Magazinrundschau

Hübsch hässlich

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
20.03.2012. Der New Yorker betrachtet die jolie laide von Schiaparelli und Prada. In Telerama greift Benjamin Stora nach dem Boomerang Algerien. Fürchtet euch vor chinesischem Geld, ruft Slavenka Drakulic in Eurozine den Venezianern zu. In Atlantic findet Michael J. Sandel nichts mehr, das nicht zu kaufen ist. Jonathan Steel reist für die London Review of Books durch Syrien. In The New Republic stellt Paul Berman ein Buch über liberale muslimische Denker vor. Das TLS liest eine Geschichte der Rhetorik.

New Yorker (USA), 26.03.2012

Judith Thurman stimmt auf eine Retrospektive ein, die zwei bedeutende Modeschöpferinnen präsentiert und einander gegenüberstellt: "Elsa Schiaparelli and Miuccia Prada: Impossible Conversations" heißt die Schau, die im Mai im Costume Institute of the Metropolitan Museum of Art eröffnet. Die Kuratoren werden dabei Schiaparellis Couture und Pradas Pret-a-porter-Modelle sieben Kategorien zuordnen: "Hard Chic", "Ugly Chic", "Naif Chic", "The Classical Body", "The Surreal Body" und "Waist Up/Waist Down". "Pradas nützlicher Begriff 'ugly cool' wird dabei womöglich endlich das Problem lösen, ein englisches Äquivalent für den französischen Ausdruck 'jolie laide' zu finden. Weder der wörtlichen Übersetzung, hübsch/hässlich, noch der Lexikon-Definition, 'eine gutaussehende hässliche Frau', gelingt es, die Meisterleistung der Selbst-Verwandlung zu vermitteln, den er repräsentiert. Der Mut, der Wille und die Inbrunst einer 'jolie laide' lässt einen ihre Einfachheit vergessen. Maria Callas und Amy Winehouse verkörpern beide diesen Typ, und eine der unvergesslichsten 'jolie laides' in Frankreich war Schiaparellis Muse Maria Casares, die große spanische Schauspielerin, die die Rolle des Todes in Cocteaus 'Orphee' spielte."

Weiteres: Als vermutlich beste Inszenierung, die er je in seinem Leben von diesem Stück sehen werde, empfiehlt John Lahr Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" in der Regie von Mike Nichols und mit Philip Seymour Hoffman in der Hauptrolle.
Archiv: New Yorker

Telerama (Frankreich), 15.03.2012

Aus Anlass des vor 50 Jahren beendeten algerischen Unabhängigkeitskrieges sind die französischen Medien derzeit voll mit Beiträgen zu diesem Thema. In einem Interview erklärt der französische Historiker Benjamin Stora, die Ereignisse vom Mai 1968 hätten dazu beigetragen, eine offene politische Auseinandersetzung mit diesem Kapitel in Frankreich zu verhindern. "Diese anarchistische Bewegung, hat, indem sie den Staat infrage stellte, all die großen Fragen, die aus dem Algerienkrieg entstanden sind, überlagert und unter den Teppich gekehrt. Erst in den 1980er Jahren sind mit der wachsenden Stärke der Einwandererbewegungen, dem Rassismus und dem Front National, die mit dem Krieg verbundenen Erinnerungen wieder hochgekommen. Die wahre Wende ereignete sich jedoch 1992 mit Beginn des Bürgerkriegs in Algerien." Dieser Krieg hat die Algerier traumatisiert und auch in Frankreich den Blick auf den Befreiungskrieg bis 1962 erneuert, so Stora: "Man dachte, dass diese Seite der Geschichte umgeblättert sei, dass Algerien aus der französischen Vorstellungswelt verschwindet, und da kommt es zurück wie ein Boomerang, aufgeladen durch einen neuen Parameter: den politischen Islamismus."
Archiv: Telerama

The Atlantic (USA), 01.04.2012

Der australische Philosoph Patrick Stokes spricht im Interview darüber, wie sich durch das Internet unser Umgang mit Tod und Trauer verändert hat und macht dabei auch folgende Beobachtung: "Offline schaffen wir spezielle, abgegrenzte Orte, an denen wir tote Menschen begraben, auf Facebook sind sie nicht abgegrenzt, sie existieren weiter Seite an Seite neben den Profilen der Lebenden. Wir haben es hier also nicht mit einem online-Friedhof zu tun, die Toten bleiben unter uns."

Kann gut sein, dass Ronald Reagan und Margeret Thatcher gesiegt haben, meint Michael J. Sandel, der auflistet, was inzwischen alles für Geld zu haben ist: Ein Upgrade der Gefängniszelle für 90 Dollar die Nacht, eine indische Leihmutter für 8.000 Dollar, die Handynummer eines Arztes für 1500 Dollar im Jahr. Oder besonders schlau: "Das Recht, ein vom Aussterben bedrohtes Spitzmaulnashorn zu erschießen für 250.000 Dollar. Südafrika lässt Farmer eine begrenzte Anzahl solcher Lizenzen an Jäger verkaufen, um den Farmer einen Anreiz zu geben die gefährdete Spezies aufzuziehen und zu schützen."

Außerdem: Joseph O'Neill liest Philip Roth.
Archiv: The Atlantic

Eurozine (Österreich), 15.03.2012

Europäer fürchten Emigranten, aber nicht ausländisches - zum Beispiel chinesisches - Geld, konstatiert Slavenka Drakulic nach einer Reise durch Italien, wo sie feststellte, dass Immigranten die Kultur des Landes bereichern, während Geld eine Kulturstadt wie Venedig aushöhlt, weil die Chinesen die letzten normalen Ladengeschäfte aufkaufen, um dort dann in Chinas gefälschtes Murano-Glas zu verkaufen: "Während die Europäer darüber nachdenken, wie sie eine Mauer um den Kontinent ziehen können (wenn sie nur wüssten, wo seine Grenzen sind!) um die europäische Kultur zu retten, (...) investieren die Chinesen in aller Freiheit in venezianische Paläste, um sie in Hotels umzuwandeln und machen so noch mehr Geld mit europäischen Kulturschätzen."
Archiv: Eurozine

New Republic (USA), 14.03.2012

Warum ist es liberalen muslimischen Denkern wie Abdurrahman Wahid, dem 2009 verstorbenen ehemaligen Präsidenten Indonesiens, dem 2010 verstorbenen, aus Ägypten vertriebenen Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid, und dem Islamwissenschaftler Abdullah Saeed, von den Malediven nach Australien geflohen, nicht gelungen, die extremen Ideologien der Islamisten zu untergraben? Eine Antwort auf diese Frage suchen Paul Marshall und Nina Shea in ihrem Buch "Silenced: How Apostasy and Blasphemy Codes Are Choking Freedom Worldwide", so Paul Berman, der dem Buch eine lange Besprechung widmet: "Die gelehrten muslimischen Autoren, die Beiträge für dieses Buch geschrieben haben, erklären von ihrem nicht-radikalen Standpunkt aus, dass die Scharia eher als flexibler Weckruf für eine nachdenklich fromme Moral verstanden werden sollte denn als rigides Strafgesetz. Auch Blasphemie und Apostasie lösen bei den nicht-radikalen Gelehrten kein Entsetzen aus. Es gibt nicht einmal einen Konsens darüber, wie genau Blasphemie und Apostasie zu definieren sind. Statt dessen gibt es eine Debatte. Aber diese Debatte läuft nun einmal wie sie läuft. Die liberalen Gegenargumente werden niedergetrampelt. Die Grenzen dessen, was zu denken erlaubt ist, werden immer enger. Und der Erfolg der Radikalen verdankt sich maßgeblich einem großen und nachweisbaren Faktor, den Marshall und Shea sich bemühen zu dokumentieren: systematische Einschüchterung."
Archiv: New Republic

Lettre International (Deutschland), 20.03.2012

Heinz A. Richter wirft einem Großteil der europäischen Politik und der Medien vor, sich falsche Vorstellungen von der griechischen Kultur und dem griechischen Staatsverständnis zu machen. Das Land habe sich in den vierhundert Jahren osmanischer Herrschaft vollkommen anders entwickelt, als die meisten Länder in Westeuropa. Sie habe dazu geführt, "dass die Griechen den Staat im wesentlichen als Ausbeuter erlebten. Während in Westeuropa ein selbstbewusstes Bürgertum entstand, welches den Staat als das eigene Staatswesen, als die eigene bürgerliche Republik empfand, war der Staat für die Griechen gleichbedeutend mit Fremdherrschaft, gegen die es sich zu wehren galt und die man hasste. Steuervermeidung und Diebstahl von staatlichem Eigentum waren typische Abwehrreaktionen. Diese Einstellung zum Staat wurde zu einer Tradition, die bis heute fortwirkt." (Hier ein Auszug)

London Review of Books (UK), 22.03.2012

Jonathan Steele hat Syrien bereist und holt zahlreiche Stimmungsbilder aus den umkämpften Regionen ein. Unter anderem begegnet er auch einem Arzt, der seinen Glauben an die Proteste verloren hat: "Dem Regime gegenüber lange Zeit selber kritisch eingestellt, bezeichnet er sich heute als neutral. Er sagt, er habe seinen Glauben an die Behauptungen der Oppostion verloren, als ihm Freunde, die an Demonstrationen in Deraa und Horns teilgenommen hatten, davon berichteten, dass die Protestierenden auch schon lange bevor sich die Freie Syrische Armee einschaltete Gewehre benutzt haben. Er sagt, dass sie manchmal aus Versehen Zivilisten erschossen und es später vertuschten. 'Das heißt nicht, dass die Gewalt, die vom Regime ausgeht, nicht enorm sei', sagt er, 'Wir haben gesehen, wie sie Leute auf offener Straße schlugen und folterten. Aber ich glaubte an die Friedlichkeit und Aufrichtigkeit der Bewegung und für mich war das ein Schock.' Die kürzlichen Ermordungen von Oppositionskritikern erfüllen ihn mit Sorge. Auf Facebook findet sich eine schwarze Liste so genannter awayni ('Kollaborateure'). An der Spitze befand sich Ahmad Sadiq, Imam einer Moschee in Damaskus. Am 16. Februar wurde er erschossen, während er sein Auto auslud." Auch ansonsten trifft Steele auf viel Pessimismus und Melancholie: An einen raschen Umsturz glaubt in Syrien offenbar kaum einer mehr.

Weiteres: John Markakis rollt die zentralen Ereignisse der griechischen Katastrophe auf und sieht fernerhin Griechenland endgültig in einer post-souveränen Phase angekommen. Michael Wood liest die Korrespondenz zwischen Proust und seiner Mutter im Hinblick auf Prousts literarische Werke. Und T.J. Clark besucht die beiden Londoner Ausstellungen "Picasso and Modern British Art" in der Tate Britain sowie "Mondrian Nicholson: In Parallel" in der Courtauld Gallery.

Elet es Irodalom (Ungarn), 16.03.2012

Die politische Bildung, die Erziehung zur Demokratie ist in den westlichen Demokratien selbstverständlich ist, in Ungarn hat sie dagegen keine Tradition, nicht mal bei den Liberalen, schreibt der Politologe Ervin Csizmadia. Dabei wäre dies wünschenswert, da die erfolgreichen Demokratien ihren Erfolg gerade jener von unten organisierten Staatsbürgerkultur verdankten, die sie die demokratischen Werte und Mechanismen immer wieder aufs neue erlernen lässt: "Die Antwort auf die Frage, ob die ungarische Gesellschaft zur Demokratie erzogen werden kann, lautet: Schön wäre es. Die Steifheit und Unflexibilität der politischen Tradition in Ungarn hat es jedoch bislang nicht möglich gemacht, das Thema überhaupt in den Kanon des Demokratiediskurses aufzunehmen, weshalb die Öffentlichkeit sich ganz und gar nicht im Klaren darüber ist, wie bedeutend diese Frage ist. Man kann es nicht oft genug betonen: Die politische Bildung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen der liberalen Demokratie."
Stichwörter: Kanon

Times Literary Supplement (UK), 16.03.2012

Stanley Wells folgt mit Vergnügen den Windungen, die Sam Leiths Geschichte der Rhetorik "You talkin' to me?" nimmt: "'Hunderte von Jahren', so Leith, 'stand Rhetorik im Zentrum der westlichen Erziehung, doch jetzt ist sie als Studienobjekt praktisch verschwunden - aufgeteilt wie das Nachkriegs-Berlin zwischen Linguistik, Psychologie und literarischer Kritik. Sogar in Universitäten wird sie als kurioses und eher zimperliches Minderheiteninteresse betrachtet.' Leiths Buch tut einiges dafür, die Balance wieder herzustellen, indem es die Geschichte der rhetorischen Erziehung und Praxis durch die Jahrhunderte verfolgt und dabei die Techniken ihrer größten Meister untersucht - von Satan, 'dem silberzüngigen Teufel' (wie er von Milton und, weniger vorhersehbar, Peter Cook und Dudley Moore in dem 1967 gedrehten Film 'Bedazzled' gezeigt wurde) über Cicero, Lincoln, Hitler, Churchill, Martin Luther King bis hin zu Obama."

Prospect (UK), 22.02.2012

Leo Benedictus macht eine neue, starke Strömung in der englischsprachigen Gegenwartsliteratur aus: Handwerklich souverän gefertigte Romane, deren Ich-Erzähler sprachlich gehandicapt sind, wie etwa in Mark Haddons Roman "Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone": Diese literarische Form bildet ihm zufolge "das Genre, das unsere Zeit definiert. ... Deren Erzähler sind auffällig machtlos, oft Kinder oder eingeschränkte Menschen; für gewöhnlich ist deren Prosa voller Fehler (oder was der Leser bis dahin für solche hielt). Sie sind, kurz gesagt, die unwahrscheinlichsten Autoren der Welt. ... Indem sich diese Romane das Leben innerhalb eines fremdartigsten Verstandes ausmalen, beuten sie das Potenzial der Literatur zum psychischen Tourismus - deren 'Killer-App' - auf gründlichere Weise aus als jede andere Art des Schreibens. Dies könnte ihren Erfolg auf Kosten anderer Formen erklären. Womöglich muss sich der Roman, als Nebenbuhler im Kampf um die öffentliche Aufmerksamkeit neben Fernsehen, Smartphones und dergleichen positioniert, genau auf das konzentrieren, was andere Medien nicht vermögen."

Außerdem: Dj Taylor porträtiert den Autor und Literaturkritiker Peter Ackroyd.
Archiv: Prospect