Magazinrundschau

Tantrische Nerdgasmen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
14.04.2020. Longreads folgt nächtelang einem japanischen Unbekannten durch die Straßen Tokios. In der Johannesburg Review of Books erklärt der Schriftsteller Nuruddin Farah, warum er in Afrika eine Anomalie ist mit seinem Infragestellen der Traditionen. In The Atlantic sieht Aatish Taseer in Indien mit dem Säkularismus auch seine Staatsbürgerschaft flöten gehen. Die Boston Review zieht für Corona Lehren aus dem Kampf gegen Aids in den USA und die Cholera in Hamburg. La vie des idees trauert um den europäischen Traum. Die New York Times erlebt eine Epiphanie mit Weird Al.

Longreads (USA), 09.04.2020

Ein Japaner durchwandert systematisch die Straßen japanischer Städte, stets vor sich und dicht am Körper: eine Videokamera. Dabei schickt er keine touristischen Video-Postkarten, vielmehr führen seine Wege oft durch Hintergassen und wenig repräsentative Orte, manchmal ist es nachts und es regnet, gelegentlich hält er inne und verweilt an einem Ort. Man könnte sich sicher spannenderes vorstellen, um seine Abende mit solchen oft stundenlangen Videos zuzubringen. Und doch verspürt Aaron Gilbreath in Zeiten der Coronakrise, der Isolation und des Home-Schoolings derzeit keinerlei Interesse an den vollgepackten Archiven der großen Streaming-Anbieter, sondern folgt in den abendlichen Stunden der Stille begierig den meditativen Videos dieses Youtube-Nutzers, der sich hinter dem Pseudonym Rambalac verbirgt und von dem ansonsten so gut wie nichts bekannt ist. In einem melancholischen Essay umkreist Gilbreath dieses sonderbare Interesse an ereignisarmen Videos, die ihn immer wieder auf sich selbst zurückwerfen: "Wir Amerikaner hocken hinter unseren Türen und warten darauf, dass das Virus unsere Gemeinden so dezimiert wie zuvor die Italiens und dass die Leichen Gräber füllen, die nur wenige ausheben wollen. Die aufreibende Erwartung macht einem zu schaffen, sie hinterlässt eine Leere im Magen, die sich mit Gartenarbeit und starken Cocktails kaum füllen lässt. Es gibt keine wirkliche Flucht vor der Realität. Ich sehne mich nach einer kurzen psychologischen Pause am Ende dieser langen Tage, die der Frühling lang und länger werden lässt. ... Ich betrachte diese Videos und merke mir Ecken in Tokios Wohngegenden, die ich wohl nie besuchen werden. Ich studiere Karten mit Flüssen, deren Wasser ich wahrscheinlich nie berühren werde, einfach nur um wenigstens ein kleines bisschen zu begreifen, wie diese unglaubliche, wuselnde Stadt zusammengesetzt ist - dieses Meisterwerk menschlicher Erfindungskraft, wie so viele anderen Städte auch, die nun zum Stillstand gekommen sind. Rambalac hat mir dabei geholfen, mein Bewusstsein zu erweitern, während Angst und Müdigkeit sich einfraßen. All diese Bewegungen, all dieses Lernen belebte mich. Wie sich herausstellt, wollte ich nicht nur meinem Verstand eine Auszeit gönnen. Ich wollte weiterhin etwas über die Welt lernen, ihre Kulturen erfahren und mich unter Leuten bewegen, wenn auch nur in den Korridoren meiner Einbildungskraft. Vielleicht ist es nicht totale Flucht, nach der ich mich verzehre, sondern Hilfe während einer Phase des Übergangs. Vielleicht brauchen wir, während wir uns der nervenaufreibenden Realität noch anpassen, eine Brücke aus der alten Welt in die neue."

Hier Rambalacs Streifzug durchs verregnete Japan bei Nacht:

Archiv: Longreads

Johannesburg Review of Books (Südafrika), 10.04.2020

In einem lebhaften, sehr persönlichen Interview mit Lebohang Mojapelo erklärt der somalische Autor Nuruddin Farah, warum er schon aus mehreren afrikanischen Ländern rausgeschmissen wurde, warum seine Bücher im südlichen Afrika kaum gelesen werden, warum sein multikultureller und multilingualer Hintergrund in Afrika stets etwas misstrauisch beäugt wird und warum Frauenrechte für ihn immer selbstverständlich waren. "Ich habe meine Bücher nie als feministisch bezeichnet. Ich kann nur sagen, dass ich genug Erfahrung damit hatte, wie die Gesellschaft mit meiner Mutter oder meinen Schwestern umging. Dass uns Männern Privilegien eingeräumt wurden, die Mädchen nie beanspruchen konnten. Wie die Schwester, die nach mir kam, in der Küche gehalten wurde, während der Junge, der nach ihr kam, sofort zur Schule geschickt wurde. Mein Vater und ich hatten einen großen Streit darüber, ob ich viel Geld für die Ausbildung meiner Schwester ausgeben würde oder nicht, mein Vater sagte: 'Gib mir das Geld, statt es für ein Mädchen auszugeben.' Nun, ich tat es nicht, nicht, weil ich Feminist war, sondern weil fair fair ist. Ist man jetzt Feminist, weil man glaubt, dass fair fair ist? Da müssten Sie jemand anders fragen." Frauen machen es in der somalischen Gesellschaft allerdings oft auch nicht besser, meint Farah: "Die Abwesenheit des Patriarchen schafft sofort Raum für eine Matriarchin, die dann dieses traditionelle Unterdrückungssystem vertritt. Ich sage Ihnen, das gesamte somalische Familiensystem ist autoritär. Die Somalier und ihre Familien sind in der Regel autoritär sind. Sie würden isoliert, rausgeschmissen, von der Religion, von der Familie exkommuniziert werden, hielten Sie sich nicht an die Linie des Clans, der Familie und des Glaubens. ... Ich komme von einem Ort, von dem aus ich die Tradition in Frage stelle. Ich komme von einem Ort, an dem ich sage, dass die Ältesten alles vermasselt haben. Ich bin eine Anomalie."
Stichwörter: Frauenrechte, Privilegien

The Atlantic (USA), 14.04.2020

Was es bedeutet, dass Indien mit dem von der Regierung Modi verabschiedeten Citizenship Amendment Act seinen Status als säkularer Staat aufgibt, hat Aatish Taseer gerade gelernt: "Indien brodelt, aber ich kann nicht in das Land zurückkehren, in dem ich aufgewachsen bin. Am 7. November hatte mir die indische Regierung die indische Übersee-Staatsbürgerschaft entzogen und mich auf die schwarze Liste des Landes gesetzt, in dem meine Mutter und meine Großmutter leben. Der Vorwand, den die Regierung benutzte, war, dass ich die pakistanische Herkunft meines Vaters verheimlicht hatte, von dem ich mich die meiste Zeit meines Lebens entfremdet war und den ich erst im Alter von 21 Jahren kennen gelernt hatte. Das war eine seltsame Anschuldigung. Ich hatte ein Buch geschrieben, 'Stranger to History', und viele Artikel über meinen abwesenden Vater veröffentlicht. Die Geschichte unserer Beziehung war gut bekannt, weil mein Vater, Salmaan Taseer, Gouverneur des Punjab in Pakistan gewesen war und 2011 von seinem Leibwächter ermordet wurde, weil er es gewagt hatte, eine christliche Frau zu verteidigen, die der Blasphemie beschuldigt wurde. All dies hatte keinen Einfluss auf meinen Status in Indien, wo ich 30 meiner 40 Jahre gelebt hatte. In den Augen der Regierung von Modi wurde ich 'Pakistani' - und, was noch wichtiger ist, 'Muslim', weil die religiöse Identität in Indien meist patrilinear und mehr eine Frage des Blutes als des Glaubens ist."

In einem anderen Artikel erklärt Kathy Gilsinan, wie wenig die WHO dazu beigetragen hat (beitragen konnte), rechtzeitig vor dem Coronavirus zu warnen: "Zu den Mitgliedern der Gruppe gehören transparente Demokratien ebenso wie autoritäre Staaten und Systeme, was bedeutet, dass die Informationen, die die WHO herausgibt, nur so gut sind wie das, was sie von Staatsführern wie Xi Jinping und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin erhält. Nordkorea zum Beispiel hat absolut keine Fälle von Coronaviren gemeldet, und die WHO ist nicht wirklich in der Lage, etwas anderes zu behaupten."
Archiv: The Atlantic

La regle du jeu (Frankreich), 13.04.2020

Bernard-Henri Lévy erinnert an zwei Pandemien, die heute vergessen sind, die "asiatische Grippe" von 1957 und die "Hongkong-Grippe" von 1968/69, die weltweit wesentlich mehr Menschenleben kosteten als bisher Covid-19 - und dennoch keineswegs die selbe Reaktion auslösten wie heute: "Diese beiden Präzedenzfälle, die vor Ähnlichkeiten zu den heutigen Ereignissen bersten, offenbaren etwas: Das Spektakel ist entscheidend. Ein Ereignis ist nur 'historisch' und 'verändert die Welt' nur..., wenn die Medien es in ihrer Selbstbesoffenheit so entscheiden." Lévy ist zwiespältig: Einerseits zeige die Reaktion, dass die heutige Öffentlichkeit nicht bereit sei, Tausende von Toten einfach so akzeptieren und das sei "herrlich". Andererseits sieht er die Gefahr der Übertreibung: Wir müssten uns fragen, "ob der gerechte Kampf gegen die Pandemie das schwarze Loch in unseren Köpfen über die Rückkehr des Islamischen Staats im Nahen Osten, die Expansion der russischen und chinesischen Reiche oder das fatale Auseinanderdriften der EU rechtfertigt."
Archiv: La regle du jeu

Boston Review (USA), 14.04.2020

Pandemien kann man nicht miteinander vergleichen, jede folgt ihren eigenen Gesetzen. Aber die sozialen Antworten darauf vergleichend, kann schon gewinnbringend sein, meint Alex de Waal und empfiehlt die Leküre von Richard Evans' 1987 erschienenem Buch "Death in Hamburg". Aber auch sein Kampf gegen Aids - das mit Corona viel gemeinsam hat, zum Beispiel die Vorstellung, dass die am härtesten Betroffenen, bei Aids die Schwulen, bei Corona die Alten, wegen ihres angeblich moralisch verwerflichen Lebensstils selbst Schuld haben - hat ihn einiges gelehrt: "Die klarsten Fragen sind politischer Natur. Was sollte die Öffentlichkeit von ihren Regierungen verlangen? Durch hart erlernte Erfahrungen entwickelten die AIDS-Aktivisten ein Mantra: 'Kenne deine Epidemie, handle nach ihrer Politik'. Die Motive für - und die Folgen von - Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit gingen schon immer weit über die Kontrolle von Krankheiten hinaus. Das politische Interesse übertrumpft die Wissenschaft - oder, genauer gesagt, das politische Interesse legitimiert einige wissenschaftliche Lesarten und andere nicht. Pandemien sind der Anlass für politische Auseinandersetzungen, und die Geschichte legt nahe, dass Fakten und Logik Werkzeuge für den Kampf sind und nicht Schiedsrichter des Ergebnisses."
Archiv: Boston Review

Guardian (UK), 10.04.2020

Stephen Buranyi rekapituliert das Agieren der WHO in den vergangenen Jahrzehnten, das Auf und Ab seit der weltweiten Eliminierung der Pocken, die Erfolge unter Gro Harlem Brundtland, die so energisch Sars bekämpfte, und das große Versagen unter Margret Chan, die Ebola in Westafrika ungehindert wüten ließ. Ob der jetzige Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus China zu sehr hofiert hat, als er dessen Politik lobte, mag Buranyi nicht entscheiden: "Wenn die WHO glaubte, sie könnte problemlos ein bisschen von ihrer Glaubwürdigkeit opfern - und Chinas grobe Fehler im Dezember und Januar übersehen -, hat sie sich jedenfalls getäuscht." Doch der Bedeutungsverlust der WHO macht Buranyi zu schaffen: "Die WHO kämpft gegen einen Zusammenbruch der internationalen Kooperation, der ihre Möglichkeiten übersteigt. 'Die Regierungen haben sich auf nationale Politiken zurückgezogen, und dieses Problem ging der Krise voraus', sagt Gesundheitsforscherin Clare Wenham. Die Staaten haben sich vor langer Zeit von den internationalen Institutionen zurückgezogen. Die WHo hat die Globalisierung nicht in der Art vorangetrieben wie die WTO oder der IWF, aber sie hat sie vollzogen - und dabei stillschweigend die Hoffnung geweckt, die Epidemien in den Griff zu bekommen, die in einer industrialisierten und vernetzten Welt aufkommen können. Und sie hat sich auf die unausgesprochenen Normen von internationaler Zusammenarbeit verlassen, die dem zugrunde liegen. Ironischerweise ist diese so nötig wie nie zuvor, da das Vertrauen in die anderen Sachwalter der globalen Ordnung schwindet - ein Trend, den Covid-19 nur beschleunigt. 'Man sieht, wie die WHO immer unbedeutender wird, sagt Wenham. 'Niemand denkt mehr daran, die globalen Zahlen zu reduzieren, immer nur die eigenen. Die WHO ist eine globale Kraft, aber die Leute denken nicht global."

Außerdem: Rebecca Solnit schöpft während der Coronakrise Hoffnung auf mehr Umweltbewusstsein.
Archiv: Guardian

iLiteratura (Tschechien), 10.04.2020

Die tschechische Schriftstellerin Markéta Pilátová, die viele Jahre in Südamerika gelebt hat, vergleicht die Corona-Erfahrung mit einem anderen bekannten Bedrohungsgefühl: "Sieben Jahre lang war für mich der März ein etwas unheimlicher Monat. Ich zog nach Brasilien, wo mich die alljährliche Epidemie des Dengue-Fiebers erwartete. In Mato Grosso do Sul, wo ich arbeitete, sind dieses Jahr schon 19 Menschen daran gestorben und Hunderttausende infiziert worden." Gegen die Überträgermücken habe sie sich außer mit riesigen Moskitonetzen und Insektenspray mit dem "Gestank von Bierhefe" geschützt. "Nichtsdestoweniger musste ich mich sieben Jahre lang daran gewöhnen, dass ich sterblich und, falls ich Dengue-Fieber mit einem schweren Verlauf bekomme, im brasilianischen Gesundheitssystem, in dem wirklich sehr vieles fehlt, geliefert bin. Seit dieser Zeit habe ich in meinem Handy die App We Croak installiert, die mich fünf Mal am Tag daran erinnert, dass ich sterben werde, und dann kann ich mir eine von fünf weisen Sprüchen über den Tod öffnen. Die App beruht auf einem Sprichwort aus Bhutan, nach dem derjenige, der fünf Mal täglich an den Tod denkt, ein glückliches Leben führen kann." Was nun den Coronavirus betrifft, der werde von Präsident Bolsonaro zwar heruntergespielt, der Rest des Landes aber habe die Gefahr erkannt. Nicht zuletzt die Drogengangs in den besonders gefährdeten Favelas. "Letzte Woche", berichtet Pilátová, "sind sie mit Megafonen durch die Favelas gefahren, haben die Waffen geschwungen und die Einwohner aufgefordert, die Quarantäne einzuhalten, sprich: 'Bleib zu Hause, oder wir pusten dich weg!'. Um Demokratie sorgt sich in den Favelas niemand, also gab es keinerlei Einwände. Eine Kalaschnikow ist deutlich wirksamer als eine Geldbuße."
Archiv: iLiteratura

La vie des idees (Frankreich), 14.04.2020

Auch in Frankreich wird über die Szenarien des Ausstiegs nachgedacht - nachdem Emmanuel Macron die rigide Ausgangssperre bis zum 11. Mai verlängert hat. Das Problem ist, dass der Ausstieg graduell sein wird, dass die soziale Distanzierung zum Habitus werden wird, dass einige Branchen - nämlich alle mit Publikumsverkehr - noch über Monate und Monate leiden werden und der Streit darüber sich immer mehr verschärfen wird. Der Virologe Philippe Sansonetti skizziert in diesem Magazin des Collège de France, wie der Ausstieg verlaufen könnte. Und er kann sich eines Kommentars über die politischen Konsequenzen der Krise nicht enthalten: "Trauer um den europäischen Traum. Europa ist bei der Prüfung durch Covid-19 durchgefallen. Durchgefallen ist es schon zu Beginn der Krise, als es ohne Koordination mit einem zu erwartenden Rückfall in Nationalismen reagierte. Die am stärksten betroffenen europäischen Länder werden die Narben dieser nationalen Egoismen nicht vergessen. Europa scheint auch bei der Ausgangsprüfung durchzufallen. Eine gesundheitspolitische, wissenschaftliche, wirtschaftliche, soziale Koordinierung des Ausstiegs - dieses Moments aller Gefahren und Hoffnungen - wäre notwendig, aber auch dieser Ausstieg scheint auf nationaler Ebene zu geschehen. Was sind all die Milliarden Euros der Europäischen Zentralbank ohne eine gemeinsame und solidarische europäische Intelligenz wert?"

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 09.04.2020

Die Coronakrise rührt nicht nur aus der Gefährlichkeit der Krankheit Covid-19, schreiben Renaud Lambert und Pierre Rimbert, sondern hat auch mit der Ökonomisierung des Gesundheitssystems in einigen europäischen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten zu tun: "1980 gab es in Frankreich elf Krankenhausbetten pro tausend Einwohner, davon sind heute noch sechs übrig. Macrons Gesundheitsministerin hat im September 2019 vorgeschlagen, sie 'bed managers' zu überlassen, die das rare Gut zuteilen sollten. In den USA sank die Zahl von 7,9 Betten 1970 auf 2,8 im Jahr 2016. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es in Italien 1980 für 'schwere Fälle' 922 Betten pro 100.000 Einwohner. 30 Jahre später waren es nur noch 275. Überall galt nur eine Devise: Kosten senken. Das Krankenhaus sollte wie eine Autofabrik im Just-in-time-Modus funktionieren. Das Resultat ist, dass die italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimation und Intensivtherapie (Siaarti) die Arbeit der Notärzte heute als 'Katastrophenmedizin' bezeichnet. Sie warnt, angesichts der fehlenden Ressourcen 'könnte es nötig werden, eine Altersgrenze für den Zugang zur Intensivversorgung festzulegen'. Auch im Nordosten von Frankreich spricht man mittlerweile in ähnlicher Weise von 'Kriegsmedizin'."

London Review of Books (UK), 16.04.2020

Simone de Beauvoir hat kein vorbildliches Leben geführt, stellt Joanna Biggs fest: Ihre Abhängigkeit von Jean-Paul Sartre war geradezu pervers, fatal war die Bedenkenlosigkeit, mit der die beiden sich junge Frauen zuschoben. Am Ende wurde Beauvoir zu einer kalten, übellaunigen Trinkerin, die stets ihr Pariser Leben überhöhte, dabei schuf sie ihre größten Werke, "Das andere Geschlecht" und "Die Mandarine von Paris", während ihrer konventionellen, aber eben inspirierenden Liebesbeziehung mit Nelson Algren. Zwei neue Bücher über Beauvoir, Kate Kirkpatricks Biografie "Becoming Beauvoir" und Deirdre Bairs Memoir "Parisian Live", beschönigen nichts am Leben der französischen Autorin, und Briggs findet das ganz richtig: So befreit man Ikonen! "Der Schaden, den sie Bianca Bienefeld zugefügt hatten, war groß und andauernd, Beauvoirs Grausamkeit kann man einer Frau kaum verzeihen, die immerhin die existenzialistische Ethik begründet hatte (so weit brachte es Sartre nie) und die in all ihren Stücken, Essays und Romanen betonte, dass entscheidend im Leben Beziehungen seien, die auf Gegenseitigkeit basierten. Fast inakzetabel erscheinen mir Beauvoirs viele Beziehungen zu Menschen, die jünger und von ihr eingeschüchtert waren, die sie verriet und im Stich ließ. Was würde man über sie sagen, wenn sie ein Mann im Zeitalter von #MeToo wäre? Nathalie Sorokines Mutter zeigte sie für ihren ausschweifenden Lebenswandel an, und Beauvoir wurde 1943 von den Vichy-Behörden vom Dienst suspendiert, was ihr als Perle in der Krone der Resistance angerechnet wurde, statt als Verstoß gegen die guten Sitten. Aber nach Bianca ließ sich Beauvoir nicht mehr auf ein solches Trio ein; sie erkannte, dass sie jemandem wehgetan hatte, den sie liebte, offenbar war sie es, die dem schmuddeligen Treiben ein Ende machte."

Weiteres: Adam Tooze blickt mit ungefiltertem Entsetzen auf die Weltwirtschaft: "Die Aussichten der EU sind düster, die der USA vielleicht noch übler." Skye Arundhati Thomas erklärt, dass Social Distancing in Indien für die armen Menschen schlichtweg unmöglich ist.

168 ora (Ungarn), 12.04.2020

Nach einem kurz vor Ostern in Kraft getretenen Gesetz verlieren die in öffentlichen Kultur-, Kunst- und Bildungseinrichtungen Beschäftigten ihren Status als öffentliche Angestellte. Csaba Csóti, Vorsitzende der Gewerkschaft für die Beschäftigten im Kultursektor (SzEF),  spricht im Interview mit Zsuzsa Sándor über die langfristigen Auswirkungen des Gesetzes auf die Kulturbranche. "In den Arbeitsbereichen der öffentlichen Sphäre ist Profit kein Ziel. In der Kulturszene werden wichtige öffentliche Bildungsaufträge erledigt, wozu allerding gewisse Bedingungen geschaffen werden müssen: so sollen die Institutionen für ihre Mitarbeitern langfristig Entwicklung wie professionelle Weiterbildung sicherstellen und eine Perspektive bieten. Dazu bedarf es der Kontinuität und Planbarkeit. (...) Das staatsbürgerliche Recht auf Bildung und Kultur steht auch im Grundgesetz, trotzdem dauert die Abwertung der Kultur seit Jahren an. Für die Regierung zählt die Kultur nicht als öffentliche Grundversorgung, sondern als Propagandawerkzeug."
Archiv: 168 ora

New York Times (USA), 09.04.2020

Kennen Sie noch Weird Al Yankovic? Den begnadeten Pop-Parodisten, der in den Achtzigern und Neunzigern von Michael Jackson und Madonna über Nirvana (siehe unten) bis zu Coolio mit seinem ans MAD-Heft erinnernden Humor alles aufs Korn nahm, was bei drei nicht auf den Bäumen war? In Deutschland ist es um Weird Al in den letzten Jahrzehnten ziemlich still geworden - aber in den USA zählt der unter bedrückend religiösen Einflüssen aufgewachsene Komiker mittlerweile fest zum Comedy-Kanon und hat sich selbst als Pop-Ikone einen Platz im Pantheon gesichert: In jedem der letzten vier Jahrzehnte mindestens eine Single in den Top40-Charts zu platzieren - das ist neben Weird Al jedenfalls nur denen gelungen, die zu parodieren er berühmt geworden ist. Sam Anderson hat ein tolles, sehr persönliches Feature über ihn verfasst - und beim Konzert mit seinem Idol aus Kindertagen, von dem er gelernt hat, dass auch gehänselte Außenseiter ihren Platz in der Popkultur haben, erlebt er eine Epiphanie: "Die Menge wogte durch tantrische Nerdgasmen, zurückgehaltenen Explosionen des Zusammengehörigkeitsgefühls und der Freude. Am Ende der Show, während des Chorus von 'Amish Paradise', als das ganze Stadium anfing mit den Armen im Takt zu schwingen, war ich zu meiner Überraschung den Tränen nahe. Weird Al trug einen lächerlichen schwarzen Anzug mit Zylinder und einen langen falschen Bart. Er rappte darüber, Butter zu rühren und Scheunen zu bauen und jeder sang mit. Ich spürte, wie sich in mir ganze Wogen jener Gefühle einer Einzelgänger-Kindheit - Einsamkeit, Zuneigungen, Verletzlichkeiten, Freude - kräuselten, aus mir heraus zu sickern und sich in dieses große, gemeinsame Sammelbecken zu ergießen begannen. All die Liebe, die ich privat für diese Musik immer empfunden hatte - nicht nur für Weird Als Parodien, sondern auch für die Originale - war nun da, um mich herum und wummerte durch die ganze Menge. Weird Al nutzte einen sonderbaren emotionalen Trick: Er hat all die isolierte Energie unserer winzigen Kinderzimmer in diesen großen öffentlichen Raum getragen."

Ein Klassiker aus Weird Al Yankovics Schaffen:

Archiv: New York Times