Magazinrundschau

Eine Frage der Kaste

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
04.05.2021. Himal staunt, wie sehr die Bauernproteste die klassen- und kastenbezogenen Gegensätze in Indien im Kleinen widerspiegeln. Die London Review erklärt, warum gerade linke arabische Intellektuelle zu den schärfsten Kritikern von Edward Said gehörten. Quillette erklärt, warum James Baldwin mit seiner Ablehnung des Protestromans richtig lag, auch wenn er seine Haltung später änderte. A2larm porträtiert den Roma-Rapper Gipsy.cz, der in seiner Autobiografie am Mythos vom familiären Zusammenhalt in Romafamilien kratzt. Der New Yorker benennt das Haupthindernis für die Unabhängigkeit Schottlands.

Himal (Nepal), 28.04.2021

Das Magazin bringt einen Artikel von Aditya Bahl, in dem es um die inneren Gegensätze der Bauernproteste in Indien geht: "Derzeit blockieren mehr als eine halbe Million Bauern und Argrararbeiter die Autobahnen rund um Neu Delhi. Sie protestieren gegen die Pläne der Regierung, Agrarkonzerne den landwirtschaftlichen Sektor übernehmen zu lassen. Währen der letzten vier Monate sind so aus Traktoren und Anhängern politische Kommunen auf Rädern entstanden. Sie sind bis zu 15 Kilometer lang, beherbergen Bibliotheken, Gemeinschaftsküchen, improvisierte Schulen, Freiluftkinos und Bühnen für politische Reden und kulturelle Darbietungen. Auch wenn die nationalen Medien sie als Analphabeten oder Terroristen beschimpfen, propagieren die Protestierenden ihre improvisierte Kommune als alternative Volksrepublik, die für einen gleichberechtigten Zugang zu menschlichen Grundbedürfnissen eintritt. Diese Modell-Republik hat allerdings ihre eigenen Probleme. Genau wie die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, kämpft die Bewegung mit klassen- und kastenbezogenen Gegensätzen, die vielleicht am besten im Slogan 'Keine Bauern, kein Essen' zutage treten … Zunächst gibt es keine Bauern an sich, die indische Bauernschaft ist entlang Klassen- und Kastengrenzen gespalten. Abgesehen von den Gegensätzen, die Kleinbauern und Großbauern trennen, existiert auch ein starker politischer Gegensatz zwischen Bauern und Landarbeitern. Angesichts des Umstands, dass 56 Prozent der indischen Landbevölkerung landlos ist, ist es überraschend, dass ein populärer Slogan wie 'Keine Bauern, kein Essen' die große proletarische Mehrheit im Land ignoriert. Die ohne Grundbesitz teilen sich wiederum in eine Vielzahl von politisch-ökonomischen Teilinteressen, was zu einem Labyrinth von klassenbasierten sozialen Gefügen führt: die Lohnarbeiter, die oft saisonal angestellt sind, die von einem höherkastigen Verpächter lohnabhängigen Arbeiter und die Pächter selbst … Am wichtigsten aber ist die Tatsache, dass Landbesitz in Indien eine Frage der Kaste ist. Im Punjab etwa macht die Dalit-Gemeinde 32 Prozent der Bevölkerung aus, und 86 Prozent aller Landarbeiter sind Dalit, doch nur drei Prozent der Dalit besitzen Ackerland."
Archiv: Himal
Stichwörter: Indien, Bauernproteste, Kommune, Delhi

London Review of Books (UK), 06.05.2021

In einem sehr eingehenden Essay befasst sich Adam Shatz mit Timothy Brennans Edward-Said-Biografie "Places of Mind", vor allem aber mit dem Leben und Denken des Literaturwissenschaftlers selbst, der als christlich-arabischer Intellektueller mit einer großen Liebe zum westlichen Kanon ziemlich einsam zwischen allen Stühlen saß, wie Shatz schreibt. Den Anhängern seiner Theorie des "Orientalismus" konnte Said demnach genauso wenig abgewinnen wie seinen Gegnern: "Einige seiner heftigsten Kritiker waren linke arabische Intellektuelle, die die Region nicht für akademische Posten im Westen verlassen hatten. In ihren Augen reproduzierte Said genau die Opposition von West und Ost, der er sich eigentlich entgegenstellen wollte. Diese Kritiker glaubten auch, dass Said das Pferd von hinten aufzäumte, wenn er die Betonung auf den westlichen Blick legte anstatt auf den Imperialismus, der diesen erst geprägt hatte. Ihrer Ansicht nach würde mit dem Ende der imperialen Herrschaft auch der Orientalismus als ideologische Rechtfertigung verschwinden. Sadik al-Azm schrieb in einer ausführlichen Kritik, Saids Buch riskiere, da es auch den Marxismus als westliche Ideologie denunziere, den Islamisten und ihren Kampagnen gegen westlichen Unterricht in die Hände zu spielen. Diese Kritik spiegelt ein fundamentales Missverständnis von 'Orientalismus': es war eine Studie zur Repräsentation des Imperialismus in der Literatur, nicht zum Imperialismus selbst. Doch die Kritik zeigte auch, dass die Intellektuellen in der arabischen Region andere Prioritäten hatten als ihre Konterparts im Westen. Said nahm die Kritik nicht gut auf, er beschimpfte al-Azm als 'linken Khomeini'. Dabei hatte al-Azm den Finger auf einen heiklen Punkt gelegt: Auch wenn Said selbst gegen antiwestlichen Dogmatismus, religiöse Politik und nativistische Bewegungen opponierte, ließ sich sein Buch für eben diese rituelle Verdammung westlicher Kultur nutzen. Der akademische Postkolonialismus, der für eine wachsende Zahl von Studenten aus der gehobenen Mittelklasse des Nahen Ostens und Südasiens einen Karriereweg eröffnete, entwickelte zu Saids Ärger eine zunehmend orthodoxe Ablehnung von Säkularismus und Aufklärung."

Ägypten bezieht 95 Prozent seines Wassers aus dem Nil. Der Fluss ist für das Land mit seinen 100 Millionen Einwohnern Lebensnerv, Rückgrat und Schlagader in einem, Assuan-Staudamm und Nasser-See sind der Stolz der Nation. Dass Äthiopien nun seinerseits einen der beiden Quellflüsse stauen will, den Blauen Nil, führt zu schweren Konflikten zwischen den beiden Ländern, wie Rosa Lyster berichtet: "2011, im Jahr des Arabischen Frühlings, begann Äthiopien mit dem Bau von Afrikas größtem hydroelektrischen Staudamm, 2023 soll er fertig sein. Die Ägypter sprechen manchmal über die beiden Ereignisse - die Revolution und den Baubeginn für den Großen Staudamm der äthiopischen Wiedergeburt (Grand Ethiopian Renaissance Dam, GERD) -, als gäbe es einen kausalen Zusammenhang: Als hätte Äthiopien nur mit dem Bau, der das Stauen von 74 Milliarden Kubikmeter Nilwasser ermöglichen wird, beginnen können, weil Ägypten anderweitig beschäftigt war. Die Vorstellung jedoch, dass Ägypten irgendetwas hätte tun können, um den Damm zu verhindern, innere Erhebung oder nicht, wird vehement von Äthiopien bestritten. Das Land stellt damit auch ein von den Briten initiiertes Abkommen aus der Kolonialzeit infrage, das die natürlichen und historischen Rechte Ägyptens auf das Wasser des Nils sichert (87 Prozent, um genau zu sein, die übrigen 13 Prozent sind dem Sudan zugesprochen) und Ägypten das Recht gibt, gegen jedes Projekt flussaufwärts sein Veto einzulegen. Vertreter Äthiopiens verweisen darauf, dass sie von der Aushandlung des Abkommens ausgeschlossen waren und verteidigen das Projekt seit zehn Jahren: Es ist unser Wasser und unser Geld. Hier sind die Quellwasser des Blauen Nils, innerhalb unserer Grenzen, und hier ist die Talsperre, die sechs Gigawatt Elektrizität liefern wird - das Äquivalent zu zwölf Kohlekraftwerken - und zwar in einem Land, in dem die Mehrheit der Menschen keinen eigenen Zugang zu Strom hat. Ihr habt Euren Staudamm, wir haben unseren."

Quillette (USA), 04.05.2021

1955 - da lebte er schon mehrere Jahre in Frankreich - veröffentlichte James Baldwin den Essayband "Notes of a Native Son", in dem er sich auch - am Beispiel von Beecher Stowes "Onke Tom" und Richard Wrights "Native Son" dem Protestroman widmete: Er lehnte diese Form ab, weil sie darauf beharre, dass allein die Kategorisierung des Menschen real sei und nicht transzendiert werden könne. Oder, wie er zwei Jahre später schrieb: "Die Realität des Menschen als soziales Wesen ist nicht seine einzige Realität, und der Künstler wird erwürgt, wenn er gezwungen ist, sich mit den Menschen ausschließlich in sozialen Begriffen zu beschäftigen". In den sechziger Jahren würde er diese Haltung ändern, schreibt Samuel Kronen in seinem Essay, der Baldwins "Tonwechsel" als Parabel darüber liest, was passiert, wenn Künstler sich in erster Linie als Aktivisten verstehen: "In diesem Moment repräsentierte Baldwin die Konsolidierung zweier divergierender und unversöhnlicher Stränge des schwarzen amerikanischen Denkens inmitten der kulturellen Umwälzungen der 1960er Jahre - das separatistische Ethos des schwarzen Nationalismus und den assimilatorischen Geist der Integration. Er ließ die Gruppenviktimologie wie eine Erweiterung des Rassenstolzes erscheinen. Einerseits die volle Akzeptanz der Schwarzen in den amerikanischen Mainstream zu fordern und andererseits zu behaupten, dass Schwarze nicht in eine irreparabel rassistische Gesellschaft aufgenommen werden müssen, mag aus Sicht einer kosmischen Gerechtigkeit oder poetischen Wahrheit Sinn ergeben, aber als Aktionsplan taugt dieses Denken nicht. Es lässt keinen Ausweg zu."

Ziemlich unehrlich findet Arthur Jeon die Art, wie in Amerika über Polizeischießereien berichtet wird (ein Paradebeispiel dafür ist dieser Kommentar in The Nation).
Archiv: Quillette
Stichwörter: Baldwin, James, Integration

A2larm (Tschechien), 04.05.2021

Auch Tschechien hat seine identitätspolitischen Debatten: Radek Banga, auch als Rapper Gipsy.cz bekannt und beliebt, hat ein Buch über seine Roma-Kindheit geschrieben, die von Armut und häuslicher Gewalt geprägt war. ("Mir ein Tablett nehmen zu können und durch die Durchreiche Essen und Trinken zu bekommen, war der Höhepunkt meines Lebens", beschreibt er zum Beispiel den Moment, als er sich für sein erstes erjobbtes Geld endlich eine Mahlzeit in der Schulkantine leisten konnte.) Auch den Mythos vom familiären Zusammenhalt in Romafamilien kratzt er an. Viele - freilich nicht alle - Familien würde ihre Kinder nur finanziell ausnutzen. Die Veröffentlichung seines Buchs hat deshalb großen Gegenwind hervorgerufen: Kritiker meinen, es zementiere die Vorurteile gegen Sinti und Roma und würde Populisten und Rassisten in die Hände spielen. Lucie Jarkovkská verteidigt das Buch und betont, dass es keine soziologische Studie, sondern ein persönlicher Bericht sei. "Bangas Lebensbeichte ist stark darin, dass es ihm gelingt, über den eigenen gewalttätigen Vater mit Verständnis zu reden. Es zeigt, dass es möglich ist, aus der Gewaltspirale auszusteigen, Grenzen zu setzen, das Schlechte zu benennen, aber auch es zu verstehen." Wenn Banga seinen Vater zwar nicht von Alkohol und Aggressivität loseisen konnte, brachte er ihn doch dazu, über die eigene Kindheit zu reden: Bangas Vater wurde als Kind mit einer Schaufel auf den Kopf geschlagen. Für ihn war es schon ein Sieg, bei seinen eigenen Kindern nicht so weit zu gehen. Radek Banga war mit seinem Romano-Hiphop bisher der "Vorzeigezigeuner aus dem Fernsehen", jetzt hat er ein schmerzvolles Kapitel aufgeschlagen, das neben den gesamtgesellschaftlichen Problemen auch die Selbstreflexion innerhalb der Community berührt. Lucie Jarkovkská meint, mehr noch als ein erfolgreicher Roma-Musiker sei gerade diese Debatte ein Zeichen von Emanzipation.

Eine Kostprobe von dem Musiker Gipsy.cz? Hier das von John Travolta inspirierte "Zigulik":

Archiv: A2larm

HVG (Ungarn), 04.05.2021

Im Interview mit Zsuzsa Mátraházi spricht der Maler Miklós Szűts über seinen Schaffensprozess, der von der Pandemie nicht unbeeinflusst blieb: "Im gegenwärtigen Belagerungszustand gelangt das eine oder andere Bild leider zu den Sammlern, ohne vorher ausgestellt worden zu sein. Obwohl ich erst dann das Gefühl habe, an einem Bild nichts mehr zu schaffen zu haben, wenn es in der Öffentlichkeit ausgestellt worden ist. Seit vierzig Jahren fotografiere ich jedes fertiggestellte Bild, seit fünfzehn Jahren lade ich das Bild auch sofort auf meine Webseite hoch. (...) Es ist eine Freude sich von einem Bild zu trennen, das schlecht ist. Ganz gleich wie viel man daran gearbeitet hat. Das Leben der Maler ist bitter, denn sie stehen immer vor einem schlechten Bild."
Archiv: HVG

New Yorker (USA), 10.05.2021

In einem Beitrag für das neue Heft erkundet Sam Knight die auf die Unabhängigkeit Schottlands zielende Politik von Nicola Sturgeon als Kopf der Scottish National Party. Sturgeon ist eine ungewöhnliche Politikerin: eine linke Nationalistin, die den Brexit, ein nationalistisches Projekt, das Sturgeon verabscheut, benutzt um ihr eigenes Projekt durchzubringen: die Unabhängigkeit Schottlands. Aber die S.N.P. hat die Debatte über Schottlands Unabhängigkeit von der Geschichte weg und hin zu der Frage gewendet, in welcher Gesellschaft die Wähler leben wollen, in Boris Johnsons Brexit Britannien oder Nicola Sturgeons sozialdemokratischem Schottland. Und viele Schotten haben weder vergessen noch verziehen, wie sie jahrzehntelang von den Engländern, besonders Margaret Thatcher, behandelt wurden. Dass Sturgeon außerdem die Pandemie besser gemeistert hat als Boris Johnson, könnte mithelfen, den größten Haken in der Unabhängigkeitsbewegung zu ignorieren: "Der Brexit hat die Unterstützung für ein schottisches Unabhängigkeitsreferendum gefestigt, aber er ist auch ein Faktor, der die Dinge kompliziert. Großbritannien hat nun sowohl den Binnenmarkt als auch die Zollunion der EU verlassen. Infolgedessen werden für die meisten Waren, die mit Europa gehandelt werden, neue Zoll- und Grenzkontrollen durchgeführt. Wenn Schottland unabhängig wird, muss es sich entscheiden zwischen dem grenzenlosen Handel mit dem Rest Britanniens, in das es jährlich Waren im Wert von etwa sechzig Milliarden Pfund exportiert, und dem Beitritt zum EU-Binnenmarkt, in den es ein Viertel dieser Menge exportiert. Im Februar berechnete die London School of Economics, dass ein Austritt aus dem Vereinigten Königreich für die schottische Wirtschaft handelstechnisch zwei- bis dreimal so schädlich wäre wie der Brexit. ... Als ich Andrew Wilson, einen ehemaligen S.N.P.-Funktionär, der an einem kürzlich veröffentlichten Wirtschaftsplan für ein unabhängiges Schottland mitgeschrieben hat, fragte, ob das Land zwischen dem EU-Binnenmarkt und dem des Vereinigten Königreichs wählen müsste, antwortete er: 'Ja, ganz klar.'"

Außerdem: Matthew Hutson macht sich Gedanken über die Regenerationsfähigkeit unseres Körpers. Adam Gopnik verliert sich in Proust. Außerdem gibt es einen Auszug aus den Erinnerungen des afroamerikanischen Künstlers Winfred Rembert, der in den Siebzigern während einer Gefängnisstrafe in einer Chain Gang (also mit anderen an eine Kette gefesselt) arbeiten musste.
Archiv: New Yorker

En attendant Nadeau (Frankreich), 01.05.2021

Maoisten, das war jene Fraktion ehemaliger 68er, die den real existierenden Sozialismus kritisierten, weil er den stalinistischen Terror aufgegeben hatte. Wenn man hört, dass sich eine Intellektuelle wie Annette Wieviorka "luzide und gerührt" an ihre Zeit in den K-Gruppen erinnert ("Mes années chinoises"), sollte man misstrauisch werden. Noch vor ein paar Wochen war in La vie des idées zu lesen, welch gnadenlose Kälte in den K-Gruppen auch in Frankreich herrschte (unser Resümee). Aber am Ende scheint sich Wieviorka der Rührung nicht hinzugeben. Nur der Rezensent Jean-Yves Potel möchte, dass sie ihre Geschichte nicht so persönlich nimmt. "Immer wieder vergleicht sie, was sie damals dachte, mit der Historikerin, die aus ihr wurde, versucht zu verstehen, was sie dahin getrieben hatte und was sie nicht hatte sehen wollen. Mit ihr fragt man sich, wie ein solches Ausmaß der Verblendung möglich war, was sie so weit von sich selbst und ihrer Umgebung hatte entfremden können. 'Welche eine Kraft der Illusion, wie konnte man nur einen Augenblick daran glauben', fragt sie sich und erinnert sich der zahllosen Reden und Vorträge, denen sie mit religiösem Eifer lauschte. Allerdings hätte man sich hier eine etwas politischere Herangehensweise an ihren wahnhaften Glauben gewünscht."

Außerdem bespricht Mario Kaplan Dumitru Tsepeneags "Un Roumain à Paris", das Tagebuch eines rumänischen Exilautors aus dem Paris der Siebziger, sicher ein interessanter Einblick in die faszinierende rumänische Diaspora in Paris und in das Pariser intellektuelle Leben jener Zeit, von einem Außenseiter gespiegelt.

Merkur (Deutschland), 03.05.2021

Soso, denkt sich der Architekt Philipp Oswalt, die Neugestaltung der Paulskirche erscheint der Staatsspitze heute revisionsbedürftig, der Berliner Dom mit seiner brachialen Hohenzollerngruft von 1905 wurde dagegen anstandslos saniert. Wo blieb da die Kommission, die erinnerungspolitisches Desaster beklagte? Hier werde mit zweierlei Maß gemessen, glaubt Oswalt, wenn die von Rudolf Schwarz neugestaltete Paulskirche, die historischen Ruin und demokratischen Aufbruch zugleich symbolisiert, der "emotionalen Leere" und "symbolischen Impotenz" geziehen wird, als wäre sie die "Notbaracke der Demokratie": "In der Neugestaltung reichen die hohen Fenster bis zum Fußboden und öffnen den Raum, die zweite Fensterreihe und das Oberlicht spenden - anders als 1848 - zusätzlich Helligkeit. Der demokratische Versammlungsraum wird in Licht getaucht und damit als Endpunkt eines schwierigen, dunklen Weges zelebriert. Doch genau diese Erzählung, die gleichermaßen Tradition wie Traditionsbruch zum Ausdruck bringt, ist heute bei manchen nicht mehr erwünscht. Der 'damals sinnfällige doppelte Bezug' sei heute nicht mehr zeitgemäß und 'viel zu intellektualistisch, um Gedenkort der deutschen Demokratie zu sein' (Herfried Münkler). Die Erinnerung möge doch bitte heroischer, stolzer, ungebrochener ausfallen. Der Bundespräsident verweist positiv auf die ungebrochenen nationalen Gedenkkulturen der Franzosen und US-Amerikaner just in dem Moment, in dem die postkolonialen Debatten deren Legitimation infrage stellen. Steinmeier und Grütters nehmen für sich in Anspruch, mit ihrer erinnerungspolitischen Offensive nicht zuletzt der aktuellen Gefährdung unserer Demokratie durch den Rechtspopulismus entgegenzutreten. De facto jedoch nehmen sie Argumentationsmuster auf und Positionen ein, die in wesentlichen Punkten von denen der Rechtspopulisten nicht zu unterscheiden sind."

Weiteres: Ulrich Gutmaier erinnert sich an die Deutsch Amerikanische Freundschaft und das Berlin der Achtziger mit türkischer Community, DDR-Smog und SO 36.
Archiv: Merkur

Elet es Irodalom (Ungarn), 30.04.2021

In der vergangenen Woche wurde nicht nur die Umwandlung weiterer Universitäten in private Stiftungen beschlossen, sondern auch die Übertragung staatlichen Vermögens an die Universitätskuratorien, die ausschließlich von aktiven Politikern der Regierungspartei oder dem Ministerpräsidenten ergebenen Wirtschaftsakteuren bestehen (Ministerpräsident Orbán betonte in seiner wöchentlichen Radioansprache, dass "internationalistisch-globalistische" Vertreter keinen Platz in den Universitätskuratorien erhalten werden.) Beobachter meinten, dass Orbán - die kommenden Wahlen im Blick - versuche, sich auf eine mögliche Niederlage vorzubereiten und so einen Parallelstaat aufzubauen, der eine Regierung durch die Opposition unmöglich machen würde. Der Publizist János Széky zweifelt daran, dass es überhaupt zu einer Wahlniederlage von Orbán kommen kann: "In Ungarn entscheidet für unabsehbare Zeit eine Zwei-Drittel-Mehrheit nicht nur über die Wirtschaft, sondern auch über Schlüsselpositionen der Staatsmacht, von der 'Wahl' des Generalstaatsanwalts über das Nationale Wahlkomitee bis zum Medienrat. Meiner Meinung nach ist Demokratie etwas anderes. (...) Ja, Ungarn wurde in den vergangenen Jahren aus Mitteleuropa in jene Region verschoben, wo eine bunte Revolution nicht mehr auszuschließen ist. Doch wenn wir uns die bunten Revolutionen anschauen, brachten die romantischen Ereignisse überall bereits existierende starke Parteien an die Macht. In Ungarn fehlt aber der politische Wettbewerb, der geeignete Politiker und charakterliche Parteien entstehen lässt. Dass die Opposition nun versucht, ja dazu gezwungen wird, sich wie 'eine Partei' zu benehmen und zu agieren, soll einem nur vorgaukeln, es könne in den nächsten vierzig Jahren Freiheit geben."
Stichwörter: Ungarn

Film-Dienst (Deutschland), 28.04.2021

Hat den Farbfilm nie vergessen: Nobuhiko Obayashi im "Labyrinth of Cinema" (Mubi)

Letztes Jahr ist der japanische Regisseur Nobuhiko Obayashi gestorben, der hierzulande unter Japanfans vor allem, aber leider auch ausschließlich für seinen vor einiger Zeit auf DVD erschienen, surrealen Horror-Kunstfilm "Hausu" von 1977 bekannt ist (hier 14 Sekunden daraus - machen Sie sich auf was gefasst!). Aktuell auf Mubi zu sehen ist sein episches Abschiedswerk "Labyrinth of Cinema" von 2019 - für Lukas Foerster ein Anlass für einen langen Filmdienst-Essay tief einzusteigen in das Werk dieses außergewöhnlichen Filmemachers, der mit ziemlich lässigen Experimentalfilmen anfing, später Werbung machte, dann doch noch beim Spielfilm landete und das Kino dabei stets als großen Materialbaukasten, aus dem sich mit Neugier und Spielfreude schöpfen lässt, verstand. Ein zentraler Bestandteil darin: die Farbe. "Am Anfang von Obayashis Kino steht eine so schlichte wie unendlich ergiebige Einsicht: Sobald Farben auf der Kinoleinwand erscheinen, stellen sie keine Attribute der Welt und ihrer Objekte und auch keine bloßen Wahrnehmungsphänomene mehr dar, sondern haben sich in genuine Werkzeuge des Kinos verwandelt. In Spielmaterial." Denn "Obayashis Farbinterventionen gehorchen anderen Regeln. Farbigkeit ist in seinem Kino in erster Linie eine Sache des Affekts. Vom Schwarz-weiß zum Farbbild zu wechseln, das kommt einem frenetischen Fieberschub gleich, genau wie das plötzliche Versinken in Grautönen uns einen melancholischen Stich ins Herz zu versetzen vermag, als würden wir dabei zusehen, wie die Gegenwart in Vergangenheit wegkippt. Farbe, das ist direkte filmische Expressivität, eine energetische Intervention, die im Bild und auch an den Figuren etwas sichtbar werden lässt, was allein über Dialog und Erzählung nicht transportiert werden könnte."

Neugierig geworden? Ein paar Obayashi-Filme finden sich in diesem Youtube-Kanal.
Archiv: Film-Dienst