Magazinrundschau

Verzweifeltes Verlangen nach Licht

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.12.2009. In der New York Review of Books schreibt Tony Judt über seine ALS-Erkrankung. Im Merkur beschreibt Wolfgang Ullrich einen neuen Künstlertypus: den Auftraggeber. Der Economist erzählt, wie Fans Harry Potter weiterschreiben. In Prospect erklärt Cristian Mungiu, warum man über den Kommunismus lachen muss. In Nepszabadsag denkt Peter Nadas über die Krise in Ungarn und ihr mögliches Ende nach. Im NouvelObs erklärt Francis Ford Coppola, warum DVDs kostenlos sein sollten. Eurozine führt ein in die Literatur Litauens.

New York Review of Books (USA), 14.01.2010

Der Historiker Tony Judt leidet an ALS. Inzwischen kann er praktisch nur noch seinen Hals und seinen Kopf bewegen. Tagsüber gibt es wenigstens Menschen und Abwechslung. Aber dann kommt die Nacht. "Natürlich kann ich Hilfe rufen, wenn ich sie brauche. Da ich keinen Muskel bewegen kann, ausgenommen Hals und Kopf, steht ein Babyfon neben meinem Bett. Es ist immer angeschaltet, so dass ein Ruf von mir Hilfe bringt. In den früheren Stadien meiner Krankheit war die Versuchung Hilfe zu rufen, fast unwiderstehlich: Jeder Muskel hatte das Bedürfnis nach Bewegung, jeder Zentimeter Haut juckte, meine Blase füllte sich auf mysteriöse Weise nachts und verlangte nach Erleichterung. Ganz generell fühlte ich ein verzweifeltes Verlangen nach Licht, Gesellschaft und dem einfachen Komfort zwischenmenschlichen Verkehrs. Inzwischen habe ich gelernt, die meisten Nächte darauf zu verzichten und Trost und Rückhalt in meinen eigenen Gedanken zu finden. Das letztere ist keine kleine Aufgabe, auch wenn ich selbst das sage."
Stichwörter: Judt, Tony

Merkur (Deutschland), 01.01.2010

Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich sieht einen neuen Künstlermythos aufziehen, nämlich den des Künstlers, der wie ein Filmproduzent oder Handelsunternehmer Großaufträge akquiriert, in Werkstätten wie dem Mike Smith Studio in London, mixedmedia berlin oder Carlson & Co. in Los Angeles produzieren lässt und nur noch - wie in der Whisky-Werbung - bei der Endabnahme für die "besondere Qualität" bürgt: "Die Idee eines einheitlichen Stils, die für Generationen von eigenhändig schaffenden Künstlern zentral war, wird also auf einmal zu einem Signum von Idiosynkrasie. Und handwerkliches Nicht-Können ist nicht nur kein Handicap, sondern sogar Voraussetzung dafür, als Künstler spontan - eben flexibel - bleiben zu können." Und wie einst das unschuldige Auge werde nun die unschuldige Hand propagiert: "Demzufolge wäre der Künstler, der sich bei der Entwicklung seiner Konzepte überhaupt nicht von dem beeinflussen lässt, was er über Handwerkstechniken und Materialeigenschaften weiß, am besten dazu disponiert, Meisterwerke zu schaffen. Auch andere Künstler lassen sich ausdrücklich als technisch unbedarft darstellen: nicht nur um sich möglichst stark von einem schnöden Handwerkertum zu distanzieren, sondern weil sie auf diese Weise als besonders unabhängig - als frei und insofern authentisch - wahrgenommen werden wollen. Man inszeniert sich gemäß der Maxime: Je weniger ich kann, desto weniger bin ich determiniert."

Außerdem übernimmt der Merkur einen Essay des Philosophen John R. Searle aus der New York Review of Book, in dem er - unter Verweis auf Paul Boghossians "Fear of Knowledge" - vehement gegen Relativismus und Sozialkonstruktivismus plädiert: "Es ist hinreichend bewiesen, dass die Ureinwohner Amerikas den Kontinent von der eurasischen Landmasse aus erreichten, indem sie die Beringstraße überquerten. Von indianischer Seite gibt es auch Berichte, wonach es die Nachfahren des Buffalo-Volkes waren, und sie kamen aus dem Inneren der Erde, nachdem übernatürliche Geister die Welt als Wohnstätte für die Menschen hergerichtet hatten. Es liegen also zwei sich gegenseitig ausschließende und einander widersprechende Darstellungen vor. Einige Ethnologen erklären, dass die eine Darstellung so gut wie die andere sei." Aber immerhin, meint Searle, sei es einfacher, beispielsweise Richard Rorty zu widerlegen als Derrida: "Es ist viel leichter, ein schlechtes Argument zu widerlegen als ein wirklich grauenhaftes." (Hier die englische Version)

Weiteres: Gunter Schäble schreibt übers Klima. Cord Riechelmann folgt Alexander von Humboldt nach Zentralasien. und Thomas Frahm blickt auf die schwierige Transformation in Bulgarien.
Archiv: Merkur

Economist (UK), 24.12.2009

Ein ausführlicher Artikel schildert die Auswirkungen, die der Welterfolg des Harry-Potter-Franchise auf Buch, Film, Videospiel hatte. Was auch vorkommt, als nichtkommerzielle Fortsetzung der Potter-Welt in der Fan-Fiction: "Das Neu-Erzählen der Potter-Geschichte ist ein beliebtes Freizeitvergnügen. Eine Website, Fiction Alley, hat allein im November 2009 vierzehn weitere Kapitel zur Saga hinzugefügt, dazu kommen viele kürzere Texte. Möchtegern-Rowlings geben der Geschichte eine neue Richtung, indem sie sie sich auf andere Charaktere konzentrieren oder über Jahre schreiben, die in den Büchern nicht vorkommen. Viele stürzen sich auf das Liebesleben der Figuren - vielleicht der größte Schwachpunkt 'des Kanons', wie die Originalserie voller Verehrung genannt wird. Diese Amateurgeschichten, die von den anderen Fans oft scharfsichtiger Kritik unterzogen werden, sind meist durchaus kompetent. Die Schüler sprechen darin, wie Teenager wirklich sprechen. 'Es muss einen Grund geben, warum er mich wie ein Arsch behandelt', stottert Harry einmal im dritten Buch der 'Lily's Charm'-Serie, verfasst von einem Autor namens ObsidianEmbrache. Das klingt doch ganz überzeugend nach Spielplatz."
Archiv: Economist

Res Publica Nowa (Polen), 28.12.2009

Nach jahrelangen Diskussionen hat das Museum für Moderne Kunst seine Arbeit aufgenommen. Bezeichnenderweise versuchte man mit dem Projekt "Warschau im Entstehen" eine Verbindung zur sich im ständigen Wandel befindenden Stadt herzustellen. "Gut so!", meint die Kunstkritikerin Anda Rottenberg. Nur sollte man es dabei nicht belassen: "Ohne solche Instrumente wie dieses Museum, Fernsehbeiträge, Schulunterricht, ohne Bildungskontext wird unsere Gesellschaft weiterhin negativ auf moderne Kunst reagieren, und nur durch Errichten von neuen Häusern kommen wir nicht weiter. Übrigens sind diese Häuser, wie sie sind, weil wir eine Architektur akzeptieren, die woanders auf der Welt nicht mehr gebaut wird. Warschau wurde zu einer Art Abwurfstelle für veraltete Ideen, und alle glauben, das wäre sehr schön, oder sie sagen es wenigstens so. Andernfalls würden sie etwas dagegen unternehmen. Leider reflektiert ganz Polen diesen Geschmack, der aus Komplexen und Ressentiments entstanden ist. Natürlich wird sich das nicht von einen Tag auf den anderen ändern, aber alles ändert sich so langsam."

Der viel diskutierte Beitrag Timothy Snyders bei der "Eurozine"-Konferenz im Mai (hier die im New York Review of Books publizierte Fassung) kann den westlichen Blick auf den Holocaust beeinflussen, meint Jaroslaw Kuisz. "Ohne Zweifel wendet sich der Text gegen eine Geschichtsschreibung allein aus dieser Perspektive. Das 'Zentrum' schreibt eine populäre Weltgeschichte, und ignoriert dabei stur die Stimmen aus der 'Provinz'." So weit, so gut, nur "werden wir wieder ausschließlich als Opfer präsentiert. Snyders Erzählung, so edel sie gemeint ist, ist nichts Anderes, als eine Fortsetzung der Geschichtsschreibung aus Sicht des Westens. Die Opfer früherer Verbrechen bleiben passive 'Provinz'", schreibt Kuisz. Die Freude über die Anerkennung der polnischen Opfer beider Totalitarismen, die Synders Text leistet, solle daher nicht ganz so enthusiastisch ausfallen.

Den schönsten Beitrag in der Zeitschrift - aber auch nicht online - stellt die Analyse des Deutschlandbildes in der polnischen Literatur der letzten dreißig Jahre dar. Przemyslaw Czaplinski (hier ein älterer Beitrag und eine thematische Rezension) konstatiert dabei vor allem eine "bezeichnende Verschiebung", weg von nationalen Opferdiskursen. "Die Darstellung der Deutschen dient der Erfindung eines neuen Polen. Ohne die Veränderung des Denkens über fremde Identitäten ist eine Veränderung der polnischen Identität nicht möglich. Die Darstellung des Anderen ist eine Projektion der eigenen Identität. Je weniger Nationalismus im germanischen Porträt, desto schwieriger ist es, nationale Kategorien für Polen und die Polen aufrecht zu erhalten". Gerade in der Figur des Vertriebenen/ Neuankömmlings habe eine neue Beschreibung von menschlichen Schicksalen jenseits nationaler Stereotypen einen Ausdruck gefunden. Diese Loslösung von ethnischen Zuschreibungen mache erst den Weg frei für eine neue Definition der polnischen Identität. "Wir brauchen Deutschland als Herausforderung für eine neue Art, Geschichte zu schreiben", konstatiert Czaplinski.

London Review of Books (UK), 07.01.2010

In Großbritannien erscheint die englische Übersetzung von Orhan Pamuks jüngstem Roman "Das Museum der Unschuld" (hier die Stimmen zur sehr viel früher erschienenen deutschen Übersetzung). Adam Shatz nimmt das zum Anlass für ein Review-typisches Großporträt von Autor und Gesamtwerk. Obwohl Shatz nur an der Instrumentalisierung des Dichters für weltanschauliche Toleranz-Zwecke ausdrücklich Kritik übt, bleibt eine gewisse Distanz zu Pamuk doch durchweg unübersehbar. Auch in dieser Passage zu Pamuks Herkunft: "In der Türkei hat man Pamuk auch seinen Oberschicht-Hintergrund zum Vorwurf gemacht, wo er als jemand betrachtet wird, der 'nicht genug geschwitzt' hat. Pamuk ist in einem wohlhabenden Viertel in Istanbul aufgewachsen, hat eine amerikanische Elite-Privatschule besucht und ist der erste türkische Romancier, der nie einen Brotjob ausüben musste. Aber der Reichtum seiner Familie hat möglicherweise dem Image des Sprösslings im Ausland geholfen, dank des Alte-Welt-Stammbaums: die Pamuks haben ein Vermögen mit dem Eisenbahnbau in den letzten Tagen des Ottomanischen Reiches gemacht und das meiste davon durch schlechte Investitionen nach dessen Zusammenbruch wieder verloren; das verbliebene Geld hat eine Aura verblassten Glanzes, ganz wie die Stadt, die der Gegenstand seines Erinnerungsbuch und der Schauplatz der meisten seiner Romane ist."

Weitere Artikel: Steven Shapin resümiert das Darwin-Jahr und rückt dabei ein paar Dinge zurecht. Anne Enright porträtiert Irland in der Rezession. John Lanchester erweist sich in seinem Kommentar zum Verkauf der britischen Schoko-Legende Cadbury als intimer Kenner der Schokoriegel-Szene.

Nepszabadsag (Ungarn), 24.12.2009

Ist Ungarn in einer moralischen Krise?, fragen Peter Nagy N. und Akos Toth den Schriftsteller Peter Nadas. Seine Antwort: "Ein Land ist nicht in einer moralischen Krise, das können nur Personen sein. Die Moral ist dem Einzelnen überlassen, eine kollektivistische Ausweitung des Moralbegriffs kann ich nicht akzeptieren. Jeder ist für die eigene Moral verantwortlich. [...] Wir erleben gerade eine dauerhafte politische Krise. Damit müssen wir leben, weil es unsere eigene Krise ist. Mit ihrer Auflösung können wir nur rechnen, wenn eine bedeutende, wohlhabende Schicht entsteht, deren Leben sich stabilisiert und die der Gesellschaft im Interesse ihres eigenen Wohlergehens nichts mehr wegnimmt, sondern zum Geben gezwungen wird: die Wissen und Arbeit geben muss. Von da an wird diese Schicht nicht mehr auf die Destabilisierung der Gesellschaft spekulieren, wie sie es jetzt tut."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Nadas, Peter

Prospect (UK), 01.01.2010

Brian Semple hat Cristian Mungius jüngsten Film "Geschichten aus dem Goldenen Zeitalter" gesehen, den Nachfolger des gefeierten Dramas "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage". Es ist eine Komödie über den Kommunismus. Mungiu erklärt, warum: "Die ersten rumänischen Filme über den Kommunismus, die direkt nach dem Fall der Berliner Mauer gemacht wurden, waren sehr schlecht - die Figuren nichts weiter als Sprachrohre für die Ansichten ihrer Regisseure. Heute machen wir Filme über diese Epoche mit sehr viel weniger Zorn. Der Humor hat den Rumänen geholfen, diese Zeit zu überstehen, also ist Humor, haben wir gedacht, auch eine mögliche Art, darauf zurückzublicken.' Aber auch heute noch gibt es eine Menge Rumänen, fügt er hinzu, die ganz und gar nicht damit einverstanden sind, dass jemand eine Komödie über den Kommunismus dreht."

Tom Chatfield erklärt den Reiz, den vergleichsweise unaufwendig zu realisierende Social-Network-Spiele haben - nicht nur für den Nutzer, sondern auch und gerade für die Produzenten: "Dieses Modell, das seine Einnahmen über Kleinstbeträge generiert, hat ein ganz klares Erfolgsgeheimnis: Daten - und zwar Daten von einer Art, die so kein anderes Online-Geschäft zugänglich macht. Die größten Online-Spiele-Firmen zeichnen heute mehr als eine Milliarde data points pro Tag auf und messen alles. Etwa ob blaue oder rote Gegenstände bessere Verkäufe erzielen oder ob eine bestimmte Formulierung zu größeren Klickraten bei Verkaufsangeboten führt. Sie können auch sehen, wann die Mehrzahl der Spieler aufgibt und dann verschiedene subtile Variationen dieses genauen Zeitpunkts im Spiel für verschiedene Segemente des Publikums produzieren."
Archiv: Prospect

Nouvel Observateur (Frankreich), 24.12.2009

In einem sehr offenen Interview spricht Francis Ford Coppola über seinen neuen Film "Tetro", die besondere Dynamik von Familie, sein filmisches Werk und die Zukunft des Kinos, das er keineswegs am Ende sieht: "Eine DVD hat für mich keinerlei Wert (wie die illegalen Downloads zeigen). Sie ist lediglich ein zirkulierendes Objekt. DVDs sollten kostenlos sein, weil sie nichts weiter sind als maschinell reproduzierte Objekte, Massenprodukte ohne inneren Wert, im Gegensatz zur Aufführung in einem Theater, die immer einzigartig ist. Frühere Komponisten wie zum Beispiel Mendelssohn haben die Urheberrechte an ihren Partituren nicht angerührt. Der einzige Weg für sie, ihre Musik zu leben, bestand darin, mit einem Orchester auf Tournee zu gehen und ihre Werke selbst zu dirigieren. Wenn man all diese Elemente berücksichtigt, versteht man, wo die Zukunft des Kinos liegt."

New Yorker (USA), 04.01.2010

Nick Paumgarten porträtiert John Mackey, Gründer und Chef von Whole Foods, der größten Biomarkt-Kette der Welt. Mackey selbst sieht sich als "Vater" dieses Unternehmens, seine 54.000 (!) Angestellten halten ihn dagegen eher für den "verrückten Onkel", und nicht wenige Konsumenten argwöhnen, gerade Größe und Erfolg der Kette seien der Beweis, dass Whole Foods "auf die dunkle Seite übergelaufen" sei. "Je nach dem, an welcher Stelle in der Palette der Feinschmeckerkultur man steht, wird man Whole Foods für einen redlichen Lebensmittelhändler oder einen zynischen Betrüger halten, für einen Anstoß zur Selbstverbesserung oder ein Tor zur Dekadenz, für einen Segen oder tödlich fürs Viertel, für eine nützliche gesellschaftliche Kraft oder einen Ort, an dem man Tussen aufgabelt ... Whole Foods deckt zwar nur ein Prozent des amerikanischen Lebensmittelhandels ab, hat aber die Produktions-, Kauf- und Essgewohnheiten in Amerika zweifellos verändert. Sein Name, berechtigt oder nicht, ist die Kurzform einer Ernährungsrevolution." (Aktualisierung vom 31.12.2009: Gawker meldet gerade, dass Mackey offenbar auf Druck der Gewerkschaft als chairman von Whole Foods zurückgetreten ist, der Firma aber als CEO erhalten bleibt.)

Alex Ross bespricht das Theaterstück "One Evening", das Schuberts "Winterreise" mit Samuel Becketts besonderer Bewunderung für diesen Liederzyklus kurzschließt. "Nichts für Schubert-Puristen ... Letzten Endes lag der Fokus von 'One Evening' weniger auf Schubert als auf Beckett, und die Inszenierung funktionierte am besten als eine schräge Dramatisierung jener Anlässe, bei denen der Schriftsteller die 'Winterreise' isoliert [in sein Werk] übernahm."

Außerdem: Anthony Lane bespricht die Biografie "High Society: The Life of Grace Kelly" von Donald Spoto. David Denby sah im Kino James Camerons Science-Fiction-Spektakel "Avatar" und Guy Ritchies Krimi "Sherlock Holmes". Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Baptizing the Gun" von Uwem Akpan und Lyrik von Donald Hall und Rachel Hadas.
Archiv: New Yorker

Eurozine (Österreich), 28.12.2009

Almantas Samalavicius verschafft uns einen Überblick über Litauens Literaturszene, die zwanzig Jahre nach der Unabhängigkeit zwar ganz schön marginalisiert ist, aber dennoch einige sehr kraftvolle Stimmen aufbietet: Zum Beispiel Herkus Kuncius. "Sein 'Pijoko chrestomatija' (Anthology of a drunkard) ist ein witziger, subtiler, manchmal sarkastischer Roman; die bruchstückhaften Episoden seines postmodernen Plots werden zusammengehalten durch die Lust seiner Charaktere auf Alkohol. Der Protagonist, ein junger postsowjetischer Konzeptkünstler, reist durch Europa und verbringt seine Zeit in Künstlerkreisen, deren Mitglieder sein Interesse am Zechen teilen. Indem er die Haupthandlung mit anekdotischen Geschichten aus der sowjetischen und präsowjetischen Ära verbindet, erörtert der Autor die Besonderheiten der Trinkkultur unter den kommunistischen Regimes und vergleicht sie mit den Gewohnheiten der heutigen Künstler in Ost und West. Die Parallelen offenbaren Absurditäten: Früher tranken die Leute aus Hoffnungslosigkeit, Mangel an Sinn oder einfach aus sozialer Gewohnheit unter dem Kommunismus; heute trinken Bohemiens, um eine neue spirituelle Leere zu ertränken, einen Mangel an Sinn in ihrer künstlerischen Arbeit."
Archiv: Eurozine

The Nation (USA), 11.01.2010

Freies Downloaden schön und gut, meint ein eher deprimierter J. Gabriel Boylan, der einige Neuerscheinungen über Anfang und Ende der Popindustrie gelesen hat. Aber verschwindet durch das Internet nicht der Pop selbst? "Es gab eine Zeit, da wurden Popstars gehegt und gepflegt, bis sie groß waren, und die Hitlisten spiegelten den Geschmack einer informierten und demokratischen Hörerschaft wider. Solche Institutionen hatten Vor- und Nachteile, gewiss, aber wie soll ein Popuniversum ohne sie existieren? Wird der Popsong als Genre den Riesenapparat überleben, der ihn hervorbrachte, und kann der Popsong kulturell relevant bleiben, wenn die ehemalige Tempel der Popmusik, wie die gerade geräumten Virgin Megastores, zu Klamottenläden umfunktioniert werden?"

Außerdem: David Yaffes Besprechung der "erschöpfenden, notwendigen und zumindest heute definitiven" Thelonious-Monk-Biografie (Auszug) von Robin D.G. Kelley.
Archiv: The Nation
Stichwörter: Monk, Thelonious, Popmusik

Elet es Irodalom (Ungarn), 18.12.2009

Die bedeutendste literarische Neuerscheinung 2009 ist für den Literaturkritikerer Csaba Karolyi Laszlo Darvasis Roman "Viragzabalok" (Blumenfresser). Karolyi sprach mit dem Autor und fragte ihn, ob und wie er beim Schreiben an den Leser denkt: "Zumindest ein Roman sollte sich nicht um den Leser scheren, er soll nicht über dessen Reaktionen und Erwartungen nachdenken, er soll nicht abwägen, das wäre dem Metier gegenüber unehrlich. Wer glaubt, man können lernen, einen Roman zu schreiben, hat zwar recht, doch hilft ihm das nichts. Nichts. Wer glaubt, einen Roman zu schreiben, könne man erlernen, der glaubt auch, dass er den Leser kennt. Einerseits gibt es aber den Leser nicht. Wenn es ihn andererseits gibt, kennen wir ihn nicht. [...] Ein wirklich gutes Buch ist ein extrem egoistisches Wesen, es interessiert sich nur für sich selbst. Und plötzlich tut es etwas, was nicht erlernt und berechnet werden kann, weil das nicht in der Gebrauchsanweisung enthalten ist. Eine Schöpfung dieser Art ist eine einsame Handlung, und der Roman nährt sich, während er entsteht, von dieser unantastbaren Erfahrung der Einsamkeit."
Stichwörter: Einsamkeit

Times Literary Supplement (UK), 22.12.2009

In höchsten Tönen lobt George Brock Timothy Garton Ashs Essays "Facts are Subversive", die zum Glück alle angeblich professionelle Distanz zu ihrem Gegenstand vermissen ließen: Die Essays über den Islam findet er ganz großartig, aber auch die, in denen Garton Ash "weiter der Frage nachgeht, die er seit dem Zusammenbruch der zentraleuropäischen kommunistischen Regimes 1989 immer wieder gestellt hat: Wie lassen sich politischer Wandel und Gewalt trennen? Die Anhaltspunkte in den Essays sind nicht sehr ermutigend: Garton Ashs frühere Arbeiten über die Revolutionen von 1989 stehen längst auf der Leseliste der Machthaber und Geheimpolizisten in China, Iran und Birma. Die Lektionen wurden verdaut und angewandt."
Stichwörter: Ash, Timothy Garton, Birma

Babelia (Spanien), 26.12.2009

Die fünfzig wichtigsten Literaturkritiker Spaniens haben für Babelia beziehungsweise für das Jahr 2009 entschieden: Kein Roman, sondern - zum ersten Mal - ein Sachbuch ist der wichtigste Titel des Jahres: "Anatomia de un instante" von Javier Cercas (s. a. hier), über den gescheiterten Putschversuch gegen die junge spanische Demokratie vom 23. Februar 1981. Alberto Manguel nimmt stellvertretend für seine Kollegen kein Blatt vor den Mund: "Ein grandioses Thema garantiert noch lange keine ebenso grandiose Darstellung. Im Fall von 'Anatomia de un instante' ist jedoch eines der wichtigsten Werke der spanischsprachigen Literatur unserer Zeit dabei herausgekommen. Das Buch ist in jeder Hinsicht beispielhaft. Cercas ist es gelungen, in einem ruhigen, flüssigen, genauen Stil einen entscheidenden Augenblick der spanischen Geschichte zu erhellen. Man glaubt, eine politische Chronik zu lesen, deren Handlung durch ihre dramatische Kraft bewegt; in Wirklichkeit jedoch werden wir wie bei den großen griechischen Tragödien zu Zeugen einer grandiosen Tat des Widerstands gegen die sich ständig wiederholende Infamie der Geschichte."
Archiv: Babelia
Stichwörter: Cercas, Javier, Putschversuch

New York Times (USA), 27.12.2009

Christopher Caldwell schafft es in seiner Besprechung von Michael Scammells Koestler-Biografie (Auszug), den Mann in einem Absatz ziemlich interessant zu machen: "Als er 1940 durch Südfrankreich jagte, begegnete er dem Philosophen Walter Benjamin, der ihm die Hälfte seiner Morphiumtabletten abgab. Mit der anderen Hälfte brachte sich Benjamin später um. Der Harvard-Drogen-Guru Timothy Leary gab Koestler in den Sechzigern Psilocybin, Margaret Thatcher suchte in ihrem Wahlkampf 1979 um seinen Rat nach. Und Simone de Beauvoir schlief mit ihm, hasste ihn aber später, und beschrieb ihn in einem fiktiven Porträt als Mann von blendender Intelligenz, der es schaffte andere Leute aus dem Gleichgewicht zu bringen."

Außerdem liest Jonathan Dee "Summertime", den dritten Band von Coetzees Autobiografie und stellt sich mit einer seiner Romanfiguren die Frage: "Wie kannst Du so ein großer Autor und zugleich so ein gewöhnlicher kleiner Mann sein"?
Archiv: New York Times