Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
01.09.2003. Outlook India erklärt, warum junge Muslime in Indien so wütend sind. Der Economist findet Polen ganz schön frech. Literaturen genießt den schönen Schrecken der russischen Literatur. Der New Yorker schwärmt von Galileos Jupiter-Mission. Von der New York Times Book Review erfahren wir, dass Patricia Highsmith Frauen nur in sexueller Hinsicht bevorzugte. Der Nouvel Obs erkennt in Andre Glucksmann einen manichäischen General in Kriegslaune. Und im L'Espresso singt Umberto Eco Dante auf Portugiesisch.

Outlook India (Indien), 08.09.2003

Mehr Irrsinn an einem Montag kann sich Outlook India nicht vorstellen. Bomben in Bombay, Mayawatis Rückzug aus der Allianz mit der BJP, neuer Streit um die Moschee von Ayodhya (hier die einzelnen Geschichten des Titelpakets im Überblick).

In seinem Kommentar zu den Anschlägen macht Prem Shankar Jha die Gesellschaft dafür verantwortlich, dass sich die entfremdeten Muslime dem Terror zuwenden. "Die Wahrheit ist, dass die Lashkar- und Jaish-Bewegungen keine Rekruten fänden und die illegale SIMI keine neuen Mitglieder werben könnten, wenn indische Muslime, vor allem die Jugend, nicht mit einem gewaltigen Gefühl der Ungerechtigkeit und dem wachsendem Glauben kämpfen müssten, dass sie keine Zukunft in diesem Land haben. Und wenn sie dann auch kein anderes Land haben, in das sie flüchten können, ist die bewusstlose, zerstörerische Wut das einzig verbleibende Sicherheitsventil. Kurz gesagt lautet das Credo der neuen Terroristengeneration: wenn uns die Zukunft genommen wird, werden wir dafür sorgen, dass die Hindus auch keine haben."

Desweiteren rekapitulieren Priyanka Kakodkar, Manu Joseph und Saumya Roy die verheerenden Bombenanschläge und erwarten weitere. Manu Joseph erstellt zudem ein Profil der neuen Terrorzellen: "motiviert, gebildet, unsichtbar". Charubala Annuncio staunt über die optimistische Börse, die weitermacht, als wäre nichts geschehen.

Chander Suta Doogra beschreibt den neuesten Trick ausreisewilliger Inder. Als Sportler, Sänger oder Tänzer gehen sie auf Tournee, etwa nach Großbritannien, um dann einfach zu verschwinden. V. Sudarshan ist gespannt, was die USA Indien als Gegenleistung anbieten wollen für die geforderte militärische Hilfe im Irak. Und Sanjay Suri gibt exklusive Entwarnung: Eine von Outlook India angestrebte Untersuchung hat ergeben, dass entgegen vorangehender Tests Pepsi und Cola in Indien praktisch pestizidfrei sind. Das könnte allerdings auch an der Jahreszeit liegen.
Archiv: Outlook India

Economist (UK), 29.08.2003

Polen ist ja ganz schön frech, meint der Economist. Nicht nur, dass es sich in erster Linie kurzfristig Finanzspritzen erhofft und den EU- Beitritt fast zum Selbstzweck erhoben haben scheint, es stellt auch noch eine ganze Reihe von Forderungen: erstens soll das Abkommen von Nizza gelten, das den Polen 27 Stimmen im europäischen Parlament sichert (vergleichsweise haben Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien je 29 Stimmen), zweitens soll die Agrarwirtschaft substanzielle finanzielle Hilfe erhalten, drittens möchte Polen keine Abschottung der EU von seinen eigenen Anrainerstaaten (zum Beispiel der Ukraine), und viertens möchte es um der EU willen nicht seine guten Beziehungen mit Amerika aufgeben: "Eine Entscheidung zwischen Amerika und Europa zu treffen kommt 'einer Entscheidung zwischen Vater und Mutter gleich - und wir lieben sie beide', sagt ein Politiker."

Für den Economist ist klar: Um das öffentliche Vertrauen wiederzugewinnen, muss die britische Regierung ein Zeichen setzen und sich öffentlich von der medienwirksamen "spin-doctor"-Politik, und damit von Alastair Campbell verabschieden (was ja auch inzwischen geschehen ist). Bei seiner Anhörung durch Lord Hutton hat es sich wieder einmal gezeigt, so der Economist, Tony Blair trumpft geradezu auf, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. In Bernard-Henri Levys Sartre-Biografie hat der Economist vor allem die Verben vermisst. Levys Enthusiasmus hingegen sei "äußerst ansteckend". Das anstehende Reformpaket der deutschen Regierung findet der Economist wichtig, doch von einer "Jahrhundertreform" kann bei weitem nicht die Rede sein. Der Economist sieht gleich zwei Damokles-Schwerter über George Bush und seiner Wiederwahl schweben: den Irak und die amerikanische Wirtschaft. Vielleicht ein weiteres Damokles-Schwert: Der Economist vergleicht den Demokraten Howard Dean mit Jimmy Carter. In alter erbfeindlicher Manier erfreut sich der Economist an den armen französischen Politikern, die dieses Jahr allesamt aus ihrem hochheiligen Augusturlaub torpediert wurden. Ziemlich unzufrieden zeigt sich der Economist über den unfairen Verlauf der Wahlen in Ruanda. Und schließlich erklärt der Economist den Unterschied zwischen "rationalen" und "behaviouristischen" Wirtschaftstheorien.

Leider nur im Print zu lesen ist, ob die USA das Columbia Space Shuttle aufgeben werden.
Archiv: Economist

New Yorker (USA), 08.09.2003

Für Freunde der unbemannten Raumfahrt informiert Michael Benson über die gleichermaßen problembeladene wie "triumphale" achtjährige Jupiter-Mission der Raumfähre Galileo. Sie wird am 21. September damit zu Ende gehen, dass Galileo "auf das gewaltige Wolkenband und die Wirbelstürme um den größten Planeten im Sonnensystem zurast". Zusätzlich zu den bisher gelieferten "Tausenden von Bildern" wird Galileo auch beim Eindringen in die Jupiter-Atmosphäre live Bilder zur Erde senden. Aber dann ist Schluss, denn Galileo wird das nicht überleben: "Kurz nachdem diese Schwelle überschritten ist, wird [Galileo] verschwinden und keine Spuren seines irdischen Ursprungs oder seiner komplizierten Mission hinterlassen." Irgendwie dramatisch.

Zu lesen ist die Erzählung "The Brief History of the Death" von Kevin Brockmeyer, und Patricia Marx blättert im fiktiven Notizbuch einer (verhinderten?) Künstlerin. ("7. Juni: Ist es gemogelt, wenn man beim Malen eine Brille trägt?")

Viele Buchbesprechungen in dieser Woche. In einer ausführlichen Kritik stellt Robert Gottlieb einen Band mit Briefen des amerikanischen Schriftstellers, Zeichners und Karikaturisten James Thurber (1894 bis 1961, mehr hier) vor. Mark Strand bespricht eine Gedichtauswahl von Pablo Neruda, Peter Schjeldahl stellt eine Biografie des russischen Malers Arshile Gorky vor (nicht verwandt mit Maxim Gorki, wie man erfährt), und Kurzrezensionen widmen sich einer Untersuchung des "Pinochet File", einem "unrühmlichen Kapitel der amerikanischen Geschichte", und - Bücher für Randgruppen! - einem Atlas des Eisenbahnschienennetzes der USA im Jahr 1946.

"Sah irgendwer aus wie Wilhelm Furtwängler, einmal abgesehen von Wilhelm Furtwängler?" Mit dieser schönen Frage beginnt Anthony Lanes Besprechung des Films "Taking Sides" ("Der Fall Furtwängler") von Istvan Szabo. Der Film erzählt, wie Furtwängler nach dem Zweiten Weltkrieg beschuldigt wurde, mit den Nazis zusammengearbeitet zu haben. Im hochgelobten Spiel von Stallan Skarsgard ("Breaking the Waves") in der Hauptrolle haben, so erfahren wir, als einziges "körperliches Detail" übrigens nur "die Haare überlebt".

Nur in der Printausgabe: die Erörterung der Frage, ob Kim Jong II in Wirklichkeit eine "madam" ist (was übersetzt ebenso gut "Madam" wie "Puffmutter" heißen kann), ein sicherlich erschütternder Bericht darüber, was Leute alles tun, damit ihr Haustier wieder gesund wird, und Lyrik von Calvin Trillin und Marianne Moore.
Archiv: New Yorker

Literaturen (Deutschland), 01.09.2003

Literaturen geizt mit Online-Artikeln, und so kommen leider nur die Leser der Printausgabe in den Genuss des "schönen Schreckens", sprich der Literatur im neuen Russland. Umso bedauerlicher, als Russland zum Schwerpunkt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse auserkoren wurde. Unter anderem gibt Sigrid Löffler Orientierungshilfen und sortiert "Namen, Themen und Traditionen". Jutta Scherrer liefert einen Einblick in die Moskauer und Petersburger Verlagswelt. Beatrix Langner porträtiert "Krimi-Königinnen", und Thomas Lehr widmet sich dem auflebenden Nabokov-Kult.

Richard David Precht amüsiert sich über die Tatsache, dass Literaturpreise - vornehmlich die großen - immer wieder an dieselben Autoren gehen, und er weiß auch warum: "Preise, die ihre Noblesse behalten wollen, können schließlich nicht einfach so an Unbekannte vergeben werden. Die Eitelkeit des Stifters und die Bedürftigkeit des Dichters passen nun wirklich nicht zusammen. Also guckt man rum, wer denn zuletzt die anderen großen Preise gekriegt hat. Das war schon in geschichtlicher Zeit so, man vergleiche nur die Preisfülle von Thomas Mann mit der seines genialen Zeitgenossen Robert Musil: drei Preise in fünfunddreißig Dichterjahren." Doch besser noch, "damit dies auch in Zukunft so bleibt, gibt es seit 2002 den 'Deutschen Bücherpreis'. Eine Auszeichnung für Bestseller-Autoren als Dreingabe zum Erfolg - besser lässt sich ein Literaturpreis nicht karikieren."

Weitere Artikel: Josef Oehrlein hat sich in Buenos Aires nach politischen Büchern umgeschaut, und Aram Lintzel hat die Webseite "lyrikline" entdeckt, die Lyrik, vom Dichter selbst gelesen, zu Gehör bringt. "Eine prima Idee, zweifellos! Je nach Qualität der Lautsprecherboxen muss man allerdings feststellen: Es spricht beileibe nicht nur 'der Dichter selbst'. Auch die Technik spricht mit!"
Archiv: Literaturen

Prospect (UK), 01.09.2003

Was haben Moral und Literatur gemein, oder schließen sie sich schlichtweg aus? An dieser Frage hangelt sich das sechste Kapitel aus J. M. Coetzees neuem Roman "Elizabeth Costello" entlang, das im Prospect veröffentlicht wird. Elizabeth Costello wird zu einem Vortrag über das Böse eingeladen, in dem sie vorhat, den Roman eines Autors anzusprechen, der auch noch zufällig im Saal sitzt. Sie sagt: "Wenn dies ein gewöhnlicher Vortrag wäre, würde ich Ihnen jetzt ein oder zwei Absätze vorlesen, um Ihnen ein Gefühl für dieses außergewöhnliche Buch zu geben. (Es ist übrigens kein Geheimnis, dass der Autor unter uns weilt. Lassen Sie mich Mr. West um Verzeihung bitten, dass ich mir anmaße, ihm seinen Text vorzulesen.) Ich sollte es tun, aber ich werde es nicht tun, weil ich nicht glaube, dass es gut für Sie oder für mich wäre, dies zu hören. Ich behaupte sogar, dass ich nicht glaube, dass es gut für Mr. West war, diese Seiten zu schreiben."

Weitere Artikel: Zwei Jahre nach dem Anschlag auf das World Trade Center, meint Geoffrey Wheatcroft, ist das, was zu Beginn wie ein "großes Ereignis mit kleinen Konsequenzen" aussah, jetzt ein - verhältnismäßig - "kleines Ereignis mit großen Konsequenzen". Ian Stewart, Professor für Mathematik an der Warwick Universität, erklärt, dass die Physik mit den Superstrings vielleicht zu einer großen, alles vereinenden Theorie gefunden hat. Shereen El Feki hat ein Menstruations-Museum (hier) im Internet entdeckt und überlegt, ob Menstruations-Hemmer wie das auf den Markt gekommene Seasonsale eine Ansichtssache bleiben werden oder zum sozialen Zwang ausarten könnten. James McLeod macht sich Gedanken über zunehmend schwer erziehbare, weil nicht erzogene Schulkinder, denen auch mit der besten Schulreform nicht beizukommen wäre. Für Will Self ist J. G. Ballards "Millenium People" der Roman ist, auf den das England dieses fin-de-siecle geradezu gewartet hat.

Nur im Print zu lesen ist ein Interview mit James Woolsey, Bill Clintons CIA-Direktor.
Archiv: Prospect

Espresso (Italien), 04.09.2003

Niemals im August sterben, rät Umberto Eco allen Dichtern und Denkern. Denn dann wird man so wenig beachtet wie Ecos kürzlich in San Paolo verstorbener Dichterfreund Haroldo De Campos (einige Gedichte und ein Essay hier), der auch Dante kongenial ins Portugiesische übertrug. "Entschuldigung, wenn ich den Eindruck erwecke, Werbung für einen toten Freund zu machen, aber wer wenigstens eine Seite der Übersetzung des 31. Gesangs lesen will - den über die schneeweiße Rose - kann ihn in meinem Buch 'Dire quasi la stessa cosa' finden. Man muss es nicht kaufen, es reicht, in die Bibliothek zu gehen und Seite 297 aufzuschlagen. Auch wenn Sie kein Portugiesisch können, deklamieren sie mit tiefer Stimme (um den Bibliothekar nicht auf Sie aufmerksam zu machen) den Dante von De Campos: 'A forma assim de uma candida rosa...' Vielleicht verstehen Sie dann, was ich sagen wollte.

Venedig ist besser als Cannes, behauptet Lietta Tornabuoni in ihrem Ausblick auf die Filmfestspiele, nicht nur wegen der großen amerikanischen Produktionen, die Frankreich aus politischen Gründen dieses Jahr gemieden haben, sondern auch wegen der Rückkehr der großen Meister: Bellocchio, Emmer, Bertolucci. Olmi, Amelio, Scola, Taviani und vielleicht Antonioni folgen im Herbst. Im Aufmacher widmet sich Alessandra Mammi dem Phänomen Johnny Depp (sein neuer Film), dem "Super Sexy Johnny", das aktuelle Objekt der Begierde, mit indianischem Blut, amerikanischen Wurzeln und europäischer Berufung. Außerdem empfiehlt Eleonora Attolico drei Ausstellungen in Padua, Venedig und Monte Carlo, die die famosen 60er Jahre wiederaufleben lassen.

Ud natürlich gibt es neue Trends aus dem anglosächsischen Raum: der mobile Lügendetektor für Eltern, die ihren Kindern misstrauen, Schweige-Parties, wo man über Zettel kommuniziert und Soft-Drinks, die sich positiv auf die Potenz auswirken sollen.
Archiv: Espresso

New York Times (USA), 31.08.2003

Seit der erfolgreichen Verfilmung von "The Talented Mr. Ripley" (mehr hier) erfreut sich das zwischen "ernsthafter Literatur, Pulp Fiction, Comic und psychatrischer Fallstudie" pendelnde Werk von Patricia Highsmith (mehr hier) später Aufmerksamkeit. Zwei neue Bücher beleuchten das Leben der exzentrischen Autorin, mit unterschiedlichem Fokus, wie Elise Harris in ihrer Doppelbesprechung feststellt. Andrew Wilson zeichne sich in seiner Biografie "Beautiful Shadow" vor allem durch die Distanz zu seinem Subjekt aus, die es ihm ermögliche, "Highsmith's bizarre persönliche Vorlieben zu dokumentieren ohne dabei aber ihre intellektuellen und emotionalen Einsichten unter den Tisch fallen zu lassen." Von Marijane Meakers "Highsmith", dem Report ihrer dreijährigen Beziehung mit der Schriftstellerin in den Jahren 1959 bis 1961 dagegen hat die Rezensentin zudem gelernt, dass Highsmith "Frauen in sexueller Hinsicht bevorzugte, für alles andere nahm sie lieber Männer."

Anlässlich des bevorstehenden hundertsten Geburtstags von Evelyn Waugh (eine gutgemachte Führung durch Leben und Werk hier) sieht sich Jim Holt veranlasst, ein paar Klischees richtig zu stellen. Vor allem, seit aus seinem beliebtesten, aber auch meistgehassten Roman "Brideshead Revisited" eine Fernsehserie (mehr hier) wurde, gilt Waugh vielen als snobistischer, nostalgischer, romantisch-katholischer Liebhaber englischen Landlebens. Dabei sah Waugh das moderne Leben als "wild, amoralisch und chaotisch an. Seine perfekt modulierte Sprache erlaubt es ihm aber, diese zornige Vision in eine raffinierte Farce umzuwandeln."

Aus den weiteren Besprechungen: Ganz aus dem Häuschen ist Norman Rush über David Quammens "Monsters of God", der kunstvolle wie konzentrierte Bericht über die bedrohliche Lage der Großraubtiere der Erde sowie die Versuche zu ihrer Rettung. Michael Janeway hat zwei neue politische Bücher besprochen und kann keinem etwas abgewinnen. Die Abrechnung des früheren Clinton-Beraters Dick Morris mit seinem Dienstherrn erscheint ihm zu rachetrunken, um ernst genommen zu werden, während Joe Conasons Angriff auf die Republikaner zu faktenlastig und zu gesetzt daherkommt, um im "Schrei oder Stirb"-Geschäft der politischen Auseinandersetzungen Gehör zu finden. Obwohl Margot Livesey einige Schwierigkeiten mit Margaret Leroys Roman "Postcards from Berlin" (erstes Kapitel) hat, war sie doch gespannt darauf, wie er ausgeht. Kein Wunder, bei dem Titel!
Archiv: New York Times

Nouvel Observateur (Frankreich), 28.08.2003

In einem Debattenbeitrag verteidigt der Historiker und Soziologe Jean Bauberot "das Universelle" und erklärt, warum es unerlässlich sei, unsere Vorstellung davon zu erneuern. Nur wenn man über einen "klaren Blick auf die Ambivalenzen seiner eigenen Kultur" verfüge, werde es möglich, "andere Kulturen zu schätzen, ohne seine eigenen grundlegenden Werte verleugnen zu müssen".

Als "manichäischen General" in "Kriegslaune" entlarvt Laurent Joffrin nach der Lektüre von "Ouest contre Ouest" in seiner Kurzbesprechung dessen Autor Andre Glucksmann. "Jede Verzögerung, jeder Einwand, jede Forderung einer Erklärung sind nichts als vulgärer Antiamerikanismus, gefährlicher Nationalismus und anachronistischer Gaullismus. Wer sich dagegen sträubt, in die Uniform zu steigen, gehört zum 'schlechten Westen', ins Lager der Weicheier der Freiheit und zu den Saboteuren der 'Achse des Guten'."

Und in die seit einigen Wochen geführten Debatte um die "Modernität Nietzsches" mischt sich heute Jean Daniel mit einer Verteidigungsrede ein.

Sehr gelobt und als "fesselnd" beurteilt ("giftig, voll köstlicher Bosheit und unzähligen Anekdoten") wird dagegen ein Buch des Goncourt-Preisträgers Pierre Combescot, der die fast vergessene Geschichte eines Diamantencolliers von Marie-Antoinette erzählt. Ansonsten werden vorwiegend Bücher nicht-französischer Autoren vorgestellt, interessant darunter die "alarmierende" Studie des seit 20 Jahren in Paris lebenden amerikanischen Journalisten und Camus-Biografen Herbert Lottmann "L'Ecrivain engage et ses ambivalences. De Chateaubriand a Malraux ". Lottmann untersucht darin die Frage, ob die französischen Schriftsteller auch "gute Politiker" seien, beziehungsweise die Gründe, die sie dazu veranlasst haben, sich in politische Fragen einzumischen.

Zu lesen sind Interviews mit Ian McEwan (hier) und Elfriede Jelinek (hier) über ihre neuen Bücher sowie ein Gespräch mit Stephen Frears, der gerade an einem Film über Tony Blair arbeitet, über seine jüngste Produktion "Dirty Pretty Things".

Ein kurzer Überblick informiert schließlich über das Programm des 29. Festival du cinema americaine in Deauville und Kurztipps über die Herbstproduktionen der Pariser Theater.

Folio (Schweiz), 01.09.2003

Grauer Anzug, reservierte Miene und seidene Zunge: der Diplomat.

Was versteht man eigentlich genau unter Diplomatie? William Pfaff definiert sie folgendermaßen: "Diplomatie ist unentbehrlich, solange die politische, militärische und wirtschaftliche Macht geteilt ist und das internationale System geprägt ist von vielfältigen Interessen. Dieser Grundsatz gilt seit dem Westfälischen Frieden von 1648, mit dem das moderne System von souveränen Staaten geboren war."

Ohne das Protokoll geht gar nichts. Viviane Manz weist uns ein in die Feinheiten der diplomatischen Gepflogenheiten. Eine Kostprobe: "Bei einem diner assis wird Ihnen die Tischordnung den Platz weisen. Fehler machen kann hier höchstens der Gastgeber, der die Gäste nach der 'preseance', der diplomatischen Hackordnung, placiert. Neben der guten Kinderstube ist bei Tisch zu beachten, dass niemand nach Hause geht, bevor sich der Ehrengast verabschiedet hat. Finden Sie rechtzeitig heraus, ob Sie der Ehrengast sind, damit Sie nicht die ganze Gesellschaft bis spät in die Nacht festhalten."

Michael Marti erzählt eine Schauergeschichte um einen missbrauchten Diplomatenkoffer. Vorher klärt er uns jedoch auf, was ein Diplomatenkoffer tatsächlich ist: "Der Diplomatenkoffer oder la valise diplomatique ist in den seltensten Fällen ein Koffer, sondern meistens, wie es die englische Bezeichnung diplomatic bag richtig ausdrückt: ein Sack; üblicherweise ein großer Segeltuchbeutel, oft beschichtet mit Wachs oder Plastik. Der Diplomatenkoffer, der in Wahrheit ein Sack ist, muss mit einem Siegel oder einer Etikette gekennzeichnet sein - nur dann gilt, was 143 Nationen am 18. April 1961 in der Wiener Konvention, Artikel 27, Absatz 3, beschlossen haben: dass er 'weder geöffnet noch zurückgehalten' werden darf. Der Diplomatenkoffer ist ein juristisches Konzept, kein Gepäckstück, und er ist unantastbar."

Weitere Artikel: Andreas Dietrich porträtiert die Schweizer Krisendiplomatin Heidi Tagliavini, Sonderbeauftragte der Uno in Georgien, von der man sagt, sie habe "deutsche Disziplin, ein italienisches Herz und französischen Charme".

Er trägt Shorts und ärmellose T-Shirts, doch allem Anschein zum Trotz ist Robert Weibel der begehrteste Verhandlungs-Trainer Europas, weiß Martin Senti. Markus Schär erklärt, was Wirtschaftsdiplomaten alles können müssen. Andreas Heller stellt die Spezies der Honorarkonsuln vor, und zwar als "Jahrmarkt der Eitelkeiten". Diplomatie kann bitterer Ernst sein, doch es gibt sie auch als Spiel, hat Tom Felber herausgefunden. Max Frenkel hat ein (un)diplomatisches Glossar zusammengestellt, in dem ein stocksteifer Begriff den anderen jagt.
Archiv: Folio

Cambio (Kolumbien), 01.09.2003

Herzlichen Glückwunsch: Der kolumbianische Cambio feiert Geburtstag. Vor zehn Jahren als unabhängig-kritisches Wochenmagazin gegründet, konnte es fünf Jahre später nur dadurch gerettet werden, dass es von einer Gruppe bekannter Journalisten übernommen wurde, unter ihnen Gabriel Garcia Marquez, der seitdem den Posten des Presidente del Consejo Editorial versieht und selbstverständlich seine eigene Kolumne hat. Der Festbeitrag von Gabriel Garcia Marquez besteht in einem langen Text über die kolumbianische Identität: "500 Jahre nach dem Zusammentreffen der Spanier und der bereits dort lebenden Bevölkerung wissen wir immer noch nicht, wer wir sind."

Der Kulturteil der Jubiläumsausgabe widmet sich dem Hypertext: Wie die Leser erfahren, gibt es an der kolumbianischen Universidad Javeriana inzwischen einen eigenen Lehrstuhl zu diesem Thema, und als eigentlicher Erfinder des Hypertextes ist kein Geringerer als Julio Cortazar zu betrachten, dessen Roman "Rayuela" aus diesem Grund seit einiger Zeit von seinen Bewunderern unter dem Namen Rayuel-o-matic im Netz nachgebaut wird.

Archiv: Cambio
Stichwörter: Marquez, Gabriel Garcia

Spiegel (Deutschland), 01.09.2003

Viel zu lesen diesmal. Zunächst einmal gehen Jürgen Dahlkamp und Georg Mascolo den Stasi-Vorwürfen gegen Günter Wallraff nach - denn "plötzlich, als wären die Siebziger nie vergangen, geht es wieder um alles oder nichts, geht es ums Große und aufs Ganze, geht es so wie damals, als keiner der Kämpfer im Kalten Krieg auch nur einen Schritt zurückwich. Wallraff gegen Springer. Springer gegen Wallraff."

Weiter geht es mit den verwirrenden Liebesfilmen, die am Lido zu sehen sind. Zum neuen Werk von Bruno Dumont etwa: "Der französische Regisseur ('L'Humanite') ist berüchtigt für die unerbittlich genaue Darstellung auch erotischer Brutalität. Diesmal zeigt er in 'Twentynine Palms' ein in der amerikanischen Wüste herumirrendes Paar. Nach allem, was vorab bekannt wurde, folgt der Film der Devise: Sie vögeln und sie hassen sich."

Manfred Dworschak berichtet von der lieben Not tausender "begeisterter Tüftler", sich mit teuren Apparaten zu Hause einen perfekten Espresso zuzubereiten - was hierzulande zu einer Art Volkssport geworden zu sein scheint. Und Julia Koch berichtet von der Einführung des neuen Schulfachs "Benehmen" in Bremen - was sich immerhin schön reimt (genau wie der Titel des Beitrags: "Sitte mit Witte").

Schließlich gibt es Auszüge aus den Gesprächsprotokollen des Funk- und Telefonverkehrs vom 11. September in New York, die letzten Donnerstag in New York veröffentlicht wurden. Der Spiegel räumt allerdings selbst ein, dass die Protokolle "keinen Anlass geben, die Geschichte des 11. September 2001 neu zu schreiben."

Der Titel über "Die Schiiten" sieht den Irak schon auf dem Weg zum Gottesstaat.
Archiv: Spiegel

Times Literary Supplement (UK), 29.08.2003

Früher war alles besser, seufzt jetzt auch schon Nick Hornby (mehr hier): "Der Ideenreichtum, die Raffinesse und der Witz von Mainstream-Filmen und Popmusik schwinden dahin, da die großen Unterhaltungsunternehmen nach den Dollars der Zehnjährigen jagen. Vor kurzem kündete schon ein Artikel im New Yorker ("Das Ende der Musik") vom 'kulturell dunklen Zeitalter', in dem niemand mehr bereit ist, ohne entsprechende finanzielle Belohnung in Popkultur zu investieren.

Weiteres: Mit - nun ja - Interesse hat David Wootton das neueste Werk des Historikers Jonathan Clark "Our Shadowed Present" gelesen, in dem dieser sich in seiner Feindschaft gegenüber der Moderne selbst übertrifft. Diesmal nämlich gibt er dem letzten Stuart-König James II die Schuld an allem Übel: Wäre der nicht vor William dem Eroberer nach Frankreich geflohen, hätte es keine Hannover-Dynastie in England gegeben, hätte es keine Amerikanische Revolution, keine Französische und also auch keine Russische gegeben. Der nur in Auszügen zu lesende Aufmacher ist Leben und Werk des tschechischen Schriftsteller Karel Capek (mehr hier) gewidmet, dem wir nicht zuletzt den "Roboter" verdanken. Iwan Klima hat nun eine Biografie über ihn geschrieben, deren Begeisterung für ihr Sujet Rezensent Leo Carey nicht ganz folgen kann. Fasziniert zeigt sich Gerald Mangan von dem Buch "Stagolee Shot Billy" gelesen, in dem Cecil Brown die wahre Geschichte hinter der Blues-Ballade "Stagolee" erzählt, nach der nämlich der arme Billy Lyons vom grausamen Stagolee Lee Shelton ermordet wurde. Zachary Leader wirft einen Blick auf Kingsley Amis Frauenfantasien.

Literaturnaja Gazeta (Russland), 27.08.2003

In dem Artikel "Architekten einer neuen Ordnung" wird den Amerikanern angesichts ihrer aggressiven Suche nach verbündeten "Zivilisatoren" in der westlichen Welt vor und während des Irakkrieges "bolschewistisches Jakobinertum" unterstellt, "wenngleich in kapitalistischer Ausprägung". "Die Bolschewisten waren auch von der Annahme ausgegangen, dass sich der Sozialismus durch Ausschalten der Gegner durchsetzen lassen würde, aber sie hatten sich geirrt." Die Popularität von George Bush ist aus dem Grunde bereits im Sinkflug begriffen, meint Literaturnaja Gazeta zu wissen: "Jeder Soldat, der im Irak jetzt noch stirbt, kostet Bush bei den Wahlen einen halben Prozentpunkt. 18 Tote haben den Vorsprung des US-Präsidenten in der Wählergunst von 61 Prozent auf 52 Prozent schrumpfen lassen."

Nach seinem großen Erfolg mit dem "Tschetschenientagebuch" im Jahr 2001 liefert der russische General Gennadi Troschew auch in seinem dieser Tage erscheinenden neuen Buch "Der Rückfall Tschetschenien" eine "detaillierte Analyse der Ereignisse in der Kaukasusrepublik". In ihrer aktuellen Ausgabe druckt die Literaturnaja Gazeta ein Kapitel als Vorabveröffentlichung, in dem es allerdings weniger um Tschetschenien, sondern vielmehr um den Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte, Wladimir Putin, und um dessen Führungsstil geht: "Bei Versammlungen ermahnte er die Funktionäre nicht nur einmal zur Ehrlichkeit. Er bestand darauf, dass Zahlen nicht geschönt werden sollten, weil die Wahrheit wichtiger als alles andere sei, um sich ein objektives Bild der Lage machen zu können." In seinem positiven Porträt beschreibt Troschew Putin weiter als "streng und beharrlich", als "Mann mit Herz", der seine Versprechen hält und seinem Land etwas gibt, was es lange Jahre nicht kannte: eine - wie auch immer geartete - "Ordnung".

Und schließlich noch ein kulturelles Highlight: Am 6. September versammeln sich im Rahmen des zweiten "Moskauer Poesiefestivals", das einer gemeinsamen Initiative der Stadtverwaltung und der Literaturnaja Gazeta zu verdanken ist, zeitgenössische Poeten, die in Russland im Augenblick von sich reden machen, zu einem gemeinsamen Lesemarathon im Zentrum von Moskau. Eigens aus diesem Anlass erscheint eine Gedichtsammlung mit dem Titel "Geräusche des Himmels".