Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
05.05.2003. Im Merkur macht Herfried Münkler das europäisch-amerikanische Verhältnis an Hasen und Löwen deutlich. Der New Yorker trauert um Bernard Loiseau und seine Poularde Alexandre DumaineOutlook India feiert Glyzerin und Geigen im Bollywood-Kino. Der Economist findet BBC-Chef Greg Dyke blauäugig. Im NouvelObs denkt Vincent Cespedes über die Liebe nach. Die NYT Book Review widmet sich hingebungsvoll dem Essen. NZZ-Folio macht sich Gedanken um unsere Altersvorsorge.

Merkur (Deutschland), 01.05.2003

Herfried Münkler (mehr hier) beschäftigt sich mit der Frage, wie sich Europa gegenüber den USA künftig behaupten kann, und gibt dabei folgendes zu bedenken: "Mit der bloßen Kritik der Löwen und ihrer Einbindung in die Egalität der Tiere ist es freilich nicht getan: Bleiben die Hasen auch in Zukunft Hasen, so können sie die Löwen für entzaubert erklären, so oft sie wollen, und alle anderen Tiere den Löwen als gleichberechtigt ansehen - es wird sich an der faktischen Machtausübung durch die Löwen nichts ändern. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen einem Teil der Europäer und den USA seit langem durch periodisch wiederkehrende Löwenkritik und auch gelegentliche Hasenaufstände gekennzeichnet ...".

In einem aus der New York Review of Books übernommenen Text warnt der New Yorker Historiker Tony Judt (mehr hier) vor einer Tragödie historischen Ausmaßes, einem andauernden Zerwürfniss zwischen den USA und Europa: "Wenn Amerika nicht geachtet wird, wenn man ihm eher gehorcht als glaubt; wenn es sich seine Freunde kauft und seine Verbündeten einschüchtert; wenn seine Motive Misstrauen erregen und es eine Doppelmoral praktiziert - dann wird die alles in den Schatten stellende militärische Stärke ihm nichts einbringen. Die Vereinigten Staaten können loslegen und nicht nur die 'Mutter aller Schlachten' gewinnen, sondern auch Generationen von 'Wüstenstürmen' siegreich bestehen; und doch werden sie nichts als Wind ernten - und daneben Schlimmeres. Wir sollten also bitte aufhören, unseren Ängsten und Unsicherheiten in Macho-Schmähreden auf Europa ihren Lauf zu lassen." (Im Netz ist immerhin das Original zu lesen).

In weiteren Artikeln zur neuen Weltordnung fragt sich Mariam Lau (mehr hier), wohin die Berliner Republik außenpolitisch treibt: "Dass ein ehemaliger Sponti die Stabilität der nahöstlichen Region - also die Herrschaft der Familie Saud, die iranische Theokratie, die sudanesischen Killerkommandos - zum Hauptanliegen seiner Außenpolitik, zum Hauptargument gegen den Sturz des Diktators Saddam Hussein gemacht hat, ist deprimierend." Ulrich Speck erklärt dagegen sowohl die USA als auch Europa zu Verlierern des Irakkonflikts: "Machtpolitisch haben Frankreich und Deutschland eine Niederlage erlitten, in neokonservativen Think Tanks wird bereits darüber nachgedacht, wie man die beiden Länder künftig 'eindämmen' kann. Und Amerika hat seinerseits deutlich an Legitimität verloren."

Der Autor Thomas Frahm hat einige wundersame "Bulgarische Erfahrungen" gemacht. Eine davon beschreibt er so: "Die Wirklichkeit des Balkans ist nichts Feststehendes, kein krudes Faktum, sondern Verhandlungssache. Man kann darüber reden. Man kann um sie pokern, man kann Einsätze auf sie wagen, Kopf und Kragen riskieren, alles auf eine Karte setzen: Wenn das Schicksal einen schlechten Tag hat, dann ist viel zu gewinnen!"

In weiteren Beiträgen geht es um den Kampf der Geschlechter, der laut Rainer Paris (mehr hier) in öffentlichen Geschlechterhass umgeschlagen ist, um das Gesamtkunstwerk DDR, die Programmgeschichte der CDU und das Sterben für Bagdad und und und.
Archiv: Merkur

New Yorker (USA), 12.05.2003

William Echikson versucht in einem nachrufenden Porträt, den Selbstmord des französischen Spitzenkochs Bernard Loiseau (mehr hier) zu verstehen. "Die Poularde Alexandre Dumaine, ein 267-Dollar-Huhn in Bernard Loiseaus Gastronomie-Tempel im Burgund, ist gefüllt mit feingeschnittenem Lauch und Karotten, leicht mit Salz und Pfeffer eingerieben und in einem Steinguttopf gegart. Die unter die Haut geschobenen Trüffel geben dem Vogel einen erdigen Geschmack, und das Fleisch ist zart und pikant. Am frühen Nachmittag des 24. Februar überwacht Loiseau sein Team von einem Dutzend Leuten bei der Zubereitung der Poularde für zwei amerikanische Küchenchefs, die diverse Praktika in Frankreich absolvierten. Nachdem das Essen serviert war, ging er nach Hause um sich auszuruhen. Etwas später am Tag schoss er sich mit einem Jagdgewehr in den Mund. Er war zweiundfünfzig Jahre alt."

Weitere Artikel: Bis Redaktionsschluss leider nur als Schwarzfläche abrufbar ist ein interessant klingender Text von Seymour M. Hersh, der beschreibt, "wie das Pentagon die CIA austrickste". Die Erzählung "Walter John Harmon" schrieb E.L. Doctorow (mehr hier).

Rezensionen: Adam Gopnik lobt das Buch "Seriously Funny: The Rebel Comedians of the 1950s and 1960s" (Pantheon), in dem vor allem die Verbreitung dieses Stils sowie dessen Protagonisten vorgestellt werden. "Jedermann belächelt Bücher über Witze, weil wir alle wissen, dass man sie nicht erklären kann - dabei wären wir nicht ganz so selbstgefällig, wenn wir damit aufhörten und einmal versuchten zu erklären, warum ein Witz so häufig uns erklärt." Laura Miller stellt die Erinnerungen des Schriftstellers James Frey vor ("A Million Little Pieces", Nan Talese/Doubleday, ein Interview mit dem Autor finden Sie hier), außerdem gibt es Kurzbesprechungen, darunter ein "ungewöhnliches" Buch von Paul Elie, der die Biografien von vier amerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts - Dorothy Day, Thomas Merton, Walker Percy und Flannery O?Connor - miteinander kurzschließt.

Peter Schjeldahl stellt die Ausstellung "Whistler, Women, and Fashion" mit Arbeiten des amerikanischen Malers James McNeill Whistler (1834 -1903, mehr hier) in der Frick Collection vor. Hilton Als gefällt eine Neuinszenierung des Musicals "Gypsy" aus dem Jahre 1959. Und Anthony Lane bespricht die Fortsetzung des Films "X-Men", "X2" von Bryan Singer und "Man on the Train" von Patrice Leconte mit Johnny Hallyday in der Hauptrolle.

Nur in der Printausgabe: ein Porträt des Hardline-Republikaners und Bush-Beraters Karl Rove (zwei ziemlich markige amerikanische Seiten über ihn hier und hier), eine Beschreibung des Pacific Bell Parks in San Francisco und Lyrik von Kirmen Uribe und Carl Phillips.
Archiv: New Yorker

Outlook India (Indien), 12.05.2003

Eine ganze Ausgabe im Zeichen von Bollywood! Und warum auch nicht, fragt Sandipan Deb im Aufmacher: "Wer kann schon die Wahrheit gebrauchen? Her mit jenen Schatten auf weißer Leinwand in einem dunklen Saal, jederzeit - auf dass sie uns Geschichten erzählen, die in Licht und Zeit geschrieben sind. Geschichten von Heldenmut und Feigheit, Liebe und Hass, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Geschichten von normalen Menschen in außergewöhnlichen Umständen. Und sollte es ein Hindi-Film sein, her mit dem Glyzerin und her mit Bäumen, um die getanzt wird, her mit weißen Saris im künstlichen Regen und dem anschwellenden Crescendo von hundert Geigen."

25 führende Regisseure hat Outlook nach ihren Lieblingsstreifen gefragt, und herausgekommen ist die definitive Rangliste des indischen Films. Und hier ist er, der beste Hindi-Film seit der Unabhängigkeit. Außerdem gibt es eine Würdigung von Guru Dutt, dem legendärsten und vielleicht größten aller Bollywood-Regisseure, einen Text über die obsessive thematische Hingabe des Hindi-Films an den tragischen Tod und eine schier endlose Reihe von Listen - der "Ultimate Bollywood Fan Poll": Welcher Star hat den besten Körper? Wer ist der/die Beste, Schönste, Überschätzteste? In welchem Film wurde am meisten geweint? Was ist das beste Liebeslied der letzten zehn Jahre?

Im schmalen kinofreien Rest widmet sich V. Sudarshan ausführlich den jüngsten Annäherungen zwischen Indien und Pakistan.
Archiv: Outlook India

Economist (UK), 02.05.2003

BBC-Chef Greg Dyke hat unlängst in einer Rede erklärt, er sei "schockiert" über die Kriegsberichterstattung der amerikanischen Nachrichtensender, und hat die BBC im Gegenzug als "Fels der Objektivität in einem kommerziellen, amerikanisierten Meer von unkritischem Hurrapatriotismus" dargestellt. Doch dies ist dem Economist gleich in doppelter Hinsicht suspekt. Zum einen stelle die Rund-um-die-Uhr-Berichterstattung, und besonders die "eingebetteten" Reporter, ganz neue und tückische Anforderungen an die Nachrichtenmacher ("Kameraeinstellung auf einen Reporter, der mit Schutzbrille in einem Sandsturm in der Wüste steht: 'Was ist Ihre Gesamteinschätzung der Lage?' "), und zum Anderen sei Greg Dykes Forderung nach objektiver "Wahrheit" schlicht blauäugig. Oder doch nicht? "Könnte Greg Dykes Sorge um die Wahrheit gar viel mit wirtschaftlichen Interessen zu tun haben", etwa mit Marktanteilen?

Nordkoreas Hang zur Provokation macht diplomatische Verhandlungen schwierig, findet der Economist. Denn selbst wenn es zu einer diplomatischen Lösung des Konfliktes kommen sollte - etwa in Form eines Abkommens -, bleibe dennoch die Frage, ob man einem schon so oft wortbrüchig gewordenen Staatschef überhaupt noch trauen kann. In einem weiteren Artikel zum Thema Nordkorea begrüßt der Economist das wachsende Engagement der Anrainerstaaten, allen voran China.

Weitere Artikel: Nicht nur der Irak hat einen Wiederaufbau bitter nötig, sondern auch die internationalen Bündnisse. Doch trotz des derzeit verkrampften transatlantischen Verhältnisses sieht der Economist Anlass zur Hoffnung. Anfang Juni gibt die britische Regierung die Ergebnisse einer Studie bekannt, die über die Euro-Tauglichkeit Großbritanniens befinden soll: Der Economist vermutet, dass die Antwort "noch nicht" lauten wird. Tony Blair, so der Economist, zeigt sich im irischen Friedensprozess jetzt von seiner eisernen Seite: Seine Forderung an die IRA, sie möge den bewaffneten Kampf aufgeben, hat er damit bestärkt, dass die geplanten nordirischen Parlamentswahlen zunächst verschoben werden. Weite Teile der italienischen Regierung sind korrupt und auch von der Justiz für korrupt befunden worden. Doch dass nun die Justiz selbst ins Kreuzfeuer genommen wird - wegen vermeintlicher politischer Voreingenommenheit, findet der Economist dreist und besorgniserregend.

Außerdem lesen wir einen Nachruf auf den großen britischen Gärtner Graham Thomas und eine Besprechung von Margaret Atwoods neuem Roman "Oryx and Crake". Schließlich ein Dossier in Sachen globale Finanzlage.

Nur im Print zu lesen: Wie eine kleine Gruppe europäischer Staaten versucht, die NATO zu untergraben, und warum die amerikanischen Demokraten aus dem Rennen sind.
Archiv: Economist

Spiegel (Deutschland), 05.05.2003

Zu den Zielen der USA im Irak wärmt Bernhard Zand noch einmal die Öl-These auf: "Washington will das Zweistromland zum neuen Saudi-Arabien ausbauen". Schon "in vier bis fünf Jahren", hat Zand der langjährige Planungschef des Bagdader Ölministerium gesteckt, "sei eine Tagesproduktion von mehr als 6 Millionen Barrel zu erreichen". Für Zand ist der Fall damit klar: "Sechs Millionen Barrel Rohöl pro Tag - diese Zahl hat für westliche Ölexperten einen magischen Klang, denn sie gilt als kritische Marke, um Saudi-Arabiens beherrschende Stellung auf dem Weltmarkt und damit die Macht der Organisation Erdöl exportierender Länder (Opec) zu brechen."

Stefan Berg und Caroline Schmidt haben ein Guantanamo Bay mitten in Deutschland entdeckt: "Am 1. Juli dieses Jahres wird in Berlin die skurrilste Behörde aller Zeiten eröffnet - eine zentrale Steuerungsstelle für Tausende überflüssige Beamte und Angestellte. Von 140.000 Bediensteten will das Land in den nächsten Jahren 40.000 loswerden. Und sie alle sollen - zunächst verwaltungstechnisch - überführt werden in jene Behörde, die offiziell Stellenpool heißt und inoffiziell schon als Guantanamo Bay Berlins verspottet wird."

Im Print: Nachdem der Irak vom Titel verschwunden ist, hat es nun SARS dorthin geschafft: "Je mehr die Virologen über den jüngsten Feind aus dem Reich der Mikroben lernen, desto gefährlicher erscheint er." Weiter gibt es Artikel über das "biedere Leben des übelsten SS-Täters" im Warschauer Ghetto, über Jeff Koons, der Hamburg ein "Quietsche-Enten-Monument" andrehen will. Und drei Interviews: eins mit US-Rocker Marilyn Manson "über seine Schock-Kunst", eins mit Angelica Domröse "über ihre Jahre als DDR-Filmstar und den Erfolg ihrer Memoiren" und eines mit Veronica Ferres "über Rollen jenseits ihres Superweib-Images".

Und besprochen wird diesmal auch ziemlich viel: Jeffrey Eugenides' Roman "Middlesex" (mehr hier), die "bildgewaltige Gedicht-Interpretationen" des deutschen Films "Poem", das "drollige Romandebüt" des britischen Models Sophie Dahl, wie der belgische "Tanz-Star" Alain Platel sich in Duisburg "am Genie Mozart abarbeitet" und schließlich Büchners "Leonce und Lena" am BE - ein Gemeinschaftsprojekt von Robert Wilson und Herbert Grönemeyer.
Archiv: Spiegel

Nouvel Observateur (Frankreich), 01.05.2003

In einem Interview stellt der junge Philosoph Vincent Cespedes seinen Essay über die Liebe vor ("Je t'aime", Flammarion). Dessen Hauptthese: Die Liebe in der westlichen Welt sei heute ein "einziges Fiasko", sie müsse entweder sterben - oder sich erneut revolutionieren. Die landläufige "Schizophrenie", die zwischen "verzauberten" Paarvorstellungen und einem "zerstörerischen sexuellen Überangebot" bestehe, sei "vor allem ein mächtiges Mittel der Entfremdung, um eine Verbindung zur Logik des Kapitalismus herzustellen. Die Verführung zur Paarbildung und die Zerstörung des Paars - seit dreißig Jahren bezieht die Konsumgesellschaft all ihre Energie aus diesen widersprüchlichen Zwängen. Man muss sich doch nur die Werbung ansehen. Auf der einen Seite die absurde 'Rama-Familie' (...), Eltern, strahlende Kinder etc. Auf der anderen Seite die Anreize zum Sexkonsum, eine totale Hingabe an den Supermarkthedonismus."

In einer bissigen Reportage berichtet Bernard Genies über die Versteigerung des Nachlasses von Andre Breton. Zehn Tage lang hatten sich "Museumskonservatoren, Sammler und Fetischisten aller Couleur" um Bilder, Bücher, Manuskripte und Fotografien des Surrealisten gerissen und dafür teilweise irrwitzige Preise gezahlt. Aber auch "Kleinigkeiten" fanden ihre Liebhaber: etwa ein "Körbchen voller Kieselsteine", das für 400 Euro wegging, oder ein "rechteckiges Waffeleisen mit floralen und geometrischen Verzierungen" (350 Euro).

Des weiteren zu lesen: ein Interview mit Julien Clerc, einem der bekanntesten französischen Chansonniers, der eine ungewöhnlich jazzige CD aufgenommen hat. Und ein kurzes, aber heftiges Lob ("Wahnsinn") des neuen Romans "Madame Ba" (Fayard-Stock) von Erik Orsenna, Prix-Goncourt-Preisträger und Mitglied der Academie francaise.

New York Times (USA), 04.05.2003

Köstlich! Die New York Times besticht durch eine gesunde Liebe zu den irdischen Genüssen. Sieben Bücher werden in dieser Woche besprochen, die sich alle nur um eines drehen: Essen. Und kochen. Leben eben. Stacy Schiff etwa hat mit Wonne "The Apprentice" verschlungen, die Memoiren des schreibenden Chefkochs Jacques Pepin (mehr hier). Kennengelernt hat Pepin die Haute Cuisine von ganz unten: erst als hungriges Kind, dann als Küchenhilfe. "Im Frankreich der fünziger Jahre waren Orangen, Bananen und Ananas exotischer Luxus. Küchengehilfen waren angehalten zu pfeifen, während sie schnitten, um den Schwund gering zu halten. Pepin und seine Kollegen brauchten nicht lange, um herauszufinden, dass zwei Leute fröhlich vor sich hinpfeifen konnten, während der Dritte sich den Mund vollstopfte." (Leseprobe hier). Das literarische Menü in dieser Woche umfasst außerdem die Besprechungen der "Foodmemoirs" von Amanda Hesser, Abe Opincar, Victoria Abbott Riccardi und Calvin Trillin sowie von Colette Rossant und Patrizia Chen. Als Dessert wird ein Audio Interview mit dem Essensexperten der Times, Sam Sifton, gereicht, der über seine Lieblingsbücher zu diesem Thema plaudert.

Aus den weiteren Besprechungen: Anthony Quinn wundert sich über Graham Swifts "The Light of Day" (erstes Kapitel), die raffinierte Geschichte um einen Privatdetektiv, der sich in eine Mörderin verliebt. Der Plot verliert mit der Zeit an Bedeutung, und die Art des Erzählens tritt in den Vordergrund, schreibt Quinn. Eine Art "Turnschuh-Haiku" sei da entstanden, ohne jemals ein richtiger Thriller zu werden. Claire Messud bewundert Nadine Gordimers unbarmherzigen Blick in die menschliche Seele, den sie in ihrem neuen Erzählband "Loot" (erstes Kapitel) wieder einmal unter Beweis stelle. Was all die Geschichten aber zusammenhält, ist die Beschäftigung mit dem Tod, schreibt die Rezensentin. Vijay Seshadri schätzt die Poesie von Ai. In ihrem Sammelband "Dread" leiht sie Journalisten in Kriegsgebieten, gefallenen Priestern oder Mordermittlern ihre Stimme, "mit Verve und einem intimen Verständnis der verdrehten, wandelbaren menschlichen Natur".
Archiv: New York Times

Folio (Schweiz), 05.05.2003

Auch in der Schweiz funktioniert nichts mehr, schon gar nicht die Rentensystem. Also widmet Folio sein neues Heft der Altersvorsorge. Was uns ja bekanntlich alle angeht.

"Wo ist mein Geld?", fragt sich Andreas Dietrich und hat sich auf die ernüchternde Suche nach seinem Vorsorgegeld begeben: "Eine interessante Frage, sagt Frau Bösch, als ich sie aufsuche. Aber wie meinen Sie das genau? Genau weiß ich das auch nicht. Ich gehöre einer Generation an, die den jährlich eintreffenden Vorsorgeausweis gern mit der Bonusabrechnung des Swissair-Vielfliegerprogramms verwechselte und bestenfalls die Zeile mit dem Pensionierungsdatum streifte. Bei mir steht da der 1. Juni 2029. Für die Qualiflyer-Generation konnte es nur sorglosen Wohlstand bedeuten, mindestens. Anderes kennen wir nicht, die wir im Gründungsjahr der Stiftung Warentest, 1964, geboren wurden. Das war gestern. Heute gibt es keine Swissair mehr, die Swiss schon fast wieder nicht mehr, und meinen neuen Vorsorgeausweis habe ich immer noch nicht erhalten."

Als Weg aus dem Dilemma der Altersvorsorge empfiehlt Beat Kappeler längeres Arbeiten: "Wenn die Älteren vermehrt aktiv bleiben, sind sie nicht länger gezwungen, ihren langen Lebensabend in der Haltung eines Hotelgastes abzusitzen." Markus Schär erzählt, wie Manager einer Pensionskasse Millionen in den Sand setzten und gleichzeitig ihre eigenen Taschen füllten. Martin Lengwiler und Matthieu Leimgruber sehen allerdings keine großartigen Umwerfungen im schweizerischen Rentensystem. Die unheilvolle Mischung aus Lobby-Arbeit und Sachzwänge habe schon immer seine Geschichte bestimmt und im selben Stil dürfte es weitergehen. Andreas Heller rät deshalb: "Den Job an den Nagel hängen, das Geld aus der Pensionskasse kassieren und dann ab ins Ausland."

In den USA hat der Börsencrash die Pensionsfonds ins Elend gestürzt, berichtet Stefanie Friedhoff, inzwischen kann sich jeder vierte Rentner keinen Ruhestand mehr leisten und muss "back to work". Berhard Imhasly weist dagegen darauf hin, dass Inder selbst von einem desolaten Rentensystem nur träumen können: "Ein Haus, ein Stück Land, etwas Goldschmuck, guterzogene Kinder: Für die große Mehrheit der Inder (schätzungsweise 90 Prozent oder 900 Millionen) ist das die einzige Vorsorge fürs Alter." Und Urs Schottli blickt auf Japan, das uns Europäern mit einer Geburtenrate von 1,34 Kindern und einer Lebenserwartung von 90 Jahren bereits einige Jahre im Abwärtstaumel voraus ist.
Archiv: Folio

Profil (Österreich), 05.05.2003

Anlässlich seiner Ausstellung "Blut & Honig - Zukunft ist am Balkan" in der Galerie Essl in Klosterneuburg äußert sich im neuen profil-Heft der Ausstellungsmacher und Kurator Harald Szeemann über Kunst aus Südosteuropa, über das alte und das neue Österreich und über die Allgegenwart des Balkans. Szeemann zeigt Arbeiten von 73 KünstlerInnen aus elf Ländern Südosteuropas. Neben bekannten Avantgardekünstlerinnen aus den sechziger Jahren ist auch viel Neues und Unbekanntes zu sehen. Für ihn ist Kunst subversiv, "wenn sie in ihrer Tradition verwurzelt ist, dabei aber die eigenen Tabus angreift". Mit dem Westen kann er dagegen zur Zeit nicht so viel anfangen: "Natürlich gibt es auch hier eine Menge interessanter Künstler. Aber irgendwas ist da verloren gegangen. In den sechziger Jahren haben ein Beuys oder ein Serra wirklich die Regeln verändert. Aber im Moment verändert im Westen ja niemand wirklich etwas."
Archiv: Profil

Times Literary Supplement (UK), 02.05.2003

Restlos enttäuscht zeigt sich Tom Shippey von Don DeLillos (mehr hier) neuem Roman "Cosmopolis". Nicht, dass Shippey die Geschichte um den strauchelnden 28-jährigen Spekulanten und Multi-Milliardär Eric Packer nicht überzeugend geschrieben fände - es sei einfach nur die falsche Geschichte: "'Cosmopolis' ist ein Roman über Ideen. Aber einige Ideen fehlen. Terrorismus zum Beispiel. Das ist eine merkwürdige Auslassung für einen in Manhattan handelnden Roman. Gut, er handelt im April 2000, weit vor dem 11. September, aber wenn DeLillo damit spielen kann, den Zusammenbruch des großen 'Bullenmarktes' vorauszusagen, dann hätte er genauso gut, durch einen Hinweis, eine Anspielung, eine Prophezeiung den Zusammenbruch des amerikanischen Sinns für Unverletzlichkeit voraussagen können, oder besser noch, einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen herstellen können. Doch die Gewalt, die er zeigt, ist allein hausgemacht. Es gibt Globalisierung, Anti-Globalisierung, aber kein Zeichen von Retro-Globalsierung. Das lässt den Verdacht aufkommen, dass DeLillo, der großartige Beobachter der Amerikana, von den Ereignisse überholt worden ist."

Weitere Artikel: David Hockney (mehr hier) meditiert in einem kurzen Stückchen über Picassos Gemälde "Massaker in Korea". Adrian Lyttleton feiert Christopher Duggan für seine Biografie des italienischen Politikers Francesco Crispi. Carmine Di Biase lobt den Band "Bellezza e Bizzarria" des "größten und fruchtbarsten Essayisten des modernen Italiens" Mario Praz. Und Clive James empfiehlt die BBC-Sendung über Bing Crosby (mehr hier), "The Greatest of Them All", denn sie zeige, zu welchen Wundern eine ganz gewöhnliche Stimme fähig sei.