Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
07.11.2006. Die Magazine sorgen sich um den Zustand der Demokratie: Den Philosophen Leszek Koczanowicz erinnert sie in der Gazeta Wyborcza an ein ausgeblasenes Ei. Die New York Times beklagt die intellektuelle Unredlichkeit Bushs. In Elet es Irodalom sieht Janos Kis Ungarn in der Sackgasse. Outlook India beschreibt das Kopftuch als Symbol des Kompromisses. Der Economist zahlt acht Dollar für den Eintritt in die Hölle. In al-Sharq al-Awsat empören sich algerische Intellektuelle über die Heuchelei der Franzosen. Al Ahram will gleich ganz mit historischer Schuld aufräumen. In der Weltwoche rechnet Mario Vargas Llosa vor, was seine aus Mexiko stammende amerikanische Haushälterin verdient.

al-Sharq al-Awsat (Saudi Arabien / Vereinigtes Königreich), 06.11.2006

Der Beschluss der französischen Nationalversammlung, die Leugnung des Genozids an den Armeniern unter Strafe zu stellen, hat nicht nur in der Türkei Proteste ausgelöst. Empört zeigten sich auch zahlreiche algerische Intellektuelle, wie al-Khayr Shawar aus Algier berichtet. So erklärte der Theaterkritiker Ihsan Talilani: "Diese französische Haltung ist fragwürdig, macht sie doch deutlich, dass die französische Politik mit zweierlei Maß misst. Während sich Frankreich als zivilisierte Nation zu präsentieren versucht, die mit den Armeniern sympathisiert, ist die Geschichte voll von blutigen Taten, von Verbrechen und Massakern, die Frankreich in Algerien begangen hat. Gleichzeitig versucht Frankreich, diese Verbrechen mit einem Gesetz zu verschleiern, das den Kolonialismus verklärt." Ähnlich äußerte sich auch der Journalist und Autor al-Tahir Bin Aysha: "Dass ein solches Massaker unter einem Regime wie dem türkischen geschah, ist eine selbstverständliche Sache. Erstaunlich ist es, dass viel schlimmere Dinge unter einem Regime wie dem französischen in den Zeiten der Besetzung (Algeriens) geschehen sind."

Über den Erfolg des französischen Kinofilms "Indigenes" von Rachid Bouchareb berichtet Muhammad al-Mazjudi. Der Film, der von den französischen Soldaten aus den Kolonien während des Zweiten Weltkrieges erzählt, habe "in weniger als einem Monat psychologisch und ganz praktisch vielleicht mehr Spuren hinterlassen als die Akte der Gewalt" in den Banlieues.

Der Umgang mit politischen Verbrechen in der islamischen Rechtswissenschaft ist der Gegenstand einer Studie, die unter der Aufsicht des ehemaligen Muftis der Türkei verfasst wurde und hier besprochen wird. Zu diesen Verbrechen zählen die Autoren nicht nur Terrorismus und direkte politische Gewalt, sondern interessanterweise auch politische Ungerechtigkeiten im weiteren Sinne.

Al Ahram Weekly (Ägypten), 01.11.2006

Mit der Vergangenheit ein für allemal aufräumen, um zu verhindern, dass aus historischer Schuld politisches Kapital geschlagen wird, will Gamil Mattar und skizziert dazu eine internationale Charta: "Die Zivilisation muss von vorn anfangen. Vielleicht ist als ein Schritt in die richtige Richtung eine internationale Charta vonnöten, die von den Vertretern der UNO-Mitgliedsstaaten, der noch nicht unabhängigen Nationen und der Minderheiten in bestehenden Staaten entworfen und unterzeichnet wird. Dieser Charta soll als konstitutiver Bestandteil eine schriftliche Erklärung aller Unterzeichner beigefügt werden, in der sie ihre Schuld gegenüber anderen Völkern eingestehen und eine Entschuldigung anbieten, die von den betreffenden Völkern ihrerseits akzeptiert wird." Und dann: Schwamm drüber.

Ibsens "Peer Gynt" mit Edvard Griegs Bühnenmusik, zur Krönung des Ibsenjahres aufgeführt vor den Pyramiden von Gizeh - für Amal Choucri Catta ist das ein Grund zum Schwelgen. Nehad Selaiha dagegen sind Zweifel gekommen, ob damit nicht Ibsens unerfreulicher Orientalismus und seine wenig schmeichelhafte Meinung über die ägyptische Kultur übertüncht werden.
Archiv: Al Ahram Weekly

Point (Frankreich), 02.11.2006

In einem Interview erklärt der israelische Historiker Elie Barnavi, warum der Westen endlich aufhören solle, sich für sich selbst zu schämen. Wenn wir unsere Werte auch nicht mit Gewalt exportieren können, argumentiert er in seinem neuen Buch "Les religions meurtrieres" (Die mörderischen Religionen), müssten wir doch imstande sein, sie in unseren Ländern zu verteidigen. "Der Islamismus gewinnt Terrain, aber das Spiel hat er nicht gewonnen. Man muss sich auf die große Masse der Muslime berufen, die diese Radikalisierung ablehnen. Bei den anderen dürfen wir keinerlei Kompromisse machen, zur Not müssen wir auch Zwang anwenden. Es geht nicht darum, den Schleier auf der Straße zu jagen, sondern auf eine Klubsprache zu bestehen. Wir gehören zu einem Klub, der allen offen steht, aber er hat seine Regeln: Hier wird Schach gespielt. Wer Dame spielen will, soll das anderswo tun."

Bernard-Henri Levy entschuldigt sich ironisch "für einen Augenblick" von der innerfranzösischen Fixierung auf die dortigen Präsidentschaftswahlen und die Favoritin Segolene Royal abzusehen. Stattdessen erinnert er an die Bedeutung der Zwischenwahlen in den USA. "In der heutigen Welt ist dies eine Wahl von Weltbedeutung - von der nicht weniger abhängt als Krieg und Frieden zwischen den Nationen, mit der sich die Zukunft des Nahen Ostens entscheidet (...) und die äußerst konkrete Zukunft unseres Planeten (siehe das Kyoto-Protokoll und Bushs Weigerung, es zu ratifizieren)."
Archiv: Point

Outlook India (Indien), 13.11.2006

Arshad Alam, Mitarbeiter des Center for Jawaharlal Nehru Studies, fordert die europäischen Länder auf, in der Verschleierung der Frauen nicht ein Symbol der Abgrenzung zu sehen, sondern den Wunsch, sich zu integrieren: "Die alte Weltsicht vieler Eltern grenzte die Bewegungsfreiheit und Freiheit muslimischer Mädchen in der Pubertät ein. In vielen muslimischen Familien wurde der Schleier zu einem Symbol des Kompromisses: Er gibt Eltern die Sicherheit, dass ihre Töchter gemäß islamischer Normen gekleidet sind, so dass niemand die Familie in Frage stellen kann, während er zugleich den muslimischen Mädchen die Freiheit gibt, eine höhere Ausbildung oder einen Job zu suchen. Ironischerweise wird der Schleier, in dem viele ein Symbol der Unterdrückung sehen, zu einem Symbol der Freiheit. Gerade im europäischen Kontext ist der Schleier nicht immer ein Symptom von Tradition und Rückwärtsgewandheit, sondern ein Mittel, das die Integration von muslimischen Frauen in die moderne Lebenswelt befördert."

Weiteres: Saba Naqvi Bhaumik berichtet, dass das All India Muslim Personal Law Board für Indien entschieden hat, dass es jeder Frau selbst überlassen bleiben soll, ob sie einen Schleier trägt oder nicht. Die Titelgeschichte prangert die Praxis indischer Geheimdienste an, keine Muslims bei sich arbeiten zu lassen. Besprochen werden die "Mutter aller Bollywood-Bücher", Mushtaq Shiekhs Shahrukh-Khan-Biografie "Still Reading Khan" und Bob Woodwards Buch "State Of Denial".
Archiv: Outlook India

Gazeta Wyborcza (Polen), 04.11.2006

Die polnische Demokratie erinnert den Philosophen Leszek Koczanowicz "an ein ausgeblasenes Ei: Augenscheinlich stimmt alles - Wahlen finden statt, Regierungsparteien wechseln sich ab. In Wirklichkeit jedoch schlittert das politische Leben auf der Oberfläche entlang, interessiert immer weniger Menschen und erweckt immer weniger Hoffnung, dass irgend etwas verändert werden kann. Die Eliten scheinen auch kein Interesse daran zu haben, diesen prinzipiellen Makel zu beseitigen. Das politische Spektakel scheint jedenfalls immer weniger Zuschauer anzuziehen."

Der Theaterregisseur Krystian Lupa, der gerade Thomas Bernhards "Über allen Gipfeln ist Ruh" inszeniert, erzählt im Interview, warum ihn der österreichische Autor so fasziniert. "Bernhard lässt unseren inneren Trottel sprechen. Wenn wir müde sind, fangen wir an zu jammern, es ist ein Stammeln, wie das eines Bettlers in der Unterführung, ein Mantra, das wir unterdrücken, um gute Europäer zu sein." Es ist auch von der Initiation und vom Reifen die Rede: "Erwachsen werden bedeutet eine totale Enttäuschung. Ein Kind denkt, dass Erwachsensein ein tolles Spielzeug ist, das ihm bisher vorenthalten wurde. Dann stellt sich heraus, dass dieses Spielzeug nur Müll ist und Weiß-der-Teufel-was. Und dieses Weiß-der-Teufel-was ist unser Leben."
Archiv: Gazeta Wyborcza

New York Review of Books (USA), 16.11.2006

Gary Wills resümiert, wie die Evangelikalen in den USA unter George Bush immer mehr Machtpositionen besetzt und inzwischen die Bereiche Justiz, Soziales, Wissenschaft und selbst den Irakkrieg fest im Griff haben. In letzteren wurden sie bekanntlich von Gott geführt, um Satan aufzuhalten. Das macht den Wiedergeborenen jetzt allerdings Sorge, meint Wills: "Es besteht in einem Krieg, den Gott kommandiert, eine gewisse Gefahr: Was, wenn Gott verliert?"

Martin Filler erzählt die Geschichte des Getty Trusts, der seit den Affären um die aus Italien geschmuggelten Antiquitäten um seinen Ruf fürchten muss. Allerdings hatten der Trust und sein Gründer, J. Paul Getty, von Anfang an schlechte Presse, erinnert sich Filler: "Auch wenn Getty nie müde wurde, seine Liebe zur Kunst herauszuposaunen, liebte der knauserige Milliardär - der seinen Söhnen Besuche auf dem eigenen Surrey-Anwesen Sutton Place, in Rechnung stellte - nichts mehr als ein Schnäppchen, und sein scharfer Blick auf das Saldo half nicht unbedingt seinem Blick für Bilder. Wie sich John Richardson, der Gettys Kollektion gut kannte, erinnert: 'Er wollte Meisterwerke, aber bitte billig.'"

Weiteres: Tiefe Einsichten verdankt Diane Johnson dem Buch "I Feel Bad About My Neck and Other Thoughts on Being a Woman" der Regisseurin Nora Ephron. Zum Beispiel, dass man im Leben mit dreißig Maximen auskommt, darunter: "Kaufe, miete nicht. Kaufe nichts, was zu 100 Prozent aus Wolle besteht, auch wenn es sich beim Anprobieren im Laden noch so weich anfühlt und nicht kratzt. Man kann nicht mit Menschen befreundet sein, die nach 23 Uhr anrufen. Das Flugzeug wird nicht abstürzen." Bill McKibben stellt neue Bücher zur Klimakatastrophe vor, darunter auch "The Revenge of Gaia". Darin sagt der einflussreiche Wissenschaftler James Lovelock einen Temperaturanstieg von acht Grad in den nächsten Dekaden voraus, den wahrscheinlich nur zweihundert Millionen Menschen an den Polarkreisen überleben werden. Die gute Nachricht: Bisher lag Lovelock immer knapp daneben. Robert Paxton bespricht Carmen Callils Studie "Bad Faith" über Vichy-Frankreich und seine übelsten Kollaborateure. Andrew O'Hagan jubelt Stephen Frears' "Queen" zu.

Espresso (Italien), 09.11.2006

Moses Naim, ehemaliger Handels- und Industrieminister Venezuelas und geschäftsführender Direktor der Weltbank, heute Chefredakteur von Foreign Policy, ruft die globale Führungskrise aus. Es gebe im Augenblick niemanden, der sich der Probleme der Welt annehmen könnte: "Chiracs Mandat steht kurz vor dem Ende, ebenso wie die Amtszeiten Blairs und Kofi Annans. Angela Merkel, Romano Prodi und viele andere stehen prekären politischen Koalitionen vor, die ihren Handlungsspielraum merklich einengen. Und Brüssel ist zu sehr damit beschäftigt, diplomatische Treffen zu organisieren als dass hier ein relevanter internationaler Akteur heranwachsen könnte."

Außerdem schafft es Umberto Eco, selbst aus der Spam-Mail einer afrikanischen Waise in Finanznöten eine Bustina di Minerva über Vor- und Nachteile der globalen Kommunikation zu extrahieren.
Archiv: Espresso

Economist (UK), 06.11.2006

"Willkommen in der Hölle. Eintritt: 8 Dollar." Belustigt berichtet der Economist über die religiöse Variante des heidnischen Halloween-Grauens. "Auf eine Rave-Party zu gehen, könnte Ihr ewiges Leben gefährden. Säkulare Spukhäuser sind für derlei Gefahren nicht kompetent. Und außerdem begehen sie ein heidnisches Fest. Aus diesem Grund haben hunderte von Kirchen in ganz Amerika ihre eigene Horrorshow veranstaltet, um mit Halloween zu wetteifern. In den 'Höllenhäusern', manchmal auch als 'Häuser des Jüngsten Gerichts' oder 'Wirklichkeitshäuser' bekannt, stellen junge Schauspieler anschaulich dar, welche Folgen Alkoholkonsum, Liederlichkeit oder Homosexualität mit sich ziehen. Frauen zum Beispiel, die mit Sex leichtfertig umgehen, könnten sich eines Besseren besinnen, wenn sie sehen, wie dies zu einer blutigen Abtreibung bei fortgeschrittener Schwangerschaft führt."

Und der Economist zweifelt an der Stichhaltigkeit der These, die Ilan Pappe in seinem umstrittenen Buch "The Ethnic Cleansing of Palestine" aufstellt, nämlich dass während des Unabhängigkeitskrieges von 1948 auf israelischer Seite ein Masterplan zur ethnischen Säuberung des israelischen Staatsgebietes vorgelegen habe.
Archiv: Economist

Weltwoche (Schweiz), 03.11.2006

Die sieben Milliarden Dollar teure Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko ist völlig sinnlos, betont Mario Vargas Llosa. Zum einen sei sie spielend zu umgehen, zum anderen seien Immigranten ein Segen für die Wirtschaft. Llosa demonstriert das an seiner amerikanischen Putzhilfe Emerita, die für zwei Stunden früher sechzig und nun hundert Dollar nimmt. "Sie besitzt das neuste Buick-Modell und ultramoderne Geräte, um zu fegen, zu polieren, zu putzen und zu waschen. Am Samstag - sie arbeitet sechs Tage pro Woche und nimmt sich den Sonntag frei - hilft ihr der Ehemann, der ansonsten als Gärtner arbeitet. Wie viel er verdient, weiß ich nicht, aber Emerita reinigt durchschnittlich vier bis fünf Häuser pro Tag, womit sie ein Monatseinkommen von mindestens 8.000 Dollar erzielt. So haben sie und ihr Mann sich ein Haus in Washington und eines in ihrer Heimat kaufen können."

Weiteres: In der Schweiz werden Schulkinder mit Soldaten in Kampfanzügen und Handschellen für die schrecklichen Erlebnisse von Flüchtlingskindern sensibilisiert, empört sich Philipp Gut. Samiha Shafy erforscht, ob Ehrgeiz antrainiert ist oder vererbt wird. Im Gespräch mit Ralph Pöhner erinnert sich Steve Wozniak an die goldenen Anfänge von Apple.
Archiv: Weltwoche

Times Literary Supplement (UK), 03.11.2006

Ökonomische Ungleichheit macht sich zunehmend als politische Ungleichheit bemerkbar, schreibt Stein Ringen in einer Eloge auf Robert Dahls neues Buch "On Political Equality" und sieht das heraufziehen, was Alexis de Tocqueville milden Despotismus nannte: "Wohlfahrtsverbände, Kulturinstitute, Schulen, Universitäten, öffentliche und soziale Dienste - sie alle werben um Mittel von privaten Geldgebern. In all diesen Bereichen werden die Entscheidungen weniger öffentlich und von gewählten Volksvertretern getroffen als von den Reichen im Privaten... Ökonomische Macht macht sich auch in der direkten Maschinerie der Demokratie bemerkbar. Der Mechanismus funktioniert über eine megateure Politik, bei der politische Kandidaten, Parteien und Kampagnen von großen Spenden durch reiche Individuen oder Institutionen abhängig werden." So werde Demokratie "zunehmend korrupt".

Weiteres: Derek Mahon huldigt Samuel Becketts Gedichten, die direkt ins Innenohr drängen. Besprochen werden auch Ole J. Benedictows Geschichte der Pest "The Black Death" ("Die besten Horrorgeschichten sind die wahren"), Adam Sismans Buch über die Freundschaft zwischen Wordsworth and Coleridge, "The Friendship", und Fiona MacCarthys Sozialstudie über Debütantinnen, "The End of the Debutantes".

Elet es Irodalom (Ungarn), 03.11.2006

Ungarn ist gerade dabei, sich in eine gefährliche Sackgasse zu verirren, meint Janos Kis, einer der bekanntesten Politologen Ungarns. Die Initiative der größten Oppositionspartei Fidesz, über die Reformen der Regierung ein Referendum abzuhalten, sei verfassungswidrig: "Wichtigste Organe der Machtausübung in der parlamentarischen Demokratie Ungarns sind das Parlament und die Regierung. Ihre Entscheidungen dürfen durch Referenden modifiziert, aber nicht gänzlich vereitelt werden, weil das Recht der gewählten Mehrheit zu regieren dadurch aberkannt würde."

György Baron feiert "Taxidermia", den zweiten Spielfilm des jungen ungarischen Regisseurs György Palfi, den sein Debütfilm "Hukkle" international bekannt machte: "Die in Film verwandelte, auf Texten des Schriftstellers Lajos Parti Nagy basierende Familienchronik György Palfis stellt eine radikale Revision des traditionellen Familienromans dar. Der Ausgangspunkt ist ein Tiefpunkt, von dem keine Familie weitersinken kann. Vor sich stets wandelnden Kulissen bewegen sich drei Generationen in genau den gleichen Kreisen des Verfalls: Sex, Essen, Trinken, Entleeren, Tod, Selbstbefriedigung, Selbstobduktion, Selbstausstopfen... Trotz der schockierenden Bilder riskiere ich den Satz: 'Taxidermia' ist ein schöner Film."

Weiteres: Der Schriftsteller Ivan Sandor schreibt einen schönen Essay über die von der ersten Sekunde an verlorene Revolution von 1956.

Vanity Fair (USA), 01.11.2006

Die Neocons verlassen das sinkende Schiff. David Rose hat kurze Statements von exponierten Kriegsbefürwortern eingeholt, die jetzt alle mit dem Desaster im Irak nichts mehr zu tun haben wollen und die Schuld ganz der Regierung von Präsident George Bush anlasten, darunter Richard Perle, David Frum und Kenneth Adelman: "Adelman, Zeit seines Lebens ein neokonservativer Streiter und Pentagon-Insider, der bis 2005 als verteidigungspolitischer Berater der Regierung diente, schrieb im Februar 2002 einen berühmten Artikel auf der Meinungsseite der Washington Post, in dem er behauptete: 'Saddam Husseins Militärmacht zu zerstören und den Irak zu befreien, dürfte ein Kinderspiel werden.' Jetzt sagt er: 'Ich habe einfach angenommen, dass das Team, das ich für das kompetenteste in Fragen der nationalen Sicherheit seit Truman hielt, auch kompetent agieren würde. Stattdessen stellte es sich als eines der inkompetentesten Teams der Nachkriegszeit heraus. Es hatte nicht nur jedes seiner Mitglieder erhebliche Schwachpunkte, sondern sie waren auch zusammen tödlich dysfunktional."
Archiv: Vanity Fair

New Yorker (USA), 13.11.2006

John Cassidy kommentiert die Präsentation der Studie des britischen Wissenschaftlers Nicholas Stern zur Erderwärmung, die möglicherweise die amerikanische Einstellung gegenüber ökologischen Fragen verändern und eine politische Diskussion in Gang setzen könnte. "Die Bush-Regierung und ihre ideologischen und geschäftlichen Verbündeten haben die wissenschaftliche Tatsache der Erderwärmung heruntergespielt und dabei darüber geklagt, dass eine grundsätzliche Beschäftigung mit dem Klimawandel für die Wirtschaft eine zu große Belastung wäre. Stern weist diese Sichtweise zurück: 'Der Klimawandel birgt sehr ernste globale Probleme und erfordert dringend eine globale Reaktion.'"

Zum 70. Geburtstag porträtiert Alex Ross den Minimal-Music-Komponisten Steve Reich. "Reich hat die Musik verändert und zugleich auch das Verhältnis zwischen Musik und Gesellschaft." In einer Audiopräsentation untersucht Ross außerdem Reichs Einfluss auf Pop und HipHop.

Rebecca Mead stellt eine Studie über den Kult um die Schönheitschirurgie vor "Beauty Junkies: Inside Our $15 Billion Obsession with Cosmetic Surgery" Doubleday. Rachel Cohen bespricht eine Biografie über den Schriftsteller Leonard Woolf, Ehemann von Virginia Woolf ("Leonard Woolf", Free Press). David Denby sah im Kino "Fur", Steven Shainbergs "imaginäres Porträt" der Fotografin Diane Arbus mit Nicole Kidman in der Hauptrolle, und "A Good Year" von Ridley Scott, eine "Renovierungsphantasie", die in der Provence spielt und für die tatsächlich auch Peter Mayle ("Mein Jahr in der Provence") das Drehbuch schrieb. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Greensleeves" von Helen Simpson.
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 03.11.2006

Die Schriftstellerin Viktoria Radics beobachtet enttäuscht die hasserfüllte Erinnerungskultur der Budapester zum Aufstand 1956. In der Ausstellung des Museums Haus des Terrors sieht sie "künstliches geronnenes Blut auf dem Boden, antikommunistischen Kitsch an den Wänden und einen Galgen, an dem noch 1986 Menschen hingerichtet worden waren, als Ausstellungsobjekt. Ich erstarre vor Schock. Ich weiß nicht, wie ich dazu stehen soll, aber eines ist sicher: die Ausstellung ist ästhetisch eine Katastrophe und ein Armutszeugnis von Seele und Verstand." Auf dem Kossuth-Platz, vor dem Parlament erblickt sie "den Sarg des Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany, den die Demonstranten aufgestellt haben", und wieder empfindet sie nichts als Abscheu.
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Erinnerungskultur, 1956

New York Times (USA), 05.11.2006

In der Book Review stellt Michael Kinsley eine Handvoll Bücher vor, die sich mit dem schlechten Zustand der amerikanischen Demokratie beschäftigen. Kinsley macht dafür vor allem eins verantwortlich: "die enorme Toleranz für intellektuelle Unredlichkeit". Als Beispiel nimmt er die Wahlen im Jahr 2000. "Einige Tage vor der Wahl 2000 versammelte das Bush-Team Leute, die sich mit folgendem Problem beschäftigten: Angenommen, Bush würde die meisten Wählerstimmen, Gore aber die meisten Wahlmänner gewinnen. Sie beschlossen für diesen Fall eine große Kampagne, um die Bürger zu überzeugen, dass es falsch wäre, wenn Gore die Präsidentschaft übernehmen würde. Und sie beabsichtigten, enormen Druck auf Gores Wahlmänner auszuüben, damit diese für Bush stimmen. Die Wahlmänner hätten zweifellos das Recht dazu gehabt. Tatsächlich entstand jedoch genau die entgegengesetzte Situation. Und sofort lancierten die Bushies auch das entgegengesetzte Argument: die Wahlmänner seien ein vitaler Teil unserer Konstitution, sie seien nicht frei in ihrer Entscheidung und so weiter. Gore focht übrigens die Entscheidung der Wahlmänner nie an, obwohl einige Berater ihn dazu drängten. Von all den Dingen, die Bush in der Wahlkrise 2000 tat und sagte, war dieses 'having-it-both-ways' das korrupteste."

Weiteres: Peter Dizikes glaubt, dass es bald keine Wissenschaftler-Biografien mehr geben wird, denn die größten und bedeutendsten Erfolge in der Wissenschaft verdanken sich nicht mehr einzelnen Personen, sondern ungeheuer großen Teams. Besprochen werden unter anderem David Mamets Buch "The Wicked Son. Anti-Semitism, Self-Hatred, and the Jews" (Nextbook/Schocken) und Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt", das Tom LeClair ein bisschen zu kurz findet, dem er aber "schnelles Tempo und eine leichte Hand" bescheinigt.
Archiv: New York Times