Magazinrundschau

Lieber Zuversicht

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
28.06.2016. 2005 gehörte Europa noch die Zukunft. In The Atlantic überlegt Mark Leonard, was seitdem schief gegangen ist. Europafeindlichkeit ist keine Kapitalismuskritik, im Gegenteil, meint Gáspár Miklós Tamás in HVG. In Open Democracy sieht das der Politologe Alan Finlayson ähnlich. Der Guardian erinnert sich an selige Zeiten, als die Tories noch europhil waren. Der New Yorker betrachtet Nan Goldins Universum der Sexualität.

The Atlantic (USA), 01.08.2016

2005 veröffentlichte Mark Leonard ein Buch mit dem Titel "Warum Europa die Zukunft gehört" (dt. 2007). Jetzt sieht es eher so aus, als würde Europa in den Abgrund taumeln. Was hat sich in dieser kurzen Zeit so verändert? 2005, erklärt er im Interview, hatte die stolze zehn Länder hinzugewonnen, und andere, wie die Ukraine oder Georgien lehnten sich, von Europa inspiriert, gegen ihre autokratischen Herrscher auf. Und die EU als Organisationsform - Staaten arbeiten zusammen und geben einen Teil ihrer Souveränität fürs Ganze ab - wurde weltweit kopiert: Welthandelsorganisation, Kyoto-Protokoll, Internationaler Strafgerichtshof entstanden nach ihrem Vorbild. Auch in Afrika, Asien und Lateinamerika schlossen sich Staaten zu supranationalen Organisationen zusammen: "Alles zusammengenommen schien es so, als würde Europa die Welt nach seinem Bild neu gestalten und seine Werte exportieren. Es ist eins der beunruhigsten Dinge in der Welt 2016, dass die meisten Europäer das Gefühl haben, die Welt um sie herum versinke im Chaos und das es heute die Welt ist, die sie formt - zum Beispiel durch das Fehlschlagen des arabischen Frühlings, das dazu geführt hat, dass Europas Nachbarn nicht Demokratie und europäische Werte importieren, sondern Flüchtlinge und Chaos exportieren."

Wie konnten die Brexit-Gegner nur so versagen, fragt Yoni Appelbaum. Warum haben sie die andere Seite als bigott verunglimpft und die Mitgliedschaft in der EU als alternativlos hingestellt? Statt Angst, meint er - auch mit Blick auf Hillary Clinton -, hätten sie lieber Zuversicht verbreiten sollen: "Sie waren unfähig, die Vision einer besseren, helleren Zukunft zu entwerfen. Sie waren unfähig überzeugend aufzulisten, wieviel die Briten gewonnen hatten. Sie waren unfähig, die wirklichen Sorgen ihrer Wähler anzusprechen und anzuerkennen, dass die Interessen unterschiedlicher Wähler manchmal unterschiedlich sind. Sie sahen auf diejenigen, die die Fehler im globalen System aufzeigten - von Bernie Sanders zu Nigel Farage - und sahen nur Ideologen, die haarsträubende Versprechungen machten."

Donald Trump war mal Demokrat, dann Republikaner, dann wieder Demokrat usw. Bernie Sanders war immer ein Unabhängiger und hat sich erst vor wenigen Monaten den Demokraten angeschlossen. Seitdem wachsen die Unabhängigen unter seinen Anhängern, während es immer weniger Demokraten werden. Ted Cruz hat den republikanischen Führer des Senats verunglimpft und gegen das republikanische Establishment gehetzt. Sind denn alle verrückt geworden, fragt Jonathan Strauch im Aufmacher des neuen Hefts: "Auf ihre ganz unterschiedliche Weise demonstrieren Trump, Cruz und Sanders ein neues Prinzip: Die politischen Parteien haben keine klaren Begrenzungen mehr oder durchsetzbare Regeln. Die Folge ist, dass sich abtrünniges politisches Verhalten auszahlt."
Archiv: The Atlantic

Qantara (Deutschland), 27.06.2016

Die Mehrheit der muslimischen Briten oder solcher, mit asiatischem Hintergrund, hat gegen den Brexit gestimmt. Aber immerhin ein Drittel war dafür, berichtet Thomas Bärthlein. Und sie sind ziemlich sauer, wenn sie jetzt als Rassisten beschimpft werden: "Wenn Britisch-Pakistaner oder -Bangladeschis für den Brexit sind, weil sie sich von neuen Immigranten aus Polen oder Rumänien bedroht fühlen, kann man sie dann Rassisten nennen? Jill Rutter von British Future findet ihre Besorgnisse legitim und sagt, Politiker müssten sie ernst nehmen. Die Brexit-Kampagne habe 'einige Spannungen sichtbar gemacht und auch, dass wir nicht wirklich über die Zuwanderungs-Ängste von Minderheiten, die schon länger hier leben, gesprochen haben.'"
Archiv: Qantara

HVG (Ungarn), 23.06.2016

Der Philosoph Gáspár Miklós Tamás kritisiert kurz vor dem britischen Brexit-Referendum die gegenwärtigen Statuten der EU, plädiert allerdings nicht für Austritt, sondern für eine vertiefte Integration: "Freilich gibt es Argumente für und gegen die heutige EU - und es ist richtig, dass das Aufrechterhalten der EU in ihrer heutigen Form eher den Interessen des Großbürgertums der Kernstaaten und der Londoner City entspricht. Bis zur etwaigen Aufstellung einer verantwortlichen europäischen Regierung, die eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik erarbeitet, welche von den europäischen Völkern (inklusive der ost- und südeuropäischen Völker) durch ein wahres europäisches Parlament beeinflusst werden kann, wird sich die Situation nicht ändern. (...) Europafeindlichkeit ist keineswegs Antikapitalismus, sondern das Einfordern des Rechts auf einen antisozialen Staat (sowohl in Mittel-Ost-Europa, als auch in "Little England")."
Archiv: HVG

Open Democracy (UK), 26.06.2016

Wer genau hat denn nun für den Brexit gestimmt? Der Politologe Alan Finlayson macht vier große Bevölkerungsgruppen aus, die aus unterschiedlichen ökonomischen und kulturellen Gründe dafür gestimmt haben. Und ganz am Schluss nennt er noch eine fünfte Gruppe, zu der auch die Kampagnenbetreiber Johnson und Gove gehören: Sie finden die EU zu schwerfällig, zu langsam, zu kontrollsüchtig. Und sie wollten die "sentimentale Linke, die statische EU und die traditionelle Konservative Partei" ausschalten: "Sie sind überzeugt, dass Reisefreiheit von ökonomischer Nachfrage abhängen muss und nicht von den altmodischen Rechten, die es EU-Bürgern erlaubt, sich überall in der EU niederzulassen. Sie wollen die Menschen auswählen - vielleicht nach einem punktebasierten System - die der Wirtschaft am meisten nützen: Superstars der Zukunft - unbehindert von 'rückwärtigen' kulturellen Traditionen und fähig, neue Wirtschaftszweige zu erfinden und voranzutreiben. Billige Arbeitskräfte, die keiner EU-Regulierung unterliegen, können dann auf Baustellen arbeiten und anschließend nach Hause geschickt werden."
Archiv: Open Democracy

Guardian (UK), 27.06.2016

Die Mythen der nationalen Identität der Engländer und ihre Europhobie! Geoffrey Wheatcroft nimmt sie in einem Essay gründlich auseinander und erinnert nebenbei daran, dass in den Anfangstagen der europäischen Vereinigung "die Tories kosmopolitischer und europhiler waren als Labour. Einer von Churchills ehemaligen Gefolgsleuten, Robert Boothby, war ein enthusiastischer Anhänger der Bewegung für ein vereinigtes Europa und wurde 1949 Delegierter im Europarat. Die Europäische Menschenrechtserklärung von 1950, die europhobe Tories so wütend macht, seit sie durch den Human Rights Act von 1998 zum britischen Gesetz wurde, war maßgeblich von englischen Juristen entworfen worden - und Konservativen, vor allem David Maxwell Fyfe, der spätere Innenminister und Justizminister. Als die Briten verspätet ihre hochmütige Verachtung des Europäischen Projekts bereuten und den Beitritt beantragten, geschah dies unter Harold Macmillans Tory-Regierung."

Außerdem: Jordan Kisner porträtiert den schwedischen Starkoch Magnus Nilsson. Tom Vanderbilt erkundet die Ursprünge unseres Geschmacks.
Archiv: Guardian

Respekt (Tschechien), 26.06.2016

Überall rumort es. Der Publizist Martin M. Šimečka spürt eine schleichende Revolution heraufziehen, der das Internet eine Stimme gibt: "Diese Revolution betrifft den Wandel selbst zwischen großer und kleiner Geschichte, indem sich die schweigende und passive Mehrheit in eine laute und aktive Masse verwandelt. Man sehe sich jene armseligen Eliten an, denen man Entfremdung vorwirft: wie sie zittern vor jener Masse, die immer lauter schreit, dass die Eliten sie nicht hören würden. ... Facebook hat dieser Menge die Fesseln abgerissen, ihr das öffentliche Sprechen ermöglicht und damit die jahrhundertelang unterdrückte Sehnsucht aus der Flasche gelassen, gehört zu werden. Doch wenn man erst einmal eine Stimme erhalten hat, will man nicht nur gehört, sondern auch angehört werden - und jeder individuell. Das aber ist nicht möglich, da es Millionen solcher Stimmen gibt, und jede ist unterschiedlich. Daher die Erregung jener 'einsamen Masse' (David Riesman): Endlich dürfen wir öffentlich sagen, was wir denken und wollen, und die (die Eliten) pfeifen auf uns!"
Archiv: Respekt

La vie des idees (Frankreich), 23.06.2016

Die beiden Forscher Thierry Chopin und Jean-François Jamet vermuteten in einem Essay, den sie bereits vor dem Brexit publizierten und den La Vie des idées jetzt online stellt, dass Britannien im Fall eines Brexit eine "norwegische Lösung" suchen würde, das heißt sie partizipieren im Rahmen des Europäischen Wirtschaftsraums am gemeinsamen Markt und würden hierfür auch in die EU einzahlen. Freizügigkeit bliebe erhalten, wäre aber je nach Lage modifzierbar. "Dieses Arrangement wäre allerdings für die anderen Länder der Union potenziell destabilisierend, weil andere Mitgliedsländer es reizvoll finden könnten ..." Andererseits könnte "ein solches Arrangement eine Alternative für Beitrittskandidaten schaffen, die dann zunächst für den Eintritt in den Europäischen Wirtschaftsraum statt gleich in die Union kandidieren könnten."
Stichwörter: Brexit, Freizügigkeit

New Statesman (UK), 22.06.2016

Laurie Penny sitzt der Schock über den Ausgang des Brexit-Referendums noch voll in den Knochen. Was für ein furchtbares Missverständnis, stöhnt sie: "Das war eine Revolte der Arbeiterklasse, aber es ist kein Sieg der Arbeiterklasse. Das ist die Tragödie. Der kollektive Aufschrei der depressiven, deindustrialisierten Teile des Landes, die von Thatcher, Blair und Cameron rücksichtslos ausgeblutet wurden, hat sich in einen Triumph für neue Eliten verwandelt. Wieder eine Bankenkrise, wieder alte Eton-Schüler an der Macht - das sind unsere Aussichten, während die Schotten überlegen, wann sie die Reißleine ziehen, und die Union zersplittert und wir alle begreifen, dass wir mit Michel Gove auf einem glitschigen Felsen hängenbleiben. Für immer."
Archiv: New Statesman

Elet es Irodalom (Ungarn), 23.06.2016

Der Schriftsteller Krisztián Grecsó kommentiert die euphorischen, aber auch weniger erfreulichen Reaktionen auf die Erfolge der ungarischen Nationalmannschaft bei den Fußball-Europameisterschaften in Frankreich. "Hier wurden Selbstvertrauen, Befreiung, Heimatliebe und Schmerz zu einem wunderbaren Teig geknetet, die Illusion der Jugend für einen dramaturgischen Rahmen genutzt. Er erzählt von Menschen, die zusammengehören, Opfer erbringen, einander Aufmerksamkeit schenken, denn für sie existiert so etwas wie ein Bündnis, Verantwortung und Einheit. Fußball ist das verlorene Paradies, wo wir nicht alleine sind, aber Fußball ist auch die Erbitterung des Vaters, der bereits das Scheitern erkennt. (...) Die Ultras, die Hooligans erinnern uns sofort daran, wie viel Elend, Torheit, grobe Einfältigkeit und Hass bei uns entfesselt wurden. Es ist schwer daran zu denken, dass wir nichts mit ihnen zu tun haben, nicht Nachbarn, Lehrer und Kollegen dieser Menschen waren."

New Yorker (USA), 04.07.2016

In der neuen Ausgabe des Magazins erinnert sich Hilton Als, wie Nan Goldins Fotoreihe "Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit" die 80er einfing: "In den 127 Bildern werden wir Zeuge des Beziehungslebens zwischen Männer und Frauen, Männern und Männern, Frauen und Frauen, Frauen mit sich selbst, in Schlafzimmern, Bars, Pensionen, Bordellen, Autos, auf Stränden, in Provincetown, Boston, New York, Berlin und Mexiko, den Orten, an denen Goldin, die ihr Zuhause mit 14 verließ, lebte und wo sie ihr Leben und das ihrer Freunde dokumentierte. Die Bilder sind keine Erkundung der Welt in Schwarz-weiß oder kunstvoll komponiert. Goldin interessieren die zufälligen Gesten und Farben im Universum der Sexualität, der Träume, der Sehnsüchte und des Zerfalls: das elektrische Rot und Pink, das tiefe Schwarz und Blau, die allesamt so wesentlich sind für den operhaften Schwung der 'Ballade'."

Außerdem: George Packer porträtiert den unbestechlichen Anthropologen und afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani als "Jimmy Carter Aghanistans". Jill Lepore wagt sich ins Tollhaus amerikanischer Nominierungsversammlungen. Rebecca Mead gratuliert dem Auktionshaus Christie's zum 250. Firmenjubiläum. Und eine Kurzgeschichte von T. C. Boyle!
Archiv: New Yorker