste der russischen Armee verbergen, so viel sie wollen, aber sie werden nicht in der Lage sein, Friedhöfe zu verstecken. ... Langfristig glauben wir jedoch, dass diese Gruppe eine Kraft sein wird, die die öffentliche Meinung über diesen Krieg erschüttert und umkehrt. Es sind unsere älteren Verwandten, die Mütter der Offiziere, der tschetschenischen Kriegsteilnehmer. Wir betrachten sie als Opfer der gegenwärtigen Situation. Als ihnen erzählt wurde, der Krieg in der Ukraine sei eine Nachfolge des Krieges von 1941-45 glaubten, wurden sie getäuscht und belogen. Wir verlagern den Krieg vom ideologischen Schlachtfeld in ihre Kühlschränke, Geldbörsen und Familien und machen ihn so real und nah, als würde er vor ihrer Haustür stattfinden. Wir sprechen sie mit universellen Themen von menschlichem Interesse an, wir sprechen über Preiserhöhungen, über ihre Lieblingsprominenten, die den Krieg missbilligen, und über die versprochenen Entschädigungen, die nie an die Familien der in der Ukraine gefallenen russischen Soldaten ausgezahlt worden sind. Die Zeitung hat sehr positive Kritiken erhalten. Menschen berichten uns, dass sie, nachdem sie ihren älteren weiblichen Verwandten die Zeitung in die Hand gedrückt hatten, ein Gespräch über den Krieg führen konnten. Sie taten dies zum ersten Mal seit Kriegsbeginn, ohne sich gegenseitig als Verräter zu beschuldigen. Durch die Wahl eines nicht radikalen Tons und das Eingehen auf die Interessen und Sorgen des Publikums hat unsere Zeitung diese Ergebnisse erzielt."

Außerdem: Kian Tajbakhsh feiert Irans ersten feministischen Aufstand: "Ich glaube, wir sind Zeugen von etwas, das es in der iranischen Geschichte noch nie gegeben hat: eine feministische soziale Bewegung. Die erneute Forderung nach einer rechenschaftspflichtigen Regierung und individueller Freiheit - dem liberal-demokratischen Ideal - ist aus dem Kampf gegen die patriarchalische Kontrolle über den Körper der Frauen und die paternalistische Beherrschung des öffentlichen Raums hervorgegangen. ... Die heutige feministische Bewegung, Frauen wie Männer, sagt Nein: Frauen werden in der Öffentlichkeit existieren, nicht als Mündel unter der Kontrolle männlicher Hüter religiöser Gesetze, sondern als gleichberechtigte Bürger. Sie fordern die Anerkennung der grundlegenden individuellen Menschenwürde und Freiheit, wie sie der moderne Mensch zu erwarten hat. Auch wenn diese Forderungen im Moment politisch noch unausgegoren sind, so sind sie doch zum Teil bereits mit umfassenderen Forderungen nach politischen Veränderungen verbunden."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Ukraine-Krieg 2022, Russland, Iran

Elet es Irodalom (Ungarn), 07.10.2022

Vergangene Woche lehnte der junge Schauspieler Benett Villányi den ihm zugesprochen unabhängigen Junior-Prima-Theater-Preis mit der Begründung ab, dass die Organisatoren ihn ausdrücklich darum baten, keine politischen Themen bei der Dankesrede anzusprechen. Der Philosoph Mihály Szilágyi-Gál kommentiert die entstandene Situation "Die besagte Angelegenheit wurde nicht aus dem Grunde politisch, weil der Auszuzeichnende sich unverschämter Weise entschied, sich trotz der ausdrücklichen Bitte politisch zu äußern. Sondern weil er darum gebeten wurde. Eine politische Äußerung beginnt nicht damit, dass wir etwas sagen, sondern wie wir uns demgegenüber verhalten, ob wir überhaupt etwas sagen dürfen. So wie der Kommentar, ist auch das 'No Comment' politisch, vor allem wenn wir dazu aufgefordert werden oder es uns gar verboten wird. Vielleicht wäre es falsch gewesen bei der feierlichen Preisverleihung sich politisch zu äußern, aber nur wenn man nicht versucht, dies dem Auszuzeichnenden auszureden … Eine politische Äußerung ist Einstehen. Wenn einem das Einstehen verboten wird, dann wird für das Einstehen ein triftiger Grund geliefert. In der politischen Äußerung ist stets jene Symmetrie präsent, dass sich auch der andere äußern kann. Ohne diese Einsicht ist die Politik lediglich ein Monolog. Und dann handelt es sich auch nicht mehr um Politik, sondern um den Monotheismus der Macht."

New York Times (USA), 08.10.2022

Nicholas Casey erzählt Geschichten aus dem franquistischen Spanien, wie man sie schon aus Irland oder Kanada kennt - Geschichten von Kindern, die armen Müttern bei der Geburt weggenommen werden. Die Katholische Kirche spielt die in diesen Kontexten übliche Rolle: "Nach Angaben der Mütter nahmen Nonnen, die in Entbindungsstationen arbeiteten, die Säuglinge kurz nach der Geburt an sich und teilten den Frauen, die oft unverheiratet oder arm waren, mit, dass ihre Kinder tot geboren worden seien. Doch die Babys waren nicht tot: Sie waren diskret an wohlhabende katholische Eltern verkauft worden, von denen viele keine eigenen Familien gründen konnten. Unter einem Stapel gefälschter Papiere verbargen die Adoptivfamilien das Geheimnis des Verbrechens, das sie begangen hatten. Die entführten Kinder waren in Spanien einfach als die 'gestohlenen Babys' bekannt. Niemand weiß genau, wie viele entführt wurden, aber Schätzungen gehen von Zehntausenden aus." Manche Kinder haben erst im Erwachsenenalter von ihrem Schicksal erfahren. Wie in Irland oder auch Kanada war es so, dass die Kirche wirtschaftlich von den Verhältnissen profitierte, weil der Staat Sozialfürsorge an sie delegierte. Es waren häufig Frauen, die so ermächtigt wurden: Die Nonnen "hatten das Kommando über das Bildungssystem, in dem den Kindern katholische Werte vermittelt werden sollten und sie anhand der Bibel lesen lernen sollten. Franco übertrug auch die Aufsicht über Teile des staatlichen Krankenhauswesens an den Klerus… Doch ihr Einfluss war vielleicht am stärksten in den karitativen Einrichtungen der Krankenhäuser, die die Armen aufnahmen."

Bei Meta, dem Konzern, dem Facebook und Instagram gehört, läuft's nicht so gut. Das von Mark Zuckerberg herbeigesehnte Metaverse mit seinen Spielen und Konferenzen in virtueller Realität will und will sich nicht einstellen, und sogar die Mitarbeiter scheinen nicht recht motiviert zu sein, hat ein Reporterteam, das mit vielen Mitarbeitern des Konzerns gesprochen hat, herausgefunden: "Während der Druck wächst, hat Zuckerberg eine klare Botschaft an die Meta-Mitarbeiter gesandt: Macht mit oder verschwindet. In einem Treffen im Juni, über das Reuters zuerst berichtete, stellte der 38-jährige Milliardär fest, dass es 'wahrscheinlich eine Reihe von Leuten im Unternehmen gibt, die nicht hier sein sollten' und dass er 'die Erwartungen und Ziele höher schrauben' werde, wie aus Kopien seiner Kommentare hervorgeht, die der Times vorliegen. Seitdem heuert das Unternehmen fast nicht mehr an, die Budgets sind gekürzt, und Zuckerberg hat die Manager aufgefordert, leistungsschwache Mitarbeiter zu identifizieren. Angesichts möglicher Entlassungen fangen einige Meta-Mitarbeiter an, mehr Begeisterung für das Metaverse zu zeigen."

Noah Gallagher Shannon erzählt die erbauliche und sehr lange Geschichte, wie es Uruguay mit viel politischem Geschick und einer Ideologie des Verzichts schaffte, das Land zu 98 Prozent mit alternativen Energien zu versorgen. Und selbst die Methangas-Bäuerchen der zwölf Millionen Rinder des Landes werden klimaneutral kompensiert, da das Grasland, auf dem sie weiden, die gleiche Menge Klimagase in sich aufnimmt - diese Berechnungen seien allerdings umstritten, so Shannon. Nebenbei erfährt man in dem Artikel, dass ein Deutscher durchschnittlich 15 Tonnen CO2 pro Jahr verursacht, und ein Franzose 9 Tonnen. Gut wären 2.
Archiv: New York Times