Magazinrundschau

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Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
01.12.2015. New Criterion analysiert das neue britische nature writing. Im Merkur erklärt der Anthropologe Philippe Descola, warum man bei Naturvölkern keine Natur findet. Mehr Hamlet, weniger Fortinbras empiehlt der Psychiater Péter Hunčík in Nepszabadsag den Osteuropäern. Besitzen Schwarze wirklich keinerlei individuelle Handlungsmacht, fragt erstaunt die LRB. Die Fast Company reist ins Facebook-Land. Der Guardian reist nach Mali.

New Criterion (USA), 01.12.2015

In einem schönen, mit vielen Beispielen angereicherten Artikel beschreibt Dominic Green die Höhepunkte englischen "natur writings" von seinem Anfang im 18. Jahrhundert bis zu seinem endgültigen Niedergang in den 1970er Jahren, als diese Art von Literatur nur noch an das alte sterbende England erinnerte. Doch plötzlich zeigt die Leiche wieder Leben, überall ploppen neue "nature writer" aus dem Boden. Ebenso ihre Kritiker. Das hat schon seine Richtigkeit, findet Green. "Es gibt eine Identitätskrise in Britannien. Schon das Wort 'Britannien' verliert seine politische Bedeutung und kehrt zu einer rein geografischen zurück. Die es konstituierenden Nationen kehren zurück in ihr Revier, sumpfig oder nicht, voller Bitterkeit über die Tyrannei Londons und den anscheinend endlosen Zustrom von Immigranten. Die Engländer verlassen London: Die große Verstädterung ist, jedenfalls für sie, zu Ende. Die Emigranten, die auf das Land zurückkehren, sprechen von London wie von einem Fremdkörper: Kopf und Körper sind getrennt, die Commons verlieren ihre gemeinsame Sprache." Mehr von den neuen "nature writers" findet man im neuen Granta-Heft.
Archiv: New Criterion

Merkur (Deutschland), 01.12.2015

Im Gespräch mit Cord Riechelmann und Danilo Schulz erzählt der Anthropologe Philippe Descola, wie er am Amazonas lernte, ein neues Verhältnis zur Natur und zum Nicht-Menschlichen zu entwickeln: "Was mir besonders an der ethnografischen Literatur zu den Indigenen am Amazonas auffiel, war, dass immer von einer sehr speziellen Haltung zur Natur die Rede war. Und dann ging ich zu den Achuar und stellte fest, dass es da überhaupt keine Natur gab. Es war im Gegenteil so, dass die meisten nicht-menschlichen Akteure Teil der Gesellschaft waren, es gab also gar keine Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft, und was die meisten der früheren Beobachter als 'in die Natur eingebettete Menschen' beschrieben hatten, bedeutete einfach, dass es in diesem Teil der Welt eine ganz andere Wahrnehmung der Verbindung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren gab."

Stefanie Diekmann liest Neuerscheinungen zu Roland Barthes, vor allem Tiphanie Samoyaults Biografie, und erkennt, dass ausgerechnet Barthes, der das Denken so erotisch auflud, mit seinem eigenen Körper haderte. Durchaus Narzisstisches erkennt sie an seinen ständigen Diäten: "Die Herstellung einer Physis, die den Qualitäten des Leichten, Trockenen, Zerstreuten, von der die Texte mit Vorliebe handeln, so weit wie möglich entspricht, und die umgekehrt von den Qualitäten des Schweren, Feuchten, Kompakten befreit wird."
Archiv: Merkur

Nepszabadsag (Ungarn), 29.11.2015

Der einstiger Berater von Václav Havel, der in der Slowakei lebende ungarische Schriftsteller und Psychiater Péter Hunčík, nimmt fünfundzwanzig Jahre nach der "samtenen Revolution" die Visegrád-Länder in Augenschein und vergleicht die unterschiedlichen Auffassungen zwischen Ost- und Westeuropa: "Die Werteordnung der Visegrád-Länder wurde in der letzten Zeit stark verändert. Höhere Emotionen und komplizierte menschliche Beziehungen haben keinen Platz mehr. Das Wesen ihrer Philosophie könnte gar in einem Satz zusammengefasst werden: Gebt uns Geld und lasst uns in Ruhe. (...) Der europäische Mensch mag Angelegenheiten besprechen. Wenn er in Probleme gerät, denkt er nach und beginnt mit Verhandlungen, ganz wie Hamlet. Wir im Osten betrachten jedoch Verhandlungen als Erniedrigung. Wir suchen nicht nach Kompromissen, sondern wollen stets siegen. Das Vorbild von Ost-Europa ist nicht Hamlet, sondern der starke Fortinbras. Es wäre Zeit dies zu überdenken."
Archiv: Nepszabadsag

London Review of Books (UK), 03.12.2015

Warum spricht Ta-Nehisi Coates eigentlich nicht von Rassismus, sondern nur von weißer Vorherrschaft? fragt der amerikanische Publizist Thomas Chatterton Williams. Warum kennt er nur Strukturen, keine Menschen, und Schwarze nur als Opfer? Als führte der Weg zu Freiheit und Gleichheit über die Infantilisierung: "Für ihn sind Rassismus und Ungleichheit, die ja trotz aller unleugbaren Fortschritte in Sachen Gleichberechtigung in den USA weiter bestehen, vollkommen unverrückbar, eine unpersönliche Macht, eine Naturkatastrophe, für die niemand zur Verantwortung gezogen werden kann ... Nicht nur die schwarzen Jugendliche in Problemvierteln sind vom Pech verfolgte Automaten. In Coates' Sicht besitzt niemand Handlungsmacht. Der junge Schwarze, der herumballert, muss sich keine Gedanken über sein Handeln machen, denn 'das Universum spielt mit gezinkten Würfeln'. Alarmierend, wenn auch beruhigend für ein weißes Publikum, ist, dass nach dieser Analyse auch Weiße nicht wirklich individuelle Akteure sind."

David Runciman liest den zweiten Teil von Charles Moores voluminöser Thatcher-Biografie. Mary-Kay Wilmers huldigt der großen Dichterin Marianne Moore, die ihr lang eine glückliche Jungfer und die Tochter ihrer Mutter blieb.

La vie des idees (Frankreich), 23.11.2015

Zur düsteren Rückseite des amerikanischen Traums gehört neben dem Rassismus und eng damit zusammenhängend das Karzeralsystem, das Yasmine Bouagga in La Vie des Idées eindringlich schildert. Zwar sind Anzeichen einer Einkehr von institutioneller Seite erkennbar, aber noch sind die Statisken bestürzend: "Der zunehmende Einsatz von Isolationshaft überrascht angesichts des gleichzeitigen Massenwachstums der Gefängnisse. In der Tat haben sich amerikanische Gefängnisse in einer Periode immer weiter zunehmender Gefängnispopulation besondere Einrichtungen für die Isolationshaft gebaut. Noch in den siebziger Jahren hatte Amerika Gefangenenzahlen, die mit den westeuropäischen Zahlen vergleichbar waren, nach 2000 haben die Vereinigten Staaten mit insgesamt einem von hundert männlichen Einwohnern im Gefängnis eine Gefangennrate, die fünf bis zehnmal höher ist als in Europa." Insgesamt zwei Millionen Menschen sind in den USA im Gefängnis - ein Viertel der weltweiten Gefängnispopulation. Ganze Gefängnisse dienen der Isolierung von Gefangenen im "Supermax"-Regime - mit einer Stunde isoliertem Freigang in einem Hof ohne Aussicht. Viele geistig Behinderte müssen dieses Regime ertragen. Die Selbstmordrate ist exorbitant. Die Gefangenen sind der Willkür und Gewalt des Personals ausgesetzt.

Im Gespräch mit Florent Guénard bezweifelt der Rechtshistoriker François Saint-Bonnet den Sinn des Ausnahmezustands im Kampf gegen den Terrorismus. Er gelte in Frankreich zwar als Gegenmittel zu Krisensituationen aller Art, müsse für den aktuellen Terrorismus aber keineswegs die richtige Lösung sein. Saint-Bonnet warnt vor allem davor, mühsam entwickelte, moderne Rechtsprinzipien zu verwässern und aufzuweichen. "Der Weg wäre, ex nihilo ein spezifisches auf dschihadistische Terroristen anwendbares Recht zu entwickeln, das weder das Strafrecht noch internationales Recht (Kriegsrecht) verletzt. Voraussetzung dafür wäre dann, diese Dschihadisten mit so absolut präzisen Kritierien wie möglich zu bestimmen ... um nicht ein zu großes Netz aufzumachen, in dem sich Menschen verfangen könnten, die nichts mit dem Terrorismus zu tun haben - wie man es in den USA in den Nullerjahren beklagen konnte."

Ceska pozice (Tschechien), 29.11.2015

Der Terror in Syrien und Irak hat nichts mit dem Islam zu tun, beteuert der iranische Schriftsteller Mahmud Doulatabadi in einem Anfang November geführten Gespräch mit Přemysl Houda, und bezeichnet die IS-Dschihadisten als "neuzeitliche Gladiatoren". Auch die früheren Gladiatoren, freilich Sklaven, "stammten aus den verschiedensten Kulturen, sprachen unterschiedliche Sprachen und glaubten an alles Mögliche. Nach Syrien und in den Irak kommen jetzt ebenfalls Menschen aus allen Ecken der Welt. Wir wissen nicht genau, woher und wie viele es sind. Wir wissen nur, dass sie kämpfen - aber wofür kämpfen sie eigentlich? Vielleicht kämpfen sie nur für den Kampf selbst, ich weiß es nicht. Ich weiß aber, dass es unter ihnen keine Iraner gibt. Unter ihnen sind Leute aus Russland, Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. Aber aus dem Iran? Ich habe von keinem Einzigen gehört! Aber zur Vereinfachung wird ein Etikett darauf geklebt - in diesem Fall der Islam. Leider. Mich würde viel mehr interessieren, was sich unter diesem Etikett verbirgt. Das interessiert aber kaum jemanden. Dabei gibt es einen Unterschied zwischen dem, was sich auf der Flagge, und dem, was sich im Herzen befindet. Sicher ist, dass sie den Islam auf ihre Flaggen schreiben."
Archiv: Ceska pozice

Guardian (UK), 25.11.2015

In einer langen Reportage zeichnen Jack Watling und Paul Raymond ein erschütterndes Bild von Mali, das sich von seinem Kollaps 2012 noch immer nicht erholt hat, wie auch der jüngste Anschlag zeigt. Das Vertrauen in die politische Klasse ist zerschlagen, religiöse Führer gewinnen immer mehr Einfluss und die Gesellschaft zerfällt in sektiererische Gruppen. Besonders schlimm ist es natürlich in Timbuktu: "Während die UN die Grundversorgung sichert, ist die Regierung noch immer nicht zurückgekehrt, Die wenigen Beamten, die sich in den Norden trauten, wurden bedroht oder schlicht ermordet... In Abwesenheit des Staates wurde Malis nördliche Wüste zu einem riesigen Gebiet der Gesetzlosigkeit mitten in Westafrika: Eine Kreuzung für Drogen, Menschen und Waffen, sie verbindet die Gebiete, die von Boko Haram in Niger und Nigeria gehalten werden, mit den Basen der Dschihad-Veteranen in Libyen und Algerien. Das ist ein Albtraum für die Sicherheit Westafrikas aber auch Europas, das die Schaffung eines weiteren Horts des Terrorismus fürchtet."
Archiv: Guardian

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.11.2015

Der Literaturhistoriker György Tverdota zeigt sich erschüttert von der Aussage des ungarischen Ministerpräsidenten, der die westliche (west-europäische) Flüchtlingspolitik als Resultat selbstmörderischer intellektueller Neigung bezeichnete. "Wie kann ein heutiger Intellektueller beweisen, dass er nicht destruktiv ist, dass er kein Gift verkauft und keine feindlichen Absichten hegt? Ich habe keine Lust immer wieder unter Beweis zu stellen, dass ich nicht schädlich für meine Mitmenschen bin. Doch enttäuscht von diesen Worten bin ich sehr. Ich nehme zur Kenntnis, dass ich aufgrund meiner gesellschaftlichen Zugehörigkeit, meiner Ausbildung und meiner Schriftgelehrtheit erneut stigmatisiert und zum Intellektuellen mit suizidalen Neigungen degradiert werden kann, sollte ich es wagen von der stark empfohlenen Linie gedanklich abzuweichen. (...) Die Richtungen der destruktiven Intellektuellen und der konstruktiven gehen nun auseinander. Wer beabsichtigt autonom zu denken, es überhaupt wagt zu denken, der findet sich leicht in der Dunkelheit wieder."

Fast Company (USA), 16.11.2015

Das Facebook-Imperium wächst: Nach den Apps Instagram, WhatsApp und Messenger, die das Unternehmen für das mobile Internet flott machen sollten, visiert Zuckerbergs expandierendes Unternehmen nun Künstliche Intelligenz und Virtual Reality als nächste Großprojekte an, um das Unternehmen für künftige Entwicklungen aufzustellen, wie sich Harry McCrackens ausführlicher Homestory entnehmen lässt. Die Motivation dahinter? Die gesammelten Daten endlich auch mal zu verstehen: "Zum jetzigen Zeitpunkt ist das soziale Netzwerk noch immer deutlich besser darin, riesige Mengen von Daten zu sammeln als zu verstehen, was diese Daten bedeuten. Eine avancierte KI könnte dabei behilflich sein, jene Inhalte in den Vordergrund zu rücken, die einem tatsächlich wichtig sind, was einen länger auf der Plattform halten und damit die eigene Attraktivät für gezieltes Marketing erhöhen wird. ... Zum Teil stellen die KI-Versuche auch einen Ansatz dar, um Facebook für eine Zeit vorzubereiten, in dem Geräte von der Armbanduhren bis zum Auto miteinander verbunden sein werden und die Dichte an hereinkommenden Informationen, die das Unternehmen handhaben muss, exponenziell steigen wird. 'Es werden einfach noch viel mehr Daten darüber generiert werden, was sich in der Welt vollzieht. Und die hergebrachten Modelle und Systeme, über die wir bislang verfügen, kriegen das nicht zu fassen', sagt Jay Parikh, der Vizepräsident der firmeninternen Forschungseinrichtung."
Archiv: Fast Company

Telerama (Frankreich), 29.11.2015

In einem Gepräch mit dem Philosophen Marc Crépon, Autor eines Buchs über die "Kultur der Angst", geht es um die psychischen Folgen der Terroranschläge von Paris. Wie kann man Angst akzeptieren, ohne in generelles Misstrauen zu verfallen, wie mehr Sicherheit einfordern, ohne Grundrechte aufzugeben? "Angst ist legitim angesichts dieses Traumas der Wiederholung, das Ereignis selbst beinhaltet bereits die Möglichkeit, dass es sich wiederholt. Der Angst nicht nachgeben soll nicht heißen, sie nicht zu empfinden, sondern sie nicht Besitz von uns ergreifen zu lassen. Die Terrorgewalt ist in unser Leben eingedrungen, hat unser natürliches Grundvertrauen in unser Transportsystem, in die öffentlichen Räume, die wir durchqueren, in die Menschen, die uns begegnen, zerstört. Die Zerstörung dieses Vertrauens ist die furchtbarste Waffe der Terroristen. Jeder muss nun versuchen, es wiederherzustellen, in sich selbst und in andere. Und auch das liegt in dem Satz 'Der Angst nicht nachgeben', der vielleicht etwas Beschwörendes hat, aber auch etwas Schönes, weil Widerständiges."
Archiv: Telerama

New York Review of Books (USA), 17.12.2015

Nach seiner großen Klage über den Verfall des Journalismus denkt Michael Massing jetzt darüber nach, was er gerne lesen würde. Zum Beispiel eine viel bessere Berichterstattung über die alles bestimmenden 1 Prozent. Als Beispiel nennt er den zwei Milliarden Dollar schweren Hedge Fund Manager Paul Singer. Der spendet Millionenbeträge an die Republikaner, unterstützt finanziell "pressure groups" für ihm genehme Vorhaben, und sitzt in unzähligen Komitees, die die Politik mitbestimmen. Eine diesem Thema gewidmete Webseite könnte viel weiter gehen also zum Beispiel die NYT-Wirtschaftskolumne "DealBook", meint Massing. "Wir brauchen eine thematisch weiter gefasste Seite, die sich auf Berichterstattung über die Machtelite konzentriert. Es gibt zwar Muckety, LitleSis, SourceWatch und RightWeb, alle sehr nützlich, aber sie sind unterfinanziert und (manchmal) zu ideologisch. Eine neue Seite mit erfahrenen Reportern, Redakteuren und digitalen Assen, könnten sich tief in die Welt des 1 Prozents eingraben und den unglaublichen Einfluss dokumentieren, den sie in so vielen Bereichen des amerikanischen Lebens haben. Die gesammelten Informationen könnten in eine Datenbank eingespeist werden, die zur Standard-Seite für Informationen über die Elite und ihre Macht werden könnte."

Weitere Artikel: Christopher de Bellaigue zeichnet ein vernichtendes Porträt von Erdogan als paranoidem Charakter, der die Demokratie in der Türkei unterminiert. Michael Ignatieff fordert die amerikanische Regierung auf, den Europäern bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu helfen. Paul Krugman liest Robert B. Reichs Buch "Saving Capitalism: For the Many, Not the Few".