Magazinrundschau

Sieben Frauen und ein Baby

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
26.03.2024. Guernica hat den Artikel einer israelischen Friedensaktivistin veröffentlicht und ihn dann zurückgezogen. Das findet sogar The Nation peinlich. Washington Monthly hat ihn neu veröffentlicht. In Tvar erzählt  Marek Torčík von einer queeren Jugend in der tschechischen Provinz. HVG berichtet über neue Kompetenzen für die ungarische "Behörde zur Verteidigung der Souveränität".  La Vie des Idées liest Derek Parfit. Der New Yorker baut nah am Wasser.

Washington Monthly (USA), 26.03.2024

Am 10. März muss im Magazin Guernica ein Streit kulminiert sein, der dazu führte, dass ein Text der israelisch-britischen Autorin Joanna Chen, "From the Edges of a Broken World", von der Webseite des Magazins entfernt wurde und mehrere Mitglieder der Redaktion das Magazin verließen (mehr dazu hier). Auf der Seite, wo der Artikel stand, gibt es nur eine dürre Entschuldigung: "Guernica regrets having published this piece, and has retracted it. A more fulsome explanation will follow. By admin". Chen hatte über ihre Beziehung zu Israel geschrieben, das ihr lange fremd blieb, nachdem sie als 16-Jährige mit ihren Eltern von Blackpool, UK, dorthin gezogen war. Und von ihrem Engagement für Road to Recovery, eine israelische NGO, die palästinensische Kinder aus dem Gazastreifen und der West Bank in israelische Krankenhäuser fährt. Und natürlich über den Schock des 7. Oktober und den folgenden Krieg. Mit bemerkenswertem Ergebnis, wie man bei Washington Monthly lesen kann, das den Text wiederveröffentlicht hat: "Es ist nicht leicht, die Grenze der Empathie zu überschreiten und für beide Seiten Leidenschaft zu empfinden. Doch im Laufe der Tage verwandelte sich der Schock in einen dumpfen Schmerz in meinem Herzen und eine Schwere in meinen Beinen. Nachts lag ich im Bett auf dem Rücken im Dunkeln und hörte den Regen gegen das Fenster prasseln. Ich fragte mich, ob die israelischen Geiseln im Untergrund, die Kinder und Frauen, überhaupt wussten, dass das Wetter kalt geworden war, und ich dachte an die Menschen in Gaza, die Kinder und Frauen, die in den von den Vereinten Nationen zur Verfügung gestellten Zelten kauerten oder Schutz suchten. Ich starrte an die Decke und stellte mir vor, wie sie sich immer näher auf mich zubewegte, nicht einstürzte oder zusammenbrach, sondern sich wie ein Fahrstuhl in den Boden senkte. ... Ich schränkte meinen Nachrichtenkonsum ein und schloss mich einer Reihe von Solidaritätsgruppen an, Zoom-Treffen, bei denen die Menschen ihre Bestürzung und ihren Schock teilten. Aber es waren hauptsächlich Israelis, und ein Großteil der Gespräche drehte sich um ihre eigene Seite. Eine Frau brachte ihre Wut darüber zum Ausdruck, dass keiner der Palästinenser, die sie durch ihre ehrenamtliche Arbeit kannte, sich am 7. Oktober gemeldet hatten um zu fragen, wie es ihr gehe und ob ihre Familie in Sicherheit sei. Ich zuckte innerlich mit den Schultern angesichts dieses Gefühls. Die Palästinenser im Westjordanland hatten mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen: Schließung, Arbeitsunfähigkeit, drohende Massenverhaftungen durch die israelische Armee und Schikanen durch Siedler. Niemand war sicher." Zwei Wochen nach Beginn des Krieges fing Chen wieder an, palästinensische Kinder in israelische Krankenhäuser zu fahren.

The Nation (USA), 26.03.2024

Selbst dem linken Magazin The Nation sind die Kollegen von Guernica zu stalinistisch. "Einer nach dem anderen wetteiferten die Redakteure, um die Entscheidung des Magazins [Chens Essay zu veröffentlichen] anzuprangern", staunt Sasha Abramsky. "Madhuri Sastry, Mitherausgeberin des Magazins, bezeichnete den Essay als 'händeringende Apologetik für den Zionismus' - und die Redaktionsleitung reagierte weder mit einer begründeten Absage an die Intoleranz in ihrer Mitte, noch mit Verweisen auf den ersten Verfassungszusatz oder auf die Stärke der Meinungsvielfalt, sondern mit Rücknahme des Artikels und einer Entschuldigung, ihn überhaupt veröffentlicht zu haben. Sastry, die die Zeitschrift wegen der Veröffentlichung des Artikels verlassen hat, schrieb, der Aufsatz der Israelin verstoße gegen den 'antiimperialistischen Geist' der Zeitschrift. Ein anderer Redakteur erklärte, die Veröffentlichung von Chens Essay bedeute, dass Guernica zu 'einer Säule des eugenischen weißen Kolonialismus geworden sei, der sich als das Gute tarnt'. Kurz darauf verschwand Chens Aufsatz von der Website. Wenn das heute die Linke ist, dann möge Gott uns helfen. Guernicas peinliches Zurückrudern erinnert an die Selbstverleugnung der Opfer von Stalins Säuberungen oder an die erzwungenen Selbstgeißelungen von Akademikern während Maos Kulturrevolution. Es gibt kein Bemühen um eine echte Debatte, keinen Raum für konkurrierende Meinungen, keinen Raum für historische Nuancen oder Komplexität; es wird einfach verlangt, dass die Parteilinie befolgt wird und dass diejenigen, die das nicht tun, sofort zensiert werden."
Archiv: The Nation
Stichwörter: Guernica, Chen, Joanna

iTvar (Tschechien), 25.03.2024

Adam Borzič unterhält sich in einem langen Interview mit dem tschechischen Dichter und Romancier Marek Torčík, der mit seinem autofiktionalen Roman über eine queere Jugend in der tschechischen Provinz gerade für den Magnesia-Litera-Preis nominiert wurde. "Wenn ich an das Jahr 2007 und meine Kindheit zurückdenke, gab es im Fernsehen keine queeren Sendungen oder Filme, nicht vor 22 Uhr", erzählt Torčík. "Auch queere Bücher gab es nur in der Erwachsenenabteilung. Für einen Teenager, der etwa zwölf Jahre alt ist und sich allmählich seiner Sexualität bewusst wird, war da nicht viel. Man konnte nicht einmal irgendwelche Informationen auftreiben. Meine Kindheit war von einem schrecklichen Gefühl der Einsamkeit geprägt. Heute hat sich das alles definitiv geändert." Für Torčík war Virginia Woolf eine prägende Autorin und der Feminismus stets eine wichtige Kategorie. "Frauenfeindlichkeit und Homophobie sind für mich eng miteinander verbunden. Wenn einem Mann gesagt wird, er verhalte sich wie eine Frau, wird das als Beleidigung wahrgenommen", so Torčík. Letztlich seien auch Männer Opfer des Patriarchats, das ihnen stets ein Gefühl der Unzulänglichkeit verleihe. "Wir reden viel zu wenig darüber, dass Feminismus auch Männern hilft."
Archiv: iTvar

New Lines Magazine (USA), 25.03.2024

Floriana Bulfon offenbart die dunkle Seite der malerischen toskanischen Landschaften: unter der Aufsicht sogenannter "caporali", Bandenchefs, die mit den Obst-und Gemüsefarmern kooperieren, arbeiten geflüchtete Frauen unter fürchterlichen Bedingungen. Vielen von ihnen kommen aus dem subsaharischen Afrika, berichtet Bulfon, haben keine Arbeitserlaubnis und werden vom Staat im Stich gelassen. Auf den Plantagen und Feldern arbeiten sie bis zu 13 Stunden am Tag, so Bulfon, sie erhalten kaum Lohn (noch weniger als männliche Arbeiter) und sind oft der sexuellen Belästigung und Missbrauch durch die "corporali" ausgeliefert. Sonya, eine 30-jährige Wanderarbeiterin aus Indien, die Bulfon getroffen hat, erzählt, dass sie aufgrund der harten Arbeit in der Kälte eine Fehlgeburt erlitt: "Der Agrarsektor in diesen Provinzen ruht nie. Im Winter werden Luxusgemüse wie violette Artischocken und Fenchel geerntet. Und die Kälte ist erbarmungslos. Um ihre Sicherheit zu gewährleisten, holten ein Reporter und ein Mitarbeiter einer humanitären NRO Sonya in einem Auto an einem abgelegenen Kreisverkehr ab, den sie mit dem Fahrrad erreicht hatte, und fuhren mit ihr zu einem Café neben einer Tankstelle in einer abgelegenen Gegend der Toskana, um das Interview zu führen. ... Über ihre Fehlgeburt sagte Sonya: 'Der Arzt in der Notaufnahme sagte, dass ich zu viele Stunden auf den Beinen war. Ich habe auch viele Stunden damit verbracht, meine Hände in eiskaltes Wasser zu tauchen, um Gemüse zu waschen. Wir hatten keine Handschuhe, wir haben alles mit bloßen Händen gemacht. Das Wasser friert nicht nur die Hände, sondern den ganzen Körper ein, vor allem im Winter oder bei Regen. Dann war oft Wasser auf dem Boden, und ich hatte nicht immer Stiefel. Drei oder vier Tage lang hatte ich normale Schuhe, weil die Stiefel kaputt waren und ich keine Zeit hatte, neue zu kaufen." Sie zeigte mir ihre Hände, die mit Wunden übersät waren, die von der Kälte und den Erntegeräten verursacht wurden."

Elois Stark erinnert an ein beschämendes Kapitel der französischen Kolonialgeschichte: 1761 kentert das Schiff L'Utile mit 160 Sklaven - Männern, Frauen und Kindern - in den Korallenriffen der Ile de Sable, heute bekannt als Tromelin-Insel, im Indischen Ozean. Einem Teil der Besatzung und etwa siebzig der Madagassen gelang es, sich auf die naheliegende Insel zu retten. Zu guter Letzt konnte die Schiffsbesatzung mit einem Boot fliehen, dass die Sklaven für sie gebaut hatten - die blieben allerdings auf der Insel zurück. Doch den anführenden Lieutnant Barthelemy Castellan du Vernet schienen immerhin Gewissensbisse zu quälen, so Stark, zurück in der Heimat warb er unermüdlich für eine Rettung der Ausgesetzten - die fand statt, allerdings erst Jahre später: "Ende November 1776 ging die La Dauphine, ein Schiff unter dem Kommando von Kapitän Jacques-Marie Lanuguy de Tromelin, in der Nähe vor Anker und schickte zwei Ruderboote an den Strand. Sie fanden sieben Frauen und ein Baby vor - eine Überraschung angesichts der Abwesenheit von Männern. Die Frauen gingen zum Beiboot und stiegen ohne ein Wort ein. Sie blickten nicht zurück." Lange Zeit wusste man nicht viel darüber, wie das Leben der Zurückgebliebenen genau ausgesehen hatte, so Stark, erst Ausgrabungen des Archäologen Max Guerout im Jahr 2012 offenbarten eine "Mikrogesellschaft", die entstanden war: "Es war nicht nur ein Ort der Verzweiflung, sondern auch ein Ort, an dem Kultur und Traditionen gepflegt wurden...Darüber hinaus benutzten die Überlebenden eine Schmiede, um Metalle einzuschmelzen und die Dinge herzustellen, die sie brauchten: Schalen und Löffel, aber auch Schmuck und Amulette. Die Kultur blühte auch in den schwierigsten Zeiten weiter auf. Interessanterweise erinnerten die sozialen Normen Frankreichs - und die Fähigkeit der Seeleute, die versklavten Menschen dem Tod zu überlassen - viel mehr an 'Herr der Fliegen' als an die um ihr Überleben kämpfenden Individuen, die sich in beeindruckendem Maße organisierten und kooperierten."

HVG (Ungarn), 21.03.2024

Nach der Etablierung einer "Behörde zur Verteidigung der Souveränität" wird diese mit weiteren umfangreichen Befugnissen ausgestattet, die gegen Opposition und Presse angewendet werden können. So soll sie künftig das Postulat "Landesverräter" verhängen können. (Mehr dazu hier.) Unklar ist noch, ob die erweiterten Befugnisse mit Sanktionierungsmöglichkeiten seitens der Behörde einhergehen. Die Venedig-Kommission des Europarats hat bereits ihre Bedenken geäußert. Ein Verfahren gegen Ungarn seitens der EU-Kommission ist anhängig. "Die immer heftigere Dämonisierung der Regierungsgegner ist nichts anderes als das Geschimpfe von Politikern, die um ihre Macht fürchten", meinen die Redakteure János Dobszay und István Riba. "Sie wollen es als von Natur gegeben hinstellen, dass nur sie und ihre Anhänger das ungarische Volk bilden. Wer sich zum Beispiel dafür einsetzt, dass die EU die Ungarn geschuldeten Gelder nur dann auszahlt, wenn die Unabhängigkeit der Justiz rechtlich ausreichend gesichert ist oder wenn garantiert werden kann, dass diese Gelder nicht gestohlen werden, der arbeitet gegen das Land, ist also ein Landesverräter. Und Verrätern kann man nicht die Macht überlassen. (...) Auch wenn das neue Amt alle Befugnisse erhalten hat, um - bildlich gesprochen - sogar in der Unterwäsche der politischen Gegner der Regierung zu wühlen, können Ermittlungen ohne Sanktionen an sich 'nur' eine einschüchternde Wirkung haben. Ganz anders sähe es aus, wenn die Behörde, wie von unterschiedlichen Stellen angedeutet, kein zahnloser Tiger wäre und auf ihre Ermittlungen, Untersuchungen und dann Anklagen die Gerichte mit Urteilen im Sinne der Regierung folgen würden. Und zwar nicht nur gegen Oppositionspolitiker, sondern auch gegen die unabhängige Presse."
Archiv: HVG

La vie des idees (Frankreich), 25.03.2024

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Yann Schmitt ist laut La Vie des idées "Professeur de philosophie en khâgne", und das ist so ungefähr die vornehmste Position, die ein Philosoph in Frankreich haben kann, denn die "khâgne" ist die Vorbereitungsklasse für die "großen Schulen" in Frankreich, vor allem für die Ecole normale supérieure. Man kann nicht sagen, dass der Philosoph, über den er schreibt und den er als einen der berühmtesten Philosophen Großbritanniens der letzten Jahrzehnte darstellt, in deutschen Feuilletons bisher Spuren hinterlassen hat. Derek Parfit heißt er, und hat Bücher geschrieben, die trügerisch einfache Titel haben, "Reasons and Persons" und "On What Matters". Anlass für Schmitts Artikel ist David Edmonds Biografie "Parfit - A Philosopher and His Mission to Save Morality" - Parfit ist im Jahr 2017 gestorben. Was Schmitt über Parfit erzählt, klingt, als wäre er eine nützliche Lektüre angesichts unserer erbitterten ideologischen Debatten. Parfit habe sich, auf eine vielleicht etwas abstrakte Weise, die Frage gestellt, ob eine "objektive" Moral denkbar ist. Geschickt exponiert Schmitt das in einem Absatz über Parfits Kindheit: "Parfit wurde in China als Sohn christlicher englischer Missionare geboren, deren Glaube schwankend geworden war. Mit acht Jahren lehnt er die Vorstellung ab, dass ein Gott Menschen in die Hölle schicken kann. Damit sind bereits zwei Grundgedanken präsent: die Ablehnung des moralischen Wertes von Leid und die Notwendigkeit einer säkularen Ethik." Die moralischen Fragestellungen Parfits erläutert Schmitt an einem anderen Beispiel: "So betont Parfit, dass individuelle Handlungen heutzutage oftmals ihre moralische Bedeutung in Gesellschaften erlangen, in denen die Menschen zusammen handeln, ohne sich zu koordinieren oder sich der kumulativen Auswirkungen ihrer Handlungen bewusst zu sein. Man denke nur an die Tatsache, dass man aus Zeitersparnis mit dem Auto fährt, anstatt öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen (falls es solche überhaupt noch gibt). Jede einzelne Handlung scheint moralisch unwichtig oder folgenlos zu sein, da das Auto einer Person allein keine Krebserkrankungen auslösen kann. Aber gemeinsam schaden die Autofahrer allen und sich selbst. Dann gilt es, den Schaden solcher Aktionen sorgfältig abzuwägen."

New Statesman (UK), 25.03.2024

Katie Stallard untersucht, wie Putin den Krieg im Gaza-Streifen ausnützt, um Russlands geopolitische Machtposition zu stärken. Während der Zermürbungskrieg in der Ukraine sich tendenziell zu Russlands Gunsten zu entwickeln scheint, insbesondere auch, weil die Unterstützung des russischen Kriegsgegners durch den Westen nicht mehr gar so enthusiastisch aufrecht erhalten wird, eröffnet Putin eine neue Front im Propagandakrieg: "Putin zögerte nicht, seine Unterstützung für die Palästinenser zu zeigen, indem er Israels Blockade des Gazastreifens mit der Belagerung Leningrads durch die Nazis verglich und sich neun Tage Zeit lies, bevor er Netanjahu sein Bedauern über die Attacke vom 7. Oktober aussprach. In den Wochen nach der Attacke reisten wichtige Hamasmitglieder nach Moskau, wo sie russische Regierungsmitarbeiter trafen und Putins Antwort auf den Krieg lobten. Er sah in der Krise eine Gelegenheit, auf das Scheitern der amerikanischen Politik im Mittleren Osten hinzuweisen, seine Diplomaten arbeiteten UN-Resolutionen aus, die einen Waffenstillstand forderten und die von den USA und ihren Verbündeten abgeschmettert wurden. In Putins Darstellung ist der Krieg im Nahen Osten Teil eines breiteren antikolonialistischen Kampfes, den er gegen den Westen im Allgemeinen und den amerikanischen Imperialismus im Besonderen in der Ukraine zu führen behauptet. Dies ist eine zynische und unehrliche Darstellung. Aber es gibt ein Publikum für die Botschaft des russischen Präsidenten. 'Putin sieht den Krieg als eine Gelegenheit, seinen Pariah-Status loszuwerden und wieder die globale Bühne zu betreten', erzählte mir Izabella Tabarovsky, Berater am Kennan Institute des Wilson Center. Er will als ein Führer des globalen Süden betrachtet werden und die Freundschaft mit den arabischen Staaten erneuern, wo viele sich noch an alte Bindungen an die Sowjetunion erinnern. Es gibt da immer noch jede Menge warme Gefühle für Russland.'"

Außerdem: Hannah Barnes erzählt, wie es zur Schließung des Tavistock Zentrums in London kam, der bis dahin größten und umstrittensten Gender-Klinik für Kinder.
Archiv: New Statesman

Istories (Lettland / Russland), 14.03.2024

Im russischen Onlinemedium Istories (hier mehr) fragt sich Roman Anin, was genau in Wladimir Putins Kopf vorgeht. Dabei macht er den Tschekismus als Hauptideologie Putins und seiner Riege an ehemaligen FSB-Mitarbeitern aus, für die ein gewisser Grad an Machiavellismus bezeichnend sei. "In der postsowjetischen Zeit, in den 'wilden 90ern', 'bereicherten' sie ihre tschekistische Mentalität mit einer kriminellen. In diesen Jahren war Putin stellvertretender Bürgermeister von St. Petersburg und verantwortlich für die Privatisierung staatlicher Unternehmen, die Regulierung von Kasinos und ausländische Investitionen. Mit seiner Hilfe gelangten wichtige Vermögenswerte der Stadt - der Hafen, das Ölterminal, Hotels, Tankstellen und Glücksspiele - unter die Kontrolle gewalttätiger krimineller Gruppen. Darüber hinaus halfen Putin und andere Tschekisten nicht nur den Anführern von Gruppen des organisierten Verbrechens, die für Raubüberfälle und Morde verantwortlich waren, sondern wurden zu deren vollwertigen Geschäftspartnern. (...) Mit der Macht in ihren Händen begannen die Tschekisten, Russland nach den Vorgaben der Organisationen zu regieren, die ihre Mentalität geprägt hatten - dem KGB und den Gruppen der organisierten Kriminalität. Sie begannen, strategisch wichtige Firmen (NTV, Yukos usw.) zu übernehmen, indem sie Razzien durchführten, Andersdenkende einschüchterten, unterdrückten, politische Gegner vergifteten und spezielle Operationen gegen Nachbarländer organisierten. (...) Der treffendste Begriff, um solche Methoden der Staatsführung zu beschreiben, ist Machiavellismus. Dabei handelt es sich um eine Staatspolitik, die auf Zynismus, dem Kult der rohen Gewalt, dem Wunsch, andere für die eigenen Zwecke zu benutzen, der Missachtung moralischer Normen und dem Glauben, dass der Zweck jedes Mittel heiligt, beruht."
Archiv: Istories
Stichwörter: Russland, Tschekismus

Elet es Irodalom (Ungarn), 22.03.2024

Szilárd Demeter, Direktor des Petőfi Literaturmuseums, wurde von der ungarischen Regierung zum Direktor eines neu zu schaffenden Museumskonglomerats ernannt - ohne jedoch über die nötige Fachausbildung und -kenntnisse oder Erfahrung zu verfügen. Das muss nicht unbedingt zum Schaden des neuen Konglomerats sein, denkt sich der Sprachwissenschaftler István Kenesei: "Wie wir gesehen haben, kann ein Orchester von einem Nicht-Musiker geleitet werden, so auch ein Museum oder ein Museumskonglomerat von einem 'Nicht-Fachmann'. Allerdings wäre es der Sache doch förderlich, wenn der Leiter einer Einrichtung fundiertes Wissen über deren Fachgebiet hat, um Entscheidungen treffen zu können, zum Beispiel in jenen Fragen, in denen die Mitarbeiter oder Führungskräfte einer Einrichtung unterschiedlicher Meinung sind. Wenn er sie nicht versteht, sondern dem geschickteren Argumentierer oder Debattierer den Vorzug gibt, verliert er schnell an Glaubwürdigkeit und endet wie die in den 50er Jahren ernannten 'Arbeiterdirektoren', die, wenn sie vernünftig waren, den Chefingenieur entscheiden ließen und ihm lediglich den Rücken freihielten. So wie ich das verstehe, hat Demeter das bisher beim Literaturmuseum gemacht: Er hat einen Schutzschirm über die Mitarbeiter gehalten, sie arbeiten lassen und ihnen gegeben, was sie brauchten. Sobald er sich aber beruflich zu Wort meldet, muss er sich gefallen lassen, dass man hinter seinem Rücken über ihn lacht. Und das gilt nicht nur für den Direktor, sondern für alle, die sich ohne Kompetenz zu Themen äußern, die Fachwissen erfordern, in diesem Falle der Staatssekretär und der Minister, die mit ihren verschiedenen Äußerungen zum Nationalmuseum ihre Unkenntnis unter Beweis stellten."

Tablet (USA), 25.03.2024

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Tablet ist nun mal ein proisraelisches Magazin. Und Adam Shatz, der eine neue Biografie über den Messias des Postkolonialismus Frantz Fanon vorlegt, ist dezidiert antiisraelisch. Wenn Marco Roth also diese Biografie für Tablet bespricht, darf man auf manche Bosheiten gefasst sein. Aber es hält sich in Grenzen. Und nebenbei erfährt man, dass keineswegs nur Jean-Paul Sartre ein Geburtshelfer für Fanons berühmtes Buch "Die Verdammten dieser Erde" war, sondern auch ein höchst prominenter Israel-Verteidiger, nämlich Claude Lanzmann. "Niemand war nützlicher für Fanons Nachruhm als Lanzmann. Wie Fanon war auch Lanzmann in seiner Jugend im Widerstand und verstand sich weiterhin als 'existenzialistischer' Mann der Tat: So wie Fanon später - als Sartre sein extravagantes Lob der Gewalt als Vorwort zu den 'Verdammten dieser Erde' schrieb - hatte auch Lanzmann die Romantisierung seines jugendlichen Widerstands durch das Power-Paar Sartre und Beauvoir genossen, mit dem Lanzmann lebenslang verquickt blieb. Er war sowohl Beauvoirs - von Sartre offiziell gutgeheißener - Liebhaber als auch der Redakteur von Sartres Zeitschrift Les temps modernes. Lanzmann hatte Sartre das Manuskript des Bandes, aus dem 'Die Verdammten dieser Erde' wurde, zuerst übergeben. Er brachte auch den Vorabdruck des berüchtigten ersten Kapitels des Buchs, 'Über Gewalt' in der Zeitschrift, und er arrangiert das Treffen Sartres und de Beauvoirs an Fanons Sterbebett in Rom im August 1961."

Außerdem in Tablet: ein kleiner Deutschland-Schwerpunkt (hier und hier), der deutschen Lesern aber nichts Neues erzählt, und ein Artikel des nicht-jüdischen kanadischen Comedian Daniel-Ryan Spaulding, der erzählt, wie schwer er es in der queeren Berliner Community hat, seit er seine Liebe und Solidarität zu Israel bekannt hat - inzwischen ist Spaulding nach New York gewechselt.
Archiv: Tablet

New Yorker (USA), 25.03.2024

Die Zukunft des Bauens spielt sich auf dem Wasser ab, versichert der niederländische Architekt Koen Olthuis dem New-Yorker-Autor Kyle Chayka. Olthuis' Architekturbüro baut Häuser, die auf einer Art speziellem Beton-Floß stehen, das dank Luftkammern nicht so schwer ist wie gewöhnlicher Beton und daher auf dem Wasser schwimmen kann. Diese Art des Bauens wird mit dem erwarteten Anstieg des Meeresspiegels besonders in Ländern wie den ständig überschwemmungsbedrohten Niederlanden wichtig, das bisher anspruchsvollste Projekt befindet sich aber in Lyon, dort hat die Firma Waterstudio das "Théâtre L'Île Ô" in der Rhône gebaut: "Wenn sie in die Lobby des Theaters kommen, sind die Besucher vom Boden bis zur Decke umgeben von Balken aus hellem Kreuzlagenholz, ein leichter Holzbaustoff. Als ich mir die Räumlichkeiten angeschaut habe, wurde gerade eine Kinderproduktion von 'Farm der Tiere' im größeren der beiden Theaterräume aufgeführt, in einem höhlenartigen Saal mit 240 Sitzplätzen. Lange Bambusstreifen zeichneten wellenartige Muster auf Wände und Decke, sie dienen der Akustik und spiegeln zugleich die aquatische Umgebung wider. Der Boden ist gemustert wie Konfetti. Der fensterlose Raum schien mir viel zu groß, um in dem Gebäude Platz zu finden, das ich betreten hatte, und gewissermaßen war er das auch: Von außen betrachtet versteckt sich ein Drittel der Höhe des Theaters im Fluss. 'Jetzt befinden Sie sich unter Wasser', sagte mir einer der Bühnenarbeiter. Er versicherte, dass er die Bewegungen des Gebäudes nur dann spürt, wenn ein großes Schiff mit hoher Geschwindigkeit vorbeifährt."

Außerdem: Helen Shaw porträtiert die Theaterregisseurin Lila Neugebauer, die nach zwanzig Jahren erstmals wieder "Onkel Wanja" an den Broadway bringt. Sam Knight fragt, was vierzehn Jahre Tory-Regierung mit Britannien gemacht haben. Gideon Lewis-Kraus liest zwei Bücher - von Fareed Zakaria und Nathan Perl-Rosenthal - über den Zauber und die Gefahren von Revolutionen. Jackson Arn berichtet von der Whitney Biennale. Alex Ross hört Bartoks Streichquartette mit dem Escher Quartett und Igor Levit mit "teuflisch schwierigen" Transkriptionen von Beethoven- und Mahler-Symphonien. Justin Chang sah im Kino Doug Limans "Road House".
Archiv: New Yorker

Guardian (UK), 26.03.2024

John Whitfield weiß faszinierendes - und erschreckendes - aus der Welt der Ameisen zu berichten. Genauer gesagt geht es um eine Reihe von ursprünglich in Südamerika heimische Ameisenarten, die die Fähigkeit besitzen, Superkolonien zu bilden, also homogene Populationen, die sich teilweise über Tausende von Kilometern erstrecken. Und ausgerechnet diese aggressiven, potentiell ganze Ökosysteme destabilisierenden Insekten sind weltweit auf dem Vormarsch: "In den letzten 150 Jahren hat sich die Argentinische Ameise praktisch überall verbreitet, wo es heiße, trockene Sommer und kühle, feuchte Winter gibt. Eine einzige Superkolonie, die vermutlich von kaum mehr als einem halben Dutzend Ameisenköniginnen abstammt, beherrscht eine über 6000 Kilometer lange Küstenlinie in Südeuropa. Eine andere hat sich über fast die gesamte Länge Kaliforniens ausgebreitet. Die Art ist in Südafrika, Australien, Neuseeland und Japan angekommen, sie hat sogar die Osterinseln im Pazifik und St. Helena im Atlantik erreicht. Die Ameisentreue überspannt Ozeane: Arbeiterameisen aus unterschiedlichen Kontinenten, die in mehreren Millionen Nestern leben und mehrere Trillionen Individuen umfassen, akzeptieren sich gegenseitig so selbstverständlich, als wären sie im selben Nest geboren. Arbeiter aller Länder, vereinigt Euch! Wobei, nicht ganz." Denn tatsächlich brechen gelegentliche Ameisenweltkriege aus, die alle menschlichen Konflikte in den Schatten stellen. Zum Beispiel in Kalifornien: "Ein Team von Wissenschaftlern, das diese Grenze ein halbes Jahr lang, zwischen April und September 2004, beobachtete, schätzt, dass an einem Grenzabschnitt, der ein paar Zentimeter breit und ein paar Meilen lang ist, 15 Millionen Ameisen starben."
Archiv: Guardian

Wired (USA), 20.03.2024

Dass die KI-Fortschritte der letzten Jahre nicht vom Platzhirsch Google in die Weltöffentlichkeit getragen wurden, sondern vom Startup OpenAI hat viele erstaunt. Nicht ganz so bekannt ist allerdings, dass maßgebliche Vorarbeiten - darunter die sogenannte Transformer-Technologie - tatsächlich mit einem Paper aus der Forschungsabteilung von Google auf den Weg gebracht wurden. Verschläft der einst so innovative Konzern die KI-Revoltion, fragt sich Steven Levy in einem Porträt der acht Autoren dieses Papers. "Viele Tech-Kritiker weisen darauf hin, wie Google sich von einer auf Innovation setzenden Spielwiese zu einer gewinnorientierten Bürokratie gewandelt habe. 'Sie haben nicht modernisiert', erzählte Aidan Gomez der Financial Times, 'sie haben sich neuen Technologien nicht angepasst.' Aber das wäre auch äußerst gewagt gewesen für eine riesige Firma, deren technologische Errungenschaften die Branche seit Jahrzehnten anführt und riesige Profite einbringt. Google begann 2018 damit, die Transformer-Technologien in seine Produkte einzupflegen, beginnend mit seiner Sprachübersetzung. Im selben Jahr führte es ein Sprachmodel namens BERT ein, das ebenfalls auf Transformers basiert, und begann dies im Jahr danach in seiner Suchfunktion zu nutzen. Aber diese Anpassungen unter der Motorhaube wirken zaghaft im Vergleich zu OpenAIs Quantensprüngen und Microsofts kühner Integration von transformer-basierten Systemen in seiner Produktlinie. Als ich den Geschäftsführer Sundar Pichai vergangenes Jahr fragte, warum seine Firma nicht die erste war, die ein 'Large Language Model' wie ChatGPT einführe, vertrat er den Standpunkt, dass Google es in diesem Fall vorteilhaft fand, wenn andere hier die Speerspitze bildeten. 'Mir ist einfach unklar, ob es genauso gut funktioniert hätte. Tatsache ist, dass wir mehr tun können, nachdem die Menschen gesehen haben, wie es funktioniert', sagt er. Eine unbestreitbare Wahrheit ist es aber auch, dass alle acht Autoren des Papers Google verlassen haben."
Archiv: Wired