Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
10.06.2002. Die NY Review of Books liefert eine Reportage aus Qom. Die LRB erklärt, warum Spider-Man metaphorisch gesehen ein Schwarzer ist. Im Profil äußeren sich Klaus Theweleit und Luc Bondy zur Walser-Debatte. Die NYT verspricht ein erstklassiges intellektuelles Abenteuer mit Stephen Wolframs revolutionärer Welterklärungstheorie "A New Kind of Science". L'Espresso preist die Vorzüge eines "Sex Handbooks", während Diego Maradona die WM kommentiert. Outlook India und Times Literary Supplement widmen sich Günter Grass.

New York Review of Books (USA), 27.06.2002

Die New York Review of Books kann wieder einmal eine kleine Sensation vorweisen. Christopher de Bellaigue ist in das theologische Zentrum des Iran gereist, in die Stadt Qom. Bellaigue liefert eine ziemlich gründliche Beschreibung der geistlichen Führung des schiitischen Islam, die sich gegen den kaum noch aufzuhaltenden Machtverlust stemmt. "For the past decade, the prestige of the clerics among most Iranians has been falling. This is clearly illustrated by the decline in clerical representation in parliament. In the first parliament after the revolution, clerics made up 51 percent of the total number of deputies. They now make up 12 percent. In the early 1980s, clerics were generally treated with elaborate courtesy. Nowadays, clerics are sometimes insulted by schoolchildren and taxi drivers and they quite often put on normal clothes when venturing outside Qom. Some are willing to give up the official privileges that, they believe, cause the public to resent them. I talked in Qom to clerics who said there was now increasing sympathy for Abdolkarim Soroush, a brilliant lay theologian and philosopher who argues that religion must sever its links with worldlypower if it is to retain its authority. Far from improving the status of the clergy, these clerics say, involvement in government has debased it."

Mit einer Antwort von Ehud Barak an seine Kritiker (und die der israelischen Politik) setzt die NY Review außerdem die Debatte um Camp David und die Folgen fort: "They speak of Israel's 'indiscriminate attacks of the past few months.' Indiscriminate? We hazard to say that no military has ever been more discriminating and gone to such lengths to avoid inflicting civilian casualties ... Indeed, the only ?indiscriminate massacres' that have taken place over the past few months have been of Israeli women, children, and the old by Palestinian suicide bombers, many of them belonging to Arafat's own Fatah organization, in cafes, malls, and buses. But the European media persists in believing the never-ending torrent of Palestinian mendacity; political correctness as well as varied economic interests and anti-Semitism dictate that no third-world people can do wrong and no first-world people, right." (die ersten beiden Teile der Debatte können Sie hier nachlesen: ein Interview mit Ehud Barak sowie die Erwiderung von Hussein Agha und Robert Malley)

Jane Mayer widmet sich dem wendigsten Journalisten des politischen Washingtons, David Brock, der die über mehrere Jahre die amerikanische Öffentlichkeit mit angeblichen Enthüllungen über Bill Clinton gefüttert hatte. In einem neuen Buch hat Brock nun "enthüllt", dass er von einem Kreis rechter Verschwörer dafür bezahlt worden sei. Auch wenn Brocks journalistisches Ethos noch immer nicht ganz den Standards genüge, glaubt Mayer ihm. 

Auch das Feuilleton der USA ist mit einem Schlüsselroman beschäftigt, wie Anthony Appiah erklärt: Stephen L. Carter, Professor an der Yale-Universität, hat einen Krimi geschrieben, in dem er die juristische Elite und die schwarze upper-class des Landes nicht immer freundlich behandelt ("The emperor of ocean park").

Weitere Artikel: Elizabeth Hardwick erinnert an den Romancier Sinclair Lewis, Daniel Mendelsohn würdigt den Schriftsteller, Musiker und Entertainer Noel Coward. Außerdem streiten Steven Pinker und John R. Searle über Pinkers Buch "Words and Rules".

Profil (Österreich), 09.06.2002

Auch der österreichische Nachbar kann sich der Walser-Debatte nicht entziehen. Das neue profil-Heft bietet eine Chronik eines angekündigten Skandals und interviewt den Freiburger Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit über die Geschäftemacherei mit dem Antisemitismus, der den Vorgang einen "primitiven Rattenkrieg" nennt. Theweleit hält "sowohl Walser als auch Reich-Ranicki, seit dreißig Jahren schon, für absolut amoralische Typen: für Maulhelden, die jede Gelegenheit beim Schwanz packen, sich selbst ins Öffentliche zu schieben, egal womit". Wäre der Roman "Tod eines Kritikers" von einem unbekannten Autor, wäre er ignoriert worden. Für ihn sei Walser auch kein Nationalkonservativer, denn er habe keine Ideologie, "außer jener, im Mittelpunkt stehen zu müssen." Walser, Ranicki, Schirrmacher verfolgten vor allem Eigeninteressen: "Das sind Markt-Machos, die sich auf ekelhafteste Weise ihre Taschen füllen." Theweleit sieht Missbrauch von allen Seiten. Auch was die aktuellen Debatten um Israel betreffe: Deutsche hätten dazu die "Klappe" zu halten. "Alles andere ist unanständig."

In einem weiteren profil-Interview kommt der Wiener Festwochen-Intendant Luc Bondy zum selben Thema zu Wort. Solche "Heftigkeit der Reaktionen wird es in Deutschland immer wieder geben, wenn das jüdische Thema so aufflackert." Hannah Arendt habe einmal zu Uwe Johnson gesagt: "Es gibt keine jüdische Frage mehr; das ist jetzt eine deutsche." Und, so Bondy: "Natürlich provoziert Reich-Ranicki als mächtige Figur antisemitische Assoziationen. Er ist mächtig und jüdisch. Das ist doch gerade das grauenvolle Klischee. Zugespitzt gesagt: Wehrlos und schwach wie im Ghetto hat man uns stets besser ertragen als einflussreich und mächtig." Walsers Roman sei aber nicht antisemitisch, nur "die Situation Walsers hat etwas Tragisches - er hat mit seiner Rede in der Paulskirche und der durch sie ausgelösten Debatte die Lufthoheit über seine Selbstauslegung verloren." Bondy ist darüber erstaunt, "dass ein Buch von Walser so behandelt wird, als handle es sich um Celines 'Bagatelles pour un massacre' - das wirklich ein antisemitisches Pamphlet war". Man dürfe den Vorwurf des Antisemitismus nicht polemisch instrumentalisieren, weil man ihn dadurch banalisiere. "Die wirklich brisante Antisemitismus-Debatte verläuft ganz woanders: in der Beschäftigung mit dem Krieg im Nahen Osten." - Darüber hinaus gibt Luc Bondy Auskunft über seine anstehende Vertragsverlängerung als Direktor der Wiener Festwochen und über seine umkämpfte "Anatol"-Premiere.
Archiv: Profil

New Yorker (USA), 10.06.2002

Thomas Keneally schreibt in seinem Text "Cold Sanctuary" über seine Jahre im australischen Priesterseminar und den gegenwärtigen Missbrauchsskandal, der die amerikanische katholische Kirche zu zerreißen droht. Keneally beschreibt die Kirche als "cold and largely self-interested corporate institution", in deren Seminaren bis heute eine "mutedly hysterical, all-male grimness" der Regelfall sei. Diese "soziale Kälte" beruhe letztlich auf einem gestörten Frauenbild. "To the celibate priest, women other than his earthly and heavenly mother remained dangerous creatures, a collective Eve. As sin entered the world through the first woman, it continued to do so through her daughters." Die Weigerung der Institution, ihren straffällig gewordenen pädophilen Mitgliedern zu helfen, sei schließlich eine Art selbstgefälliger Arroganz gepaart mit Ignoranz: "The Church's reliance on its capacity for dealing with all manner of human flaws helps explain an institutional suspicion of psychiatric therapy as one more symptom of faithless 'modernism'."

In der Erzählung "My Father Addresses Me on the Facts of Old Age" berichtet Grace Paley, wie ihr Vater ihr Unterweisungen im Älterwerden gab. Zwei Kostproben: "We should probably begin at the beginning, he said. Change. First there is change, which nobody likes - even men. You'd be surprised. You can do little things - putting cream on the corners of your mouth, also the heels of your feet." Und: "DON'T SQUINT. Wear your glasses."

Weiteren Lesestoff rund um Freuden, Leiden und wichtige Protagonisten des Familienlebens liefern Jonathan Lethem, Charles D'Ambrosio, Jeanette Winterson, Richard Ford, Mark Leyner und Steve Martin (letzterer aus unerfindlichen Gründen nicht online).

Besprechungen gibt es natürlich auch: Joan Acocella rezensiert eine neue Biografie über Primo Levi, Kelefa Sanneh stellt das neue Album von Rap-Rumpelstilzchen Eminem vor, und David Denby hat die Filme "Windtalkers" und "The Bourne Identitiy" gesehen.

Nur in der Printausgabe: Der Schriftsteller Donald Antrim beschreibt seine Reaktion auf den Tod seiner Mutter: einen Bettkauf (online gibt es dazu ein Interview mit Antrim), Alice Munro erinnert sich an die Sonntagnachmittage ihrer Mädchenzeit. Zwei weitere Erzählungen gibt es von Zadie Smith und John Berger und Lyrik von Kenneth Koch und W. G. Sebald.

Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 06.06.2002

Was nicht alles in "Spider-Man" steckt! Jonathan Lethem etwa spürt dem Gerücht nach, die Figur sei keine Erfindung der Weißen, sondern gehe zurück auf den afrikanischen Mythos vom Spinnen-Dämon des Dschungels. Im Kino mit einem begeisterten Kinder-Publikum, dass überwiegend aus Schwarzen besteht, geht Lethem ein Licht auf: "That they knew that 'Spider-Man' was for them - the film has no black faces - probably speaks to many things. At least one of these is a key element of the Spider-Man myth: no matter how blandly mainstream and popular this character becomes, and no matter how whitewashed of ethnicity the name 'Parker' has always been, Parker-Spider-Man is always an Other ... it's the pre-existing backdrop of Superman and Batman's deep whiteness that establishes Spider-Man's metaphoric blackness. Clark Kent and Bruce Wayne live in palaces of privilege and operate from fantasy cities, Metropolis and Gotham, while working-class Spider-Man is a bridge-and-tunnel person, from Queens, in the real New York."

Zwei aktuelle Studien über die Zukunft des Nationalstaats vergleicht David Runciman in einem ellenlangen Beitrag. Sowohl Philip Bobbitts ("The Shield of Achilles: War, Peace and the Course of History") als auch Mark Leonard ("Reordering the World: The Long-Term Implications of 11 September"), schreibt er zusammenfassend (und irgendwie beruhigt), seien überzeugt, dass es keine Alternative gebe zum Staat als Grundeinheit politischen Verstehens und Handelns und dass es künftig darum gehen werde, welche Staatsform den Bedingungen des globalen Kapitalismus im 21. Jahrhundert am besten gewachsen sei. Was beide hingegen gerne loswürden, seien internationale Institutionen wie die Vereinten Nationen, die auf einer längst überholten Staatskonzeption basierten, "since both agree that such an enterprise founders on the impossibility of reconciling the idea of international co-operation with the principles of national sovereignty."

Colm Toibin schließlich hat zwei Bücher gelesen, die uns die zweifellos tragische Figur der Jackie Kennedy näher bringen. Barbara Leamings "Mrs Kennedy: The Missing History of the Kennedy Years" offenbart beides: Jackies Diskretion und JFKs Vorlieben für Wasserspiele und flotte Dreier: "Jackie made sure that she was absent from the White House two or three days a week, usually at the house they rented in Virginia, to give JFK space and privacy. 'In Jackie's absence,' Leaming writes, 'the President, whether at lunchtime or after his last appointment in the evening, could often be found in the pool - a favourite locale for sex because of his bad back - or upstairs in the family quarters with one or more women.'"

Espresso (Italien), 13.06.2002

Totti, Vieri und ich... Keinen Geringeren als Diego Maradona hat L'Espresso gebeten, die Chancen der "Azzurri" auf den Weltmeistertitel abzuschätzen. Taktisch, rhythmisch und konzentrationsmäßig, meint Maradona, könnte es gar nicht besser aussehen für die Himmelblauen, und mit zweien wie Totti und Vieri ("Naturgewalten alle beide") an der Spitze, seien die Tore so gut wie sicher. Na bitte. Bleibt Maradona noch, die italienischen Fans zu beschwichtigen, falls ihre Elf wieder die Nationalhymne nicht singen will: "Das heißt nicht, das sie ihr Land nicht lieben. Sagen wir mal, es ist anders bei euch als bei uns. Der Patriotismus ist weniger ausgeprägt, man ist nicht gewöhnt daran." (Wenn er sich da mal nicht täuscht). Und sich beim Gastgeber Japan zu beschweren, das ihm wegen seiner wilden Vergangenheit noch immer die Einreise verwehrt, während die USA sogar spielen dürfen, "jenes Land ausgerechnet, das Hiroshima und Nagasaki zu verantworten hat", und er, Maradona, habe doch nur sich selbst geschadet und könnte keiner Fliege, nie... Die Welt ist ungerecht, selbst für Fußballgötter.

Wenn ein Buch den geradlinigen Titel "The Sex Handbook" (mehr hier) trägt, ist es entweder furchtbar schlecht oder es erfüllt tatsächlich die Ansprüche einer ultimativen Sex-Bibel. Letzteres scheint der Fall zu sein bei dem reich illustrierten, in einer wenig zimperlichen Sprache verfassten Erosschmöker Suzi Godsons, einer britischen "Dr. Sommer" für Fortgeschrittene, den Annalisa Piras so freundlich war, durchzuarbeiten. Wie ein richtiger Cunnilingus funktioniert ("anders als im Pornofilm"), ab welcher Penislänge der Mann beruhigt sein kann (13 cm), oder wie auch die ödeste Beziehung wieder in Gang kommt lernen Leser von 15-70 - Homos, Heteros, Fetischisten und Depressive.
Archiv: Espresso

New York Times (USA), 09.06.2002

Ein "erstklassiges intellektuelles Abenteuer" sei das Buch, schreibt George Johnson in einer begeisterten Besprechung von Stephen Wolframs revolutionärer Welterklärungtheorie "A New Kind of Science". Über 1200 Seiten (350 davon Anmerkungen) und nicht weniger als die Aufforderung an den Leser, das Universum künftig nicht mehr mit Einstein & Co. als Bündel von auf der Annahme eines Raum-Zeit-Kontinuums basierenden mathematischen Gleichungen zu betrachten, sondern als lauter "little snippets of software called algorithms" (die das im Eigenverlag publizierte Buch übrigens in endlosen TV-Schnee-Illustrationen abbildet): Zeit fließt nicht, sie tickt. Raum ist keine Fläche, sondern ein Gitter. - Und dieses Buch hier, meint der Rezensent, ist etwas selten Schönes: "too bad that more science isn't delivered this way".

Thriller sind ja eher selten. Oder Rezensenten lesen lieber Sachbücher. Stephen L. Carters Debütroman um einen mysteriösen Mord an einem einflussreichen Richter hat es allerdings sogleich auf das Cover der Book Review geschafft! Was den Rezensenten Ward Just besonders für das Buch einnimmt, ist einerseits, dass es "von jeder einzelnen Seite lebt" (kein "page-turner" also), vor allem aber, dass es ihm "eine neue Welt" eröffnet, mit eigener Sprache, eigenen Verhaltensweisen und eigenen Mythen und Legenden: "the milieu of the black bourgeoisie -- not just the rich but the rich and influential ... The news that's delivered in 'The Emperor of Ocean Park' will surely be surprising for the inhabitants of what Stephen L. Carter calls 'the paler nation.'" Hier die Leseprobe.

Wie diplomatisch haben diplomatische Memoiren zu sein? Ruhig etwas weniger, wenn es nach Bill Keller ginge, der in den Erinnerungen des Russland-Experten und Clinton-Vertrauten Strobe Talbott ("The Russia Hand") desöfteren das kritische Urteil vermisst und auch die Feinheiten: "Talbott, who is so fluent with the nuances of policy, shies away from the intricacies of human character, at least the characters on his side. The book does not give us much of Bill Clinton's horrifying and enchanting complexity. When the messy, tabloidy world of Clinton's life threatens to intrude on his diplomatic missions, Talbott deliberately turns away, heartsick."
Archiv: New York Times

Outlook India (Indien), 17.06.2002

Das Titeldossier befasst sich mit den internationalen diplomatischen Bemühungen und der langsam fruchtenden Peacemaker-Rolle der USA im Kaschmir-Konflikt. "Krieg hätte nichts dergleichen erreicht," schreibt Anita Pratap in einem Essay, "das sollte die Falken zum Nachdenken bewegen". An den bereits entstandenen Schäden änderte das freilich wenig: "Bracketed with Pakistan, India too is now seen as a dangerous, unstable part of the world where medieval mindsets coexist with nuclear weapons. A volatile Molotov cocktail of a region where politicians, bureaucrats, military experts and even ordinary civilians talk loosely of N-war and mutual destruction. It's not just an unquantifiable thing like our image that has been damaged. A very quantifiable thing, such as our economy, will reel under the impact of two things-the consequences arising out of the evacuation of foreigners and the six-month-long high alert military mobilisation on the border."

Dass Krieg ganz schlecht ist fürs Geschäft bestätigt übrigens ein anderer Artikel. Nicht nur die indo-amerikanische Business-Gemeinde ist betroffen: Reiseagenturen verzeichnen Buchungsrückgänge bis zu 70%.

Im Kulturteil wird eine Monumental-Studie über Indiens widersprüchliche Atompolitik vorgestellt. Das Buch eines "Falken", für den, wie der Friedensforscher P. R. Chari mit Bedenken konstatiert, eine nukleare Bedrohung Indiens nicht allein von Pakistan ausgeht. Auch dem "Eigensinn" der USA und der "Streitlust" Chinas, so die starken Worte des Autors, sei zu begegnen, by "securing the decisive military capability featuring thermonuclear weapons and intercontinental ballistic missiles on a war footing".

Besprochen wird auch "The Tin Drummer's Odyssey", ein Materialband mit Kritiken Interviews und Essays zu und von Günter Grass (der in Indien wirklich sehr geschätzt wird) und zugleich ein Panegyrikon, dem vor lauter Harmoniebedürfnis leider "die Widersprüche zwischen den politischen Ansichten und den literarischen Texten" des Nobelpreisträgers entgehen.
Archiv: Outlook India

Monde des livres (Frankreich), 06.06.2002

Doukipudonktan? - Vonwoschtinktnderso? fragt Rotzgöre Zazie unter der Feder von Raymond Queneau. In punkto Wortakrobatik sind wir so einiges von ihm gewöhnt. Dass aber diese sprachspielerische Ader nur eine von vielen ist, die "Ohlraunder" Queneau aufzuweisen hat, zeigt Michel Lecureur in seiner jüngst erschienenen Biografie "Raymond Queneau", die sich, wie Jean-Luc Douin lobend bemerkt, eng an die Fersen dieses wahrhaftigen Proteus heftet. Gerade erschienen ist auch ein erster Band der gesammelten Romane Queneaus als Pleiade-Ausgabe (Romans 1, Oeuvres completes II). Herausgeber Henri Godard erklärt in einem Interview mit Patrick Kechichian, wie schwierig es ist, den auf alles neugierigen Queneau einzuordnen. Schließlich stellt Patrick Kechichian ein bisher unveröffentlichtes Werk des Autors vor. "Aux confins des tenebres" - "Am Rande der Dunkelheit" - thematisiert den literarischen Wahnsinn, mit dem sich Queneau drei Jahre lang beschäftigt hat und der sich laut Kechichian am Schnittpunkt der zwei Grundzüge des Queneauschen Denkens befindet - des Lachens auf der einen und der schwindelerregenden existenziellen Fragen auf der anderen Seite.

In einem Interview mit Philippe Simonnot, erklärt Gary Becker (Erfinder des Begriffs "human capital" und Wirtschafts-Nobel-Preisträger 1992 - hier seine Homepage) den Erfolg der Nobelpreis-Schmiede in Chicago damit, dass dort das ökonomische Denken nicht auf den Bereich der Ökonomie beschränkt wird. Es stört ihn nicht, dass man diese Ausdehnung der Ökonomie auf andere Bereiche "ökonomischen Imperialismus" nennt. Was ihn aber stört, ist, wenn man seine Theorie der rationellen Auswahl tautologisch nennt. Weiterhin: Alexandra Laignel-Lavastine findet, dass Peter Sloterdijk sich in "Blasen", dem ersten Teil seiner Trilogie "Sphären", im Kreis dreht.

Economist (UK), 08.06.2002

Wie viel Schelte verdient Wall Street? fragt die Cover Story. Erwartungsgemäß milde gestimmt sind die Economisten und sagen in einem Special, was zu tun ist, damit Amerikas Kapitalmärkte Weltspitze bleiben: Die Interessenkonflikte der Analysten gehören gelöst.

Was hat man sich nicht alles ausgemalt für eine Post-09/11-Politik in den USA! Und was ist daraus geworden? Das Regierungsprogramm der Bush-Regierung für die November-Wahlen ist eher ernüchternd, wie ein Artikel feststellt: "In some ways, the programme is less adventurous than anything Mr Clinton espoused, since it ignores his favourite themes of reforming government and boosting economic growth ... Only in a few areas has Bush tried something really new that might attract both conservatives and moderates, such as his education reform or the still-wobbly 'faith-based initiative' to boost the public role of religious charities. This is the record of a man seeking re-election by the tried and trusted formula of securing the base and then adding a few targeted groups, not of someone trying to lay the foundations for wider political change."

Ferner erfahren wir, wieso der Wirtschaftstheoretiker und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz mit "Globalisation and Its Discontents" kein gutes Buch über die Globalisierung geschrieben hat (wie es Titel und Autor eigentlich vermuten ließen), sondern eines von "quengeliger Selbstgerechtigkeit" über die Versäumnisse des Internationalen Währungsfonds.

Weiteres: Ein Wissenschaftsbeitrag betrachtet das Universum als einen gigantischen Computer, der 10120 Rechenvorgänge auf dem Buckel hat, ein Business-Artikel sieht Vivendi Universal schon "den Kirch machen", und ein Blick ins Inland verzeichnet die zweifelhaften Erfolge britischer Drogenpolitik: LSD ist jetzt billiger als Zigaretten!
Archiv: Economist

Spiegel (Deutschland), 10.06.2002

In der Titelstory begibt sich Jürgen Leinemann probeweise auf den Ego-Trip der Politik und erklärt Wirkungsweise und Folgen der Droge Macht.

Ein anderer Artikel erklärt, welche Konsequenzen eine Eskalation des Kaschmir-Konflikts hätte: "Ein Atomkrieg, dem nach US-Berechnungen zwölf Millionen oder mehr Menschen zum Opfer fallen könnten, würde das Ende bedeuten für den Subkontinent, wie die Welt ihn heute kennt. Er brächte aber auch das jähe Aus für die Jagd auf Osama Bin Laden und seine Gefolgsleute. Sie fänden in einem verwüsteten Pakistan genau jene Bedingungen, unter denen sie erneut Machtpositionen erobern könnten, vielleicht sogar Atomwaffen."

Im Interview lässt Richard Gere durchblicken, was der Buddhismus mit einem anstellt. Keine Freude mehr an Weib, Wein und Gesang: "Mir ist es nie um Geld und Ruhm gegangen; für mich ist das wie ein kleines Restaurant auf dem Weg, in dem man schnell einen Imbiss isst. Das Ziel ist, die innere Befreiung zu erreichen." Befreiung von Hass und Gewalt etwa. Doch selbst das, meint Gere, hat seine Grenzen: "Der Dalai Lama sagt, manchmal sei es sehr schwierig, eine Mücke zu lieben."

Wird Frankreich wieder Weltmeister? Wohl kaum, meint Michael Wulzinger, der den Titelverteidiger schon an seiner Arroganz scheitern sieht. Schließlich seien "Les Bleus" nicht mehr nur Fußballer - "sie sind Stars der Werbung, Figuren des Jet-Set und Lieblinge der Politik ... Wenn die Landesauswahl in Clairefontaine trainiert, lässt sich der Staatspräsident schon mal im Hubschrauber von Paris aus die 50 Kilometer über die Wälder von Rambouillet fliegen, um an der Seite von Zidane zu dinieren."

Offline ferner: Ein Essay von Wolf Biermann über das Verhältnis der Deutschen zu Israel und ein Gespräch mit Bodo Kirchhoff über seinen neuen Roman, in dem ein Kritiker umgebracht wird - ein beliebtes Motiv derzeit.
Archiv: Spiegel

Times Literary Supplement (UK), 06.06.2002

Philip French bespricht ein neues Buch des enfant terrible der britischen Linken, Christopher Hitchens: "Owell's Victory" heißt es und scheint mal wieder (wie das auch in Deutschland bekannt gewordene Buch über Kissinger) in alle Richtungen zu schießen, zum Beispiel gegen Salman Rushdie und Edward Said. "His short, polemical work (it has no index, no bibliography, and just two footnotes) is a vigorous and comprehensive attack on the traducers of the Left, the false claimants on the Right, hostile feminists, and postmodernists who deny the existence of objective truth and spurn the value of linguistic clarity. Some of these battles are a little cold now, but some are worth reviving to show the foolishness and bad faith of a number of critics."

Weiteres: Zum Zeitpunkt des 50-jährigen Thron-Jubiläums der Königin Elisabeth macht Jonathan Clark im TLS die nationale Identität der Briten zum Thema. Er erinnert an den Aufruhr, der nach fast vierzig Jahren internationaler Modernität durch den Falklandkrieg bei den britischen Intellektuellen ausgelöst wurde, und an identitäre Debatten im postkolonialen Zeitalter. Zwei Bücher sind zum Thema erschienen: Richard Weights "Patriots - National identity in Britain 1940-2000" (mehr hier) und Robert Calls "Identity of England". Außerdem bespricht Michael Butler (recht positiv) Günter Grass' neues Buch "Im Krebsgang".

Nouvel Observateur (Frankreich), 06.06.2002

Zwei interessante Interviews sind in der aktuellen Ausgabe zu lesen. Im ersten erläutert der junge Philosoph Olivier Razac die Thesen seiner als "brillant" gelobten Studie "L'Ecran et le zoo". Darin analysiert er das so genannte "Reality-TV" a la "Big Brother" und ins Internet gestellte Webcam-Aufnahmen aus dem Privatleben als "zeitgenössischen Ersatz" für die längst überwunden geglaubten Präsentationsformen der früheren völkerkundlichen Inszenierungen und Vorführungen kolonialer Lebensformen. In den "Exoten-Ausstellungen" seien "vorgeblich abgesicherte Lebensweisen als authentisch" präsentiert worden, "obwohl in Wirklichkeit damit Menschentypen produziert werden, die einer ideologischen und politischen Situation dienlich sind". Die heutigen Talk- und Reality-Shows gäben im Vergleich dazu vor, der Öffentlichkeit "einen Spiegel vorzuhalten. Doch der Fernsehzuschauer vergleicht sich in Wirklichkeit vor allem mit Spezies aus zoologischer Produktion."

Im zweiten Interview kommt David Bowie zu Wort, dessen neues Album "Heathen" dieser Tage veröffentlicht wird (hier was zum reinhören). Bowie, inzwischen 55 und damit Altstar, gibt sich im Gespräch entsprechend altersweise und spricht vor allem über seine depressive Grundhaltung in den Anfangsjahren seiner Karriere und die Segnungen des Älterwerdens. Angst vor Veränderungen des Musikmarktes durch neue Vertriebswege wie z.B. das Internet hat er jedenfalls keine. Er rechnet fest damit, dass die Musik in Zukunft "für alle zugänglich und quasi-umsonst wie die Elektrizität" sein, also "wie das Glas Wasser aus dem Hahn" kommen wird (hat der Mann noch nie eine Stromrechnung bekommen?). Das bedeute zwar, dass "Urheberrechte nicht mehr existieren und Eigentumsrechte sich in irgend etwas noch Unbekannntes transformieren werden". Aber "auf der emotionalen Ebene begrüße ich diese Veränderungen, weil ich niemals Künstler sein wollte, um Dinge zu verhindern ... Ich wollte immer am Zeitgeist teilhaben. Wenn er sich verändert, um so besser, dann muss ich mich eben mit verändern."