Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
24.05.2005. Im Spiegel stellt Juli Zeh die Gretchenfrage. In Polityka findet Adam Krzeminski die Rebellion schöner Dreißigjähriger in deutschen Filmen eher kopflos. Der britische Spectator erkennt die Wiederkehr der drei hässlichen deutschen As. Die New York Review of Books erkundet das jüdische Jahrhundert. In Magyar Narancs erklärt Mihaly Dobrovits das Phänomen des Postgymnasiasten. Der New Yorker erklärt uns Intelligent Design. Für Prospect ist sexy shopping die neue Religion. Outlook India feiert mit einer Sondernummer den indischen Film. Le Monde diplomatique erklärt, wie man im Iran Lust auf Analverkehr signalisiert. Die New York Times sorgt sich um die Freiheitsrechte in Großbritannien.

Spiegel (Deutschland), 23.05.2005

Es geht politisch nicht mehr um links oder rechts, verkündet die Schriftstellerin Juli Zeh in einem lesenswerten Essay im Spiegel, sondern um Freiheit oder Sicherheit. "Es ist nicht der Mensch als Teil eines unmündigen, von Verkaufsstrategien manipulierten, ausgebeuteten und entmenschten Konsumentenkollektivs, der unsere Epoche prägt. Auch nicht der schafdumme Endverbraucher, den man zum Schutz vor sich selbst mit Verboten umstellen und erst wieder lehren muss, was der Sinn des Lebens ist. Viel eher leben wir doch in einem Zeitalter, das durch ein hohes Maß an allgemeiner Bildung und Aufgeklärtheit sowie durch eine weitgehende Verwirklichung von Freiheitsidealen gekennzeichnet ist." Die Gretchenfrage ist für Zeh daher: "Sehnen wir uns nach einer kleinen, sicheren Welt oder arbeiten wir weiter an dem Versuch, die Ränder der Chancengleichheit (und damit des Risikobereichs) möglichst weit auszudehnen - auch über staatliche Grenzen hinaus? Und wären wir bereit, für eines unserer alten oder neuen Ideale in materieller Hinsicht etwas aufzugeben? Wie wollen wir denn nun sein - stark, schön und erfolgreich oder edel, hilfreich und gut?"
Archiv: Spiegel
Stichwörter: Chancengleichheit, Zeh, Juli

Polityka (Polen), 23.05.2005

Adam Krzeminski analysiert die Rebellion der jungen Generation in deutschen Filmen der letzten Jahre und stellt fest, dass sich die Deutschen weiterhin wie in einem Drama von Schiller verhalten: "Das Drama der erfolglosen Rebellion gegen den Dämon dauert an, das Drama der edlen Räuber, die sich letztendlich als gemeine Mörder entpuppen". "Napola", "Die fetten Jahre sind vorbei", "Sophie Scholl - die letzten Tage", "Rosenstraße" und in gewisser Weise auch "Gegen die Wand" zeigen diese kopflose Suche nach einer Idee, die die Rebellion rechtfertigen würde - sei es durch Reminiszenzen an '68 oder durch die Auseinandersetzung mit den Großeltern, die zwar Schreckliches begangen haben, dafür aber wenigstens an etwas geglaubt haben. "Und so spielen die schönen Dreißigjährigen mit fremden Spielzeugen, durchstöbern die Familienalben und stellen sich vor, dass man aus reiner Neugierde (wie die Macher von 'Napola') ein bisschen 'Heil Hitler' rufen kann, um dann die Uniform abzulegen und aus dem Dritten Reich wie aus dem Kino rauszugehen. Aber man kann die Geschichte nicht einfach verlassen... Die Flucht in die Vergangenheit ist, genauso wie in Polen, ein Zeichen der Ratlosigkeit gegenüber der Geschichte. Und so werden die klügeren unter den Deutschlandkennern bemerken, dass eine gewisse Renationalisierung und das Selbstmitleid im deutschen Gesellschaftsdiskurs ein Zeichen von Schwäche ist, nicht von Stärke und Hochmut."

Außerdem: Jürgen Habermas plädiert im Interview für mehr europäischen Zusammenhalt jenseits der sozialen Egoismen. Der Schriftsteller Wiktor Jerofejew erklärt uns Russland: "Das heutige Russland ist wie ein Hippodrom, auf dem zwei Pferde laufen. Das eine ist das imperialistische Russland, das andere ist das Russland, das nicht an Putin, sondern an Geld, gute Autos, bequeme Häuser und Familienglück denkt. Dieses junge Russland wird aber von Putin nicht umgebracht - ich weiß selbst nicht warum, aber er tut es nicht." Und zu den polnisch-russischen Kontroversen schreibt Jerofejew: "Für euch Polen ist Geschichte etwas Konkretes, für uns ist sie ein Abstraktum. Die Geschichte ändert sich doch tagtäglich auf Geheiß der Politik: heute mag man Lenin nicht, dafür aber Stalin. Vor fünfzig Jahren, zu Zeiten Chruschtschows, war es umgekehrt. Wenn Lenin für Katyn verantwortlich wäre, würde man vielleicht abwinken und sagen: OK, es war ein Verbrechen. Aber bei Stalin ist es etwas anderes - wer Stalin beschuldigt, der greift Russland an. Deshalb wird es keine Entschuldigung geben."
Archiv: Polityka

Ozon (Polen), 19.05.2005

Wenn ein Ereignis als die Sternstunde Polens bezeichnet werden kann, dann die Entstehung der "Solidarnosc" und der damit eingeleitete Zusammenbruch des kommunistischen Systems. Die Protagonisten jener Zeit sind mittlerweile in drei verfeindete Lager geteilt, die unabhängig voneinander am 31. August in Danzig feiern werden. Joanna Lichocka und Tomasz P. Terlikowski finden dies zwar bedauerlich, fragen aber: "Warum sollten wir falsche Einigkeit demonstrieren, wenn keine Einigkeit da ist? Warum sollten wir so tun, als ob das Erbe der Solidarität von allen gleich interpretiert wird, besonders da die politischen Wege der Beteiligten so weit auseinander gegangen sind?"

Sind die Polen russophob? Von wegen! Aleksandra Wiecka beobachtet vor allem bei jungen Menschen eine neue Faszination für russische und ukrainische Literatur, weißrussischen Reggae und georgischen Wein. "In den letzten Jahren haben wir schon viel deutsches Bier getrunken und eine Menge Spaghetti und Hamburger gegessen. Wir kennen die politische Korrektheit und den Sex in der City. Wir haben Distanz gewonnen zu den Geschichten aus den russischen Lesebüchern, und manche wecken in uns schon sentimentale Gefühle. Wir beginnen, etwas Anderes zu entdecken: gemeinsame Wurzeln oder auch nur gemeinsame Erfahrungen."

Außerdem finden wir in dem Magazin ein Dossier zur europäischen Identität. Gibt es die wirklich? Junge Menschen aus verschiedenen Ländern werden nach ihrem Verhältnis zur EU befragt, woraus die Schlussfolgerung gezogen wird, dass Europa alles ist: die Summe der einzelnen Identitäten und der Unterschiede, der Euroenthusiasmus und Euroskeptizismus, das "Ja" und das "Nein" zur Verfassung. "Kein Fachmann für paneuropäische Propaganda wird daraus einen neuen, europäischen Menschen machen, weil die Europäer es nicht wollen. Wir alle sind tief in unserer Kultur, Sprache und Tradition verwurzelt. Und jeder kann in diesem vielstimmigen Gesang die Strophe singen, die ihm am nächsten ist."
Archiv: Ozon

Spectator (UK), 21.05.2005

Antiamerikanismus, Antikapitalimus, Antisemitismus. Die Wiederauferstehung der drei hässlichen deutschen As hat es bis auf den Titel geschafft. Die Demokratie ist beim europäischen Nachbarn nicht in Gefahr, beruhigt Wolfgang Munchau seine Leser. Sehr beglückt war er allerdings nicht beim letzten Besuch seines Heimatlandes. Vor allem die Heuschreckenkampagne von Franz Müntefering mit ihren antisemitischen Untertönen fand er mehr als unappetitlich. Dass Frankreich und Deutschland zur gleichen Zeit die gleichen Themen diskutieren, resultiere aus ihrem gemeinsamen, aber vergeblichen wie verhängnisvollen Widerstand gegen die Globalisierung. "Sie sind gegen den anglo-amerikanischen Kapitalismus, ausländische Übernahmen, freie Märkte, niedrige Unternehmenssteuern, und vor allem mögen sie Herrn Bush nicht. Zusammen haben Frankreich und Deutschland es geschafft, den Stabilitätspakt zu beseitigen. Sie sind zu einer Allianz der Neinsager geworden." Irgendwann werden sie die freie Marktwirtschaft akzeptieren, prophezeit Munchau - "aber das kann noch dauern".

Ross Clark warnt vor den immer häufiger ausgesprochenen Anti-Social-Behaviour-Orders, mit denen die Engländer ihren liebevoll exzentrischen Ruf verspielen. David Boag etwa musste vier Monate ins Gefängnis. "Er schaut sich gerne 'American Werewolf in London' an, um danach ein wenig zu heulen. Nicht nur das, Nachbarn, die sich seiner Beobachtung verschrieben haben, sahen ihn durch seine vorhanglosen Fenster, wie er auf einen Schemel stieg, auf sein Sofa sprang und dann mit einem Weihnachtsbaum im Zimmer herumtanzte. Ob Herr Boag ein bisschen verrückt ist oder nur exzentrisch, kann ich nicht beurteilen. Vielleicht sollte er ein paar Mädchen kennenlernen oder seinen filmischen Horizont ein wenig erweitern. Was Herr Boag wirklich nicht gebraucht hat, ist der Knast, aber genau dort landete er schließlich."
Archiv: Spectator

The Nation (USA), 06.06.2005

Sartre hat den Existentialismus mit seinem irrationalen Stolz ausgehöhlt, meint Norman Mailer, der den französischen Philosophen trotz allem hemmungslos bewundert. The Nation druckt Mailers Geburtstagsgrüße, die ursprünglich in der Pariser Tageszeitung Liberation erschienen sind. Sartre "behagte sein Atheismus, obwohl er kein Fundament besaß, auf dem er seine philosophischen Füße setzen konnte. Zur Hölle damit, er brauchte es nicht. Er konnte in der Schwebe überleben. Wir sind Franzosen, sagte er immer. Wir haben Geist, wir können mit dem Absurden leben, ohne nach einer Belohnung zu fragen. Weil wir vornehm genug sind, mit der Leere zu leben, und stark genug, einen Kurs zu wählen, für den wir sogar sterben würden. Und wir werden das alles in voller Missachtung der Tatsache tun, dass wir keinen Boden unter den Füßen haben. Wir brauchen kein Jenseits."

In einem weiteren Artikel verneigt sich Greg Sargent vor der "Marke Hillary".
Archiv: The Nation
Stichwörter: Atheismus, Mailer, Norman

New York Review of Books (USA), 09.06.2005

Mark Danner sieht aus London den Beweis erbracht, dass für die amerikanische Regierung bereits im Juli 2002 der Krieg gegen den Irak beschlossene Sache war. Er zitiert ein Memorandum aus Downing Street, das ein Treffen ranghoher Politiker und Berater protokolliert: "C (der Chef des MI6) berichtete von seinen jüngsten Gesprächen Washington. Dort gab es eine merkliche Veränderung in der Einstellung. Militärische Aktionen wurden nun als unvermeidlich angesehen. Bush wollte Saddam militärisch stürzen, was durch seine Verbindung zu Terrorismus und Massenvernichtungswaffen gerechtfertigt werden sollte. Die Geheimdienstinformationen und Fakten wurden um die politische Linie herum zurechtgezimmert. Der Nationale Sicherheitsrat hatte keine Geduld mit der UN-Linie und war von der Idee nicht begeistert, Material über das Verhalten des Regimes zu veröffentlichen. Es gab in Washington wenig Diskussion über eine Nachkriegspolitik."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Michael Chabon bekennt, was er beim Schreiben seines ersten Romans fühlte: "Etwas, was (zumindest von meiner Seite aus) der tiefen, leidenschaftlichen, physischen und intellektuellen Liebe näher kam als alles, was ich bisher einem Menschen gegenüber empfunden hatte." Der britische Historiker Orlando Figes stellt Yuri Slezkines Buch "The Jewish Century", das er brillant, aber nicht ganz unproblematisch findet: "Slezkine argumentiert, dass das moderne Zeitalter das jüdische Zeitalter ist, und das zwanzigste Jahrhundert das jüdische Jahrhundert, weil Modernisierung bedeutet, 'städtisch zu werden, mobil, gebildet, artikuliert, intellektuell, physisch verwöhnt und beruflich flexibel. Es geht darum, Menschen und Symbole zu kultivieren, nicht Felder und Herden'."

Das eingeschriebene Nahost-Duo Hussein Agha und Robert Malley gibt einen Ausblick auf die anstehen Parlamentswahlen in Palästina. Joan Didion bearbeitet den Fall Terri Schiavo nach. Joan Acocella stellt Marilynne Robinsons neuen Roman "Gilead" vor.

Elet es Irodalom (Ungarn), 20.05.2005

Der ungarische Schriftsteller Istvan Eörsi meint, dass die Medien die ungarische Gesellschaft allmählich entpolitisieren: "Wir trauern über jeden Verkehrsunfall, wir freuen uns, wenn ein Kind aus dem Fluss gerettet wird. In dieser Welt hat die Politik kaum noch einen Platz." Das erinnert Eörsi an die Kommunikationsstrategie des Gulaschkommunismus, der den Staatsbürger "nicht überzeugen, sondern entpolitisieren" wollte: "Natürlich gibt es heute keine zentrale Macht mehr, die sich die Entpolitisierung der Bürger zum Ziel gesetzt hat. Aber auch ohne sie lagert sich der Geist des Kadar-Regimes allmählich auf das Land, fast ohne jeglichen Widerstand. Das Ansehen der Politik ist schwer beschädigt. Die politische Leidenschaft, diese spezifische Form der Suche nach Wahrheit hat ihren Wert verloren. ... Unter dem Kadar-Regime ging es dem Staatsbürger am besten, wenn er sich anpasste. Jetzt gibt es zwei politische Lager, an die er sich anpassen kann, wenn er will. Aber Anpassung ist keine Politik. Wer sich anpasst, den interessieren die eigentlichen Ereignisse nicht, die auf unser Leben Einfluss nehmen."

Am Budapester Donauufer, unweit vom Parlament und dem Mahnmal der 1944 hier erschossenen Juden, wurde eine Statue von Istvan Bibo, Historiker, Sozialwissenschaftler und Verfasser von "Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei", eingeweiht. Der Schriftsteller und Essayist Ivan Sandor findet sein geistiges Erbe höchst aktuell und zu Unrecht wenig bekannt: "Bibo hat vor allem interessiert, wie eine größere Menschengruppe, zum Beispiel eine Nation, irreführende Erfahrungen über sich selbst und die Außenwelt entwickelt; wie Abwehrreaktionen und Sündenböcke entstehen; wie die 'eingefrorene Vergangenheit' zum Sprechen gebracht werden kann und wie sich familiäre und individuelle Erinnerungen dazu verhalten. Ein halbes Jahrhundert vor den modernen Historikerdebatten erkannte er, dass es notwendig ist, zwischen offiziellen und privaten Erinnerungskulturen zu unterscheiden, ihre Widersprüche zu hinterfragen, 'leere' Räume zu analysieren, in denen man keine Antworten findet, weil in ihnen die 'offiziellen' Geschichtsbilder unterschiedlicher Machtinteressen einander auslöschten."

Günter Grass und Imre Kertesz wurde die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin verliehen. Das ES-Magazin druckt die Laudatio von Joachim Küpper an den ungarischen Schriftsteller (hier im Original).

Magyar Narancs (Ungarn), 19.05.2005

In einem Gespräch über das Verhältnis der Architektur zur Politik und Wirtschaft blickt Peter Eisenman (mehr hier) auf den Terroranschlag gegen das World Trade Center zurück: "Es war ein sorgfältig geplantes Medienereignis: das zweite Flugzeug kam genau eine halbe Stunde später, als das erste, so dass die ganze Welt live verfolgen konnte, wie es gegen den zweiten Turm prallte. Etwas Spektakuläreres kann ich mir kaum vorstellen ... Eine der wichtigsten Ursachen des 11. September war in meiner Sicht, dass die Architektur zu spektakulär und herausfordernd geworden ist. Sie strebte immer weiter in die Höhe, sie wollte immer hinreißender sein, gleichzeitig symbolisierte sie die korrumpierende Macht des Kapitals in der Welt. Für mich war der Zusammensturz der Twin Tower der letzte Akt im Zeitalter der Spektakel."

In einem witzigen Beitrag entwirft der Publizist Mihaly Dobrovits das Bild des "Postgymnasiasten", ein typisches Verhaltensmuster von Menschen in Ungarn, die vor 1989 aus einer oppositionellen Haltung heraus alle gesellschaftlichen Regeln ignorierten - und sich diese Einstellung sogar sechzehn Jahre nach der Wende nicht abgewöhnen können. Ihre normalerweise für die Adoleszenz charakteristische Sichtweise "teilt die Welt in zwei Kategorien: eine kleine Gruppe guter Freunde steht der feindlichen bzw. unberechenbaren Außenwelt gegenüber. Der Postgymnasiast bastelt sich gerne eine Lebensgeschichte zusammen, in der er die Rolle des unschuldigen Opfers oder des sich mutig der 'Macht' widersetzenden, einsamen Draufgängers spielt. .. Die Tragik dieser Menschen verbirgt sich darin, dass sie das Wichtigste nicht bemerken: sie können die Außenwelt frei nach Robin Hood zwar immer wieder hereinlegen, aber die Welt ist genau deshalb so unerträglich, weil auch die vielen anderen Kumpels die Spielregeln austricksen."

In Ungarn wird bald ein neues Staatsoberhaupt gewählt. Aus diesem Anlass vergleicht der Journalist Ferenc Laszlo die Biografien der ostmitteleuropäischen Staatsoberhäupter. In den neuen EU-Mitgliedestaaten wurden laut Verfasser erstens ehemalige Emigranten (z.B. Valdas Adamkus in Litauen oder Vaira Vike-Freiberga in Lettland), zweitens während der Wende eine wichtige Rolle spielenden Reformsozialisten (z.B. Aleksander Kwasniewski in Polen) zum Staatsoberhaupt gewählt. Die dritte wichtige Gruppe bilden die Revolutionäre: Lech Walesa in Polen, Vytautas Landsbergis in Litauen, Vaclav Havel in Tschechien und Lennart Meri in Estland. "Sie waren Outsider in der Politik - Schriftsteller, Hochschullehrer, Elektriker -, aber sie absolvierten den zweiten Abschluss als Staatsmann auch sehr erfolgreich."
Archiv: Magyar Narancs

New Yorker (USA), 30.05.2005

In einem ausführlichen Artikel berichtet H. Allen Orr über die "Pseudowissenschaft" intelligentes Design (I.D., mehr), die in den USA in mehr als zwanzig Staaten entweder bereits auf dem Lehrplan steht oder eingeführt werden soll. Die Vertreter von I.D. gehen davon aus, dass sich die Evolution mit Darwin allein nicht erklären lässt und ein oder mehrere "intelligente" Wesen die Welt geschaffen hätten. "Zunächst ist intelligentes Design nicht das, wofür die Leute es oft halten. So ist I.D. kein reiner Bibelglaube. Anders als frühere Generationen von Schöpfungsgläubigen - etwa die so genannten Young Earthers und die Scientific Creationists - glauben die Vertreter von I.D. nicht, dass das Universum in sechs Tagen erschaffen wurde oder die Erde 10.000 Jahre alt ist." Auch den Evolutionsgedanken lehne I.D. "nicht rundheraus ab ... Der entscheidende Kern ihrer Behauptung ist die Überzeugung, dass es Dinge in der Welt gibt, vor allem das Leben selbst, die keinen bekannten natürlichen Ursachen zuzurechnen sind und Eigenschaften aufweisen, die wir in anderem Zusammenhang mit Intelligenz in Verbindung bringen. Lebende Organismen sind zu komplex, um mit etwas Natürlichem, oder genauer: durch etwas Verstandfreies, erklärt werden zu können."

Weiteres: Hendrik Hertzberg kommentiert die fatale Falschmeldung von Newsweek über angebliche Koran-Schändungen in Guantanamo. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Russian Riviera" von David Bezmozgis.

Rezensiert wird eine Kulturgeschichte der Nacht "At Day's Close: Night in Times Past" (Norton); die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einem Buch des langjährigen Herausgebers der Zeitschrift "The Nation" Victor S. Navasky über die Bedeutung meinungsbildender Printmedien. Peter Schjeldahl führt durch eine große Ausstellung mit neuen Arbeiten von Jasper Johns in der Galerie Matthew Marks. David Denby sah im Kino den DreamWorks-Zeichentrickfilm "Madagascar" von Eric Darnell and Tom McGrath und Volker Schlöndorffs "Der 9. Tag": "Der Film ist stark, konzise und spannend bis zum Ende", schreibt Denby, der sich zu Beginn seiner Gesicht ausführlich dem faszinierenden Gesicht von Ulrich Matthes widmet. "Es ist etwas Verstörendes, ja Unheimliches an ihm - er könnte einer von El Grecos Heiligen sein."

Nur in der Printausgabe: Überlegungen zur Frage, ob auf Ground Zero Wohnhäuser gebaut werden sollten, ein Porträt des Senators von Arizona, John McCaine, und Lyrik von Donald Hall und Sharon Olds.
Archiv: New Yorker

Prospect (UK), 01.06.2005

Ist die Zeit der ikonischen Gebäude wie Norman Fosters Salzgurke in London oder Frank Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao schon wieder vorüber? Die beiden Architekturkritiker Deyan Sudjic und Charles Jencks diskutieren die Frage in einem langen Briefwechsel. Jencks argumentiert, dass die repräsentativen Bauten den vakanten Platz des Glaubens einnehmen. "Der Niedergang der Religion ist ein Schlüsselmoment in der Verehrung der Ikonen, aber genauso wichtig ist der Niedergang aller Ideologien und gemeinsamen Werte. 'Schwacher Glaube' charakterisiert die globale Kultur. Der schwache Glaube resultiert im Bereich der Kunst darin, meint Arthur Danto, dass 'alles Kunst sein kann'. Auf die Architektur trifft die Analogie zu: alles kann ein ikonisches Gebäude sein. Denken sie an das Prada-Haus in Tokyo, ein 60 Millionen Dollar schwerer Plastik-'Kristall' zum Einkaufen, oder Selfridges in Birmingham, das sich an die 'Titten und Ärsche' derer anlehnt, die drinnen Kleidung anprobieren. Letzteres ist gleich neben einer Kirche, die es überragt, ein treffliches Symbol für die Art undf Wesie, in der Sexy-Shopping die Religion ersetzt hat."

Linda Colley gratuliert Anatol Lieven zu seiner Analyse des amerikanischen Nationalismus in "America Right or Wrong?". Für Lieven drohe "die Hyperaktivität und der Nationalismus der USA, den Status quo zu zerstören, statt ihn zu konsolidieren. Insofern vergleicht er das gegenwärtige Amerika mit Großbritannien und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Damals fühlten diese beiden europäischen Reiche sich ihrer Macht unsicher, bedroht und benachteiligt. Daraus folgte, dass sie diese Unsicherheit auf eine Art und Weise überkompensierten, die sich als zerstörerisch - für sich selbst und für andere - erwies."

Weitere Artikel: Angesichts des Booms, den biologistische Erklärungen von vermeintlich geschlechterspezifischen Fähigkeiten derzeit erfahren, macht Natasha Walter deutlich, wie selektiv mit den Ergebnissen aus der Geschlechterforschung umgegangen wird, und schlägt sich auf die Seite der Kultur: "Wenn wir Menschen irgendetwas von Geburt an sind, dann von Geburt an anpassungsfähig." Daniel Johnson zeichnet nach, warum sich das Schachspiel während des Kalten Krieges einer so großen Beliebtheit erfreute und selbst zum Austragungsort des ideologischen Wettstreits wurde. Bartle Bull berichtet, wie Muktada al-Sadrs Shia-Rebellen ihre ersten Schritte auf demokratischem Boden wagen. Und Fintan O'Toole erfreut sich an John Banvilles Maler-Roman "The Sea" sowie an seiner Art, vor den "alten klirrenden Knochen" des Irischseins zu fliehen, die ihn erst recht zum Iren macht.
Archiv: Prospect

Guardian (UK), 21.05.2005

Aus einer Bierlaune heraus hatten Caryl Phillips (Homepage) und Kollege Russell Banks beschlossen, den Kilimanjaro zu besteigen - über die schwierige Machame-Route. Während des Aufstiegs, über den er ausführlich und recht unterhaltsam berichtet, verflucht er diese voreilige Entscheidung nicht nur einmal. "Um genau 11 Uhr abends erschien ein Träger mit Tee und Keksen. Während ich ein paar Schlucke Tee hinunterzwang, lächelte er und sagte. 'Wenn alles gut läuft, gipfeln Sie in der Morgendämmerung.' Nachdem er mir ein neues Verb vorgestellt hatte, verschwand er, und ich trat heraus in die eiskalte Nachtluft und schaute mich um. Russell stolperte aus seinem Zelt heraus. 'Was haben wir gegessen?' Es war also keine Einbildung gewesen; zu allem Überfluss hatten wir uns jetzt auch noch eine Lebensmittelvergiftung eingefangen."

Auch wenn es stellenweise etwas zusammengewürfelt anmutet, feiert John Banville Simon Blackburns Traktat über die Wahrheit ("Truth") als Buch der Woche. Zum einen ist Blackburn "gelehrt, scharfsinnig, bewundernswert sensibel und verfügt über eine elegante und klare Schreibe". Zum anderen gefällt dem Rezensenten Blackburns Plädoyer für klare Positionen. "Ohne eine Verteidigung gegen Postmoderne und Zynismus, Multikulti und Relativismus werden wir alle zusammen zur Hölle fahren."

Ein ausführliches Porträt widmet Susanna Rustin der Journalistin und Autorin Joan Didion, der berühmten Chronistin der Sechziger. Im Laufe des Jahres wird Zoe Hellers neue Biografie Didions erscheinen. Beeindruckt zeigt sich außerdem James Buchan von Adam Thorpes Roman "Rules of Perspective" rund um die Nazis und die Kunst. Er bescheinigt Thorpe ein seltenes "Gespür für die bürokratische Kultur der Deutschen".
Archiv: Guardian

Outlook India (Indien), 30.05.2005

"Die Schildkröte kommt nur voran, wenn sie ihren Hals aus dem Panzer streckt." Die Schildkröte ist das indische Kino, und Outlook widmet eine ganze Ausgabe der Frage, wie weit sie in den vergangenen zehn Jahren ihren Hals gereckt hat, wo sie das hingebracht hat - und ob das Risiko des entblößten Nackens sich ausgezahlt hat. Sandipan Deb, der die Sondernummer einleitet, ist ganz entschieden enthusiastisch - nicht, weil etwa alle Filme oder auch nur alle Konzepte gut waren, sondern weil alles Mögliche und Unmögliche probiert und der Tiefschlaf der Achtziger - für Deb eine Dekade der Saturierung und der Imitate - überwunden wurde. "Die Neunziger sprangen aus dem Bett und machten ein Dutzend Liegestütze", und anschließend probierten sie etwas Neues aus. Und mit einem Mal erschienen nicht nur die seltsamsten Filme, sondern spielten auch noch Geld ein!

Rahul Bose, erfolgreich als Regisseur und Schauspieler, singt eine geradezu lyrische Hymne auf die "Magie des Kinos". "Hin und wieder passiert es, und ein herrlich ahnungsloser Filmemacher vermeidet fröhlich die Gefahr, kommerziellen und kritischen Erfolg vermählen zu wollen, um einen Film machen, dem am Ende genau das gelingt. Und dann bricht die Hölle los. Die Puritaner beharren darauf, dass der Film eigentlich nicht gut ist, sonst würden nicht Horden von geschminkten Teenagern in die Kinos strömen. Die Ketzer entgegnen, dass der prätentiöse Charakter des Films nur clever unter einer Schicht Sentimentalität verborgen liegt. Und dann, eines Tages, geht eine arme, ungeliebte, unvorstellbar zerbrechliche Frau ins Kino. Und während sie den Film sieht, werden ihre Kleider abfallen und ein Abendkleid aus Gaze enthüllen. Die Linien in ihrem Gesicht werden von Engelsstaub überzogen. Goldene Slipper werden ihre schmutzigen Fußnägel säubern. Und ihr Haar wird unter dem Gewicht einer Krone schmiegsam werden. Eine Krone, die ihr von einem Film geschenkt wid, der ihr Herz und ihren Kopf mit gleicher Leichtigkeit hört, und ein Filmemacher, der nie vergisst, alles, was sie je gesagt hat, mit Respekt zu behandeln."

Weitere Artikel: N. Chandra Mohan sondiert die Lage des indischen Films auf dem Weltmarkt. Jerry Pinto schreibt eine kleine, aber scharfzüngige Geschichte der regressiven Werte im neueren Hindi-Film. Bhavani Iyer sucht die Erklärung für die Vorliebe zum Melodrama im indischen Nationalcharakter, doch eigentlich will er gar nichts erklären: "Die Intellektualisierung von etwas, das beinahe ein organischer Reflex ist, führt am Ende wahrscheinlich zu einer Vereinfachung einer sehr komplizierten Sache. Oder zu einer Verkomplizierung einer der einfach. Ergo: Lasst die Tränen fließen!"

Zu den Stars: Die redaktionelle Auszeichnung in Form des Titelbildes für den "Interessantesten Star der Dekade" wurde ausgerechnet Aamir Khan verliehen, dem "Filmstar, der ein Filmstar ist, weil er sehr wenige Filme macht", wie Namrata Joshi in ihrem Porträt schreibt. Der Erfolg hat, indem er bei seinem Schauspiel keine Kompromisse eingeht. Der jede "Imagefalle" vermeidet. Der Method-Actor, im Film wie im Leben. Nasreen Munni Kabir hat Shah Rukh Khan auf einer US-Tour begleitet und musste an die Beatlemania denken. Die Autorin und Fernsehproduzentin Aparajita Krishna erinnert sich traurig an den Amitabh Bachchan der späten 60er Jahre, als ihm seine, wie sie schreibt, Figuren noch nicht "abhanden gekommen" waren. Später sah er blendender aus, okay, aber: "Er erinnerte mich nicht mehr an einen Onkel, den ich mal kannte, an eine Scheu, die ich gesehen, und einen Zorn, an dem ich vorbeigeeilt war." Und Sanjay Suri fragt sich, wo die Schauspielerinnen geblieben sind, von denen man noch nicht im Plural redete: "Irgendwann in den vergangenen zehn Jahren hat sich das, was der indische Film sein könnte, in einen Laufsteg aus Zelluloid verwandelt. (?)Niemand schaut sich mehr einen Film an, in dem Aishwarya Rai mitspielt. Wir setzen uns hin und schlagen das neueste Aishwarya-Rai-Bilderalbum auf."

Des weiteren stellt Suveen K. Sinha einige der neuen Gesangsstimmen der Filmmusik vor und ist froh, dass sie sich nach sieben langen Jahrzehnten endlich mal anders anhören als Mohammed Rafi, Mukesh oder Kishore Kumar. Und zuguterletzt noch ein Blick über die Grenzen von Bombay: Labonita Ghosh liefert eine Zustandsbeschreibung des bengalischen Kinos, dass Jahrzehnte nach den großen Zeiten von Mrinal Sen, Satyajit Ray und Ritwik Ghatak eine seltsame Doppelexistenz führt. Sehr kommerzielle Filme auf der einen und sehr kompromissloses Autorenkino auf der anderen Seite - "Tollywood ist schizophren geworden". Ach, könnte jemand mal so ein Heft über den deutschen Film machen, bitte?
Archiv: Outlook India

New York Times (USA), 22.05.2005

Mit Verve verreißt Christopher Hitchens den "Johns Hopkins Guide to Literary Theory and Criticism", den er als Symbol einer elitär-verschwurbelten Sprachwissenschaft geißelt, die zuviel Foucault und Derrida gelesen hat. "Die Franzosen haben einen Ausdruck für diese Sorte Prosa: la langue de bois, die hölzerne Zunge, mit der nicht Nützliches oder Erhellendes gesagt werden kann, die aber mannigfaltige Entschuldigungen für das Beliebige und Unehrliche bietet."

Weitere Artikel: In einem kurzen Essay enttarnt Jeff Shesol die Legendenbildung, die um Ronald Reagan betrieben wird, als Mittel, um ganz aktuelle Ziele zu rechtfertigen. Geoff Nicholson musste bei Caleb Carrs hochoffiziell genehmigtem und sehr ernst gemeintem neuen Sherlock-Holmes-Abenteuer "The Italian Secretary" trotz allem an die Simpsons denken. Grausam und doch blutleer kommt Chuck Palahniuks neuer Roman "Haunted" daher, seufzt Tom Shone, der den Gothic-Erneuerer und "Fight Club"-Autor Palahniuk bisher mit Interesse verfolgt hat. 75 Millionen Fans soll die Autorennserie Nascar in den USA schon haben, staunt Jonathan Miles, der aus diesem Anlass zwei der wenigen literarischen Annäherungen an die Welt der Im-Kreis-Raser vorstellt.

Christopher Caldwell sorgt sich im New York Times Magazine um die britischen Freiheitsrechte: Auf der Grundlage von anti-social behavior orders können dort erstaunliche Eingriffe in das Privatleben unliebsamer Bürger vorgenommen werden. "Es gibt eine steigende Tendenz, Leuten genau das zu verbieten, was sie früher nach dem Motto 'Es ist ein freies Land' getan haben", wie zum Beispiel laute Musik hören, Graffitis malen oder betteln. "Man muss die Übertretung nicht einmal selbst begehen. Es wurde vorgeschlagen, Hundebesitzer für einen widerspenstigen Hund zu bestrafen und Eltern für das Schuleschwänzen oder Vergehen ihrer Kinder. Die Dinge verkomplizierten sich noch letztes Jahr, als Aktivisten das House of Lords beinahe überzeugt hätten, Eltern zu verbieten, ihren Kindern eins auf den Hintern geben. Es muss den fassungslosen Eltern so vorkommen, als würden sie bald in jedem Fall strafrechtlich verantwortlich gemacht, mal weil sie ihre Kinder disziplinieren, mal weil sie es nicht tun."

Weiteres: Michael Sokolove porträtiert in der Titelreportage Senator Rick Santorum, den nach George Bush wichtigsten religiösen Politiker der USA. Der 47-jährige Santorum gilt mittlerweile als einflussreicher Impulsgeber der republikanischen Partei. Und Alex Witchel bewundert die Autorin und Produzentengattin Gigi Levangie Grazer, die nicht nur reich, sondern auch geistreich zu sein scheint.
Archiv: New York Times