Magazinrundschau

Die Sprache der Eier

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
25.01.2022. Eurozine lässt sich von Slavenka Drakulic die antifeministische Mudologija erklären. Die London Review liest sich durch zwei Geschichten der Impfgegner. A2larm protestiert gegen den Abriss von Architekturikonen aus der Zeit des Sozialismus. In Osteuropa schildert der Anwalt Andrej Močalov die Willkür der belarussischen Justiz. Harper's begibt sich ins schwer bewaffnete Texas.

Eurozine (Österreich), 21.01.2022

Slavenka Drakulić bringt - vorerst nur auf Kroatisch - ihre Essays zu feministischen Themen heraus. Zsófia Lóránd erzählt den Werdegang der erst seit den Neunzigern auch in Deutschland bekannten Autorin. Der Feminismus entstand im damals noch ungeteilten Jugoslawien fast gleichzeitig wie hierzulande. Drakulić gehörte zu den Autorinnen, die Gloria Steinem oder Simone de Beauvoir in Jugoslawien bekannt machte. Drakulić musste sich gegen etwas wehren, dass auch ihren Kampfgenossinnen in anderen Ländern nicht fremd war, und das sie mit der kroatischen Wortschöpfung "Mudologija" fest in den Griff nahm: "die Sprache der Eier". In Jugoslawien sprach die "Mudologija" sozialistisch. Die Funktionäre glaubten, die Frauenfrage längst gelöst zu haben und geißelten darum die "Todsünden des Feminismus"(darauf spielt der Titel ihrer Essaysammlung "Die Todsünde des Feminismus" an). Aber der Marxismus konnte den Feminismus nicht denken: "Die Konzentration auf Klasse bringt die entscheidenden Fragen nicht auf den Tisch: Wir brauchen Feminismus, um bestimmte Themen überhaupt erst zu Themen der politischen Debatte zu machen. Die offizielle Politik der 'Frauenfragen' sprach nicht über Prostitution, Vergewaltigung, häusliche Gewalt, unbezahlte Hausarbeit oder Sexismus in der Bildung. Dabei geht es genau hier um Leben und Tod von Frauen."
Archiv: Eurozine

London Review of Books (UK), 27.01.2022

Rivka Galchen liest zwei hervorragende Bücher zur Geschichte der Impfgegner, die sich, seit Großbritannien die Impfpflicht gegen Pocken einführte, auf drei Motive stützen: die Verunreinigung des Körpers, persönliche Freiheit und Skepsis gegenüber der Wissenschaft. Von Jonathan Bermans "Anti-Vaxxers. How to Challenge a Misinformed Movement" lernt Galchen, dass diese Kampagnen von Beginn an immer auch von Scharlatanen befeuert und finanziert wurden, die um ihre Einkünfte bangten. Wie man ihnen allerdings am besten beikommt, kann Berman nicht sagen: Für jeden wissenschaftlichen Artikel produziere die Gegenseite mittlerweile einen irreführenden Texte im selben Format. Noch hilfloser fühlt sie sich nach Lektüre des dennoch sehr lesenswerten Buchs "Stuck. How Vaccine Rumours Start - and Why They Don't Go Away" von Heidi Larson. Larson hat für die WHO gearbeitet und mitbekommen, wie Impfprogramme in Nigeria und Kolumbien durch haltlose Gerüchte zum Erliegen gebracht wurden: "Was hätte anders gemacht werden können? Die Bedenken von verängstigten Eltern lächerlich zu machen, dürfte nichts bringen, aber auf sie zu hören, wenn auch nur scheinbar, kann noch mehr Schaden anrichten. 1998 unterbrach die französische Regierung ihr Impfprogramm gegen Hepatitis B an den Schulen, um der Öffentlichkeit zu zeigen, dass ihre Befürchtungen vor einem möglichen Link zu Multipler Sklerose ernst genommen werden. Die Impfraten fielen, am Ende waren selbst die französischen Ärzte verwirrt. Die große Mehrheit gab an, von der Sicherheit des Vakzins nicht überzeugt zu sein, zwei Drittel zweifelten an der Wirksamkeit. Etwas ähnliches passierte 2014 in Japan. Als Antwort auf wissenschaftlich unbegründete Befürchtungen von Müttergruppen senkte die Regierung ihre Impfpolitik in Bezug auf Gebärmutterhalskrebs (HPV) von 'aktiv' auf 'bei Bedarf erhältlich'. Die Nutzung des Angebots fiel bei Mädchen im Schulalter von siebzig auf 0,3 Prozent. Es gibt einen globalen wissenschaftlichen Konsens, dass die Impfstoffe gegen HPV sowie gegen Hepatitis B sicher und wirksam sind." (Sehr sehenswert auch die Dokumentation "Impfgegner - Wer profitiert von der Angst" auf arte.)

 Conor Gearty fürchtet, dass Britanniens Oberster Gerichtshof auch ohne Druck von der Regierung eine konservative Richtung eingeschlagen hätte: "Boris Johnsons Brexit-Regierung ist in vieler Hinsicht eine Übung in Nostalgie, die Suche nach dem verlorenen England, und der Supreme Court unter Lord Robert Reed ist ähnlich rückwärtsgewandt. Er ist zurückkehrt zu rechtlichem Formalismus und einer extrem engen Auffassung von Rechtstaatlichkeit, während er ein altmodisches Desinteresse für die gelebte Erfahrung derjenigen an den Tag legt, deren Not sie vor die Richterbank geführt hat."

Außerdem schreibt Wolfgang Streeck über Technopopulismus. Und Terry Eagleton bewundert Malcolm Bull trotz seines leichten Hangs zum Nihilismus.

A2larm (Tschechien), 24.01.2022

Vor einer Woche wurde beschlossen, dass im slowakischen Bratislava das alte Kongress- und Kulturzentrum Istropolis abgerissen werden und einem neuen Kulturzentrum namens New Istropolis weichen solle - ein weiteres Beispiel von interessanter Nachkriegsarchitektur, die Bauträgern zum Opfer falle, so Barbora Jelínková in ihrem Kommentar. Der von 1956 bis 1981 im konstruktivistischen bis brutalistischen Stil entstandene Gebäudekomplex enthalte unter anderem ästhetisch interessante Keramikwände, Glaskunst und viel kubanischen Marmor (den damals Fidel Castro schenkte). Es sei immer das Gleiche: "Wir lassen ein einzigartiges Architekturdenkmal so lange verfallen, bis es irgendein Bauträger kauft, der das verwahrloste Gebäude durch ein austauschbares Projekt (…) ersetzt, das ein Zentrum auf 'Weltniveau' sein und die betreffende Stadt unter die 'modernen europäischen Metropolen' einreihen soll, wie der Bauträger in seiner Pressemeldung schreibt. Es ist kein Zufall, dass dieses Vorgehen oft Objekte trifft, die während des Sozialismus geplant und errichtet wurden. Das Bauträgerunternehmen Immocap versteht den Istropolis-Komplex als eine Ikone des kommunistischen Totalitarismus und erinnert daran, dass hier Treffen der Kommunistischen Partei der Slowakei stattfanden. (…) Es ist ein Lehrbeispiel dafür, dass wir die Architektur jener Jahre immer noch ausschließlich mit der totalitären Herrschaft verbinden, wodurch uns ihr Wesen entgeht. Wir können die Qualität von Architektur nicht nach der Zeit beurteilen, in der sie entstanden ist. Auch handelt es sich um ein immer noch relativ junges Erbe, zu dem wir noch nicht genug Abstand haben, um es losgelöst von negativen Gefühlen bewerten zu können. Doch bevor wir diesen Abstand gewinnen können, werden diese - zum Teil sehr qualitätvollen - Gebäude alle abgerissen. Der Fall Istropolis in Bratislava ist ein weiteres Beispiel dafür, wie wir unser kollektives historisches Gedächtnis vernichten. Stattdessen ziehen wir eine durchschnittliche uniforme Glas-Beton-Architektur vor, deren Lebensdauer vermutlich höchstens ein paar Jahrzehnte beträgt. Und da haben wir noch nicht von den Auswirkungen auf die Umwelt gesprochen, die Abriss und Aufbau eines völlig neuen Komplexes mit sich bringen."
Archiv: A2larm
Stichwörter: Totalitarismus, Slowakei

Osteuropa (Deutschland), 25.01.2022

Auch vor den großen Protesten gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen war die Justiz in Belarus nur ein ausführendes Organ der Staatsgewalt, erklärt der Anwalt Andrej Močalov im Interview mit Volker Weichsel. Aber in den Prozessen gegen Oppositionelle seien der Willkür keine Grenzen mehr gesetzt: "Einer der politischen Gefangenen in Belarus wurde zu einer Haftstrafe verurteilt - ohne Bewährung -, weil er einer anderen Person, die bei einer Demonstration festgenommen wurde, im Haushalt geholfen hatte. Dies wurde als 'Beihilfe zur Organisation von Massenunruhen' gewertet. In aller Regel ignoriert die Staatsanwaltschaft, die eigentlich ein Aufsichtsorgan ist, selbst die offensichtlichsten Verstöße. Dies zeigt, wie die Lage in Belarus ist. Lukašenka hat das Paradigma persönlich vorgegeben: 'Manchmal sind Gesetze nicht am Platz.'" Ein anderer Fall, von dem Močalov erzählt: "Anfang Dezember 2021 Volha Zalatar verurteilt. Das Stadtgericht Minsk befand sie für schuldig, eine 'extremistische Gruppierung' gegründet und geleitet zu haben: den Telegram-Kanal 'Žadnoviči 2020 - Klub der Viktor-Zoj-Fans'. Die Anklage konnte keine Beweise erbringen, dass sie den Kanal eingerichtet und administriert hatte, er lief nach ihrer Verhaftung auch weiter. Der Vorwurf ist aus vielen weiteren Gründen absurd. Juristische Minimalstandards wurden verletzt. Nur ein Beispiel: Das Innenministerium hat den Kanal erst im Oktober 2021 zu einer 'extremistischen Gruppierung' erklärt. So steht es auch in der Anklageschrift. Volha Zalatar wurde aber bereits im März 2021 verhaftet. Nullum crimen, sine lege - kein Verbrechen ohne Gesetz - heißt ein elementarer Rechtsgrundsatz. Und doch wurde sie nach Art. 361,1 zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt."

Weiteres: Piotr Buras rekapituliert den Streit der EU mit Polen um die Justizreform dort. Ansgar Gilster berichtet von der unmenschlichen Lage der Flüchtlinge an den östlichen Außengrenzen der EU.
Archiv: Osteuropa

Harper's Magazine (USA), 25.01.2022

Mit der Covid-Pandemie ist in Amerika was angestiegen? Der Waffenverkauf selbstverständlich. "Die Amerikaner neigen dazu, Schusswaffen als Bollwerk gegen die Angst vor dem Zusammenbruch des Staates zu kaufen, und 2020 fühlte sich wie ein einziger langer Notfall an. Im Laufe des Jahres wurden in den Vereinigten Staaten fast dreiundzwanzig Millionen Schusswaffen gekauft, neun Millionen mehr als 2019. Vierzig Prozent wurden von Erstbesitzern gekauft, derselbe Anteil von Frauen", erklärt Rachel Monroe in ihrem Brief aus Texas, für den sie sich u.a. mit dem schwulen schwarzen Waffenverkäufer Michael Cargill unterhalten hat. Hintergrund ist ein neues Gesetz, das eigentlich nicht einmal die Mehrheit der waffentragenden Texaner wollte: Es erlaubt jedem das Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit, ohne Genehmigung. Die Vorstellung, dass jeder, der einem auf der Straße entgegenkommt, eine Waffe tragen könnte, macht etwas mit den Leuten. Selbst die, die das eigentlich ablehnen, fangen an Waffen zu kaufen. Auch die Polizei rüstet auf: "In dem Maße, in dem Privatpersonen schwerer bewaffnet sind, hat die Polizei ihre Feuerkraft erhöht - von Revolvern mit sechs Schuss Kaliber .38 zu halbautomatischen Glocks in den 1990er Jahren und AR-15s in den 2000er Jahren -, was für die libertäre Position, dass liberale Waffengesetze ein staatliches Gewaltmonopol verhindern, unangenehm ist. Die allgegenwärtige Präsenz von Waffen im öffentlichen Raum scheint das ängstliche Gefühl der Polizisten zu verstärken, auf feindlichem Gebiet zu patrouillieren. Robert Shockey, der Exekutivdirektor der Police Chiefs Association für den Bundesstaat Missouri, wo das genehmigungslose Tragen von Waffen seit 2017 legal ist, sagte mir, er glaube, dass die meisten Polizisten die meisten Menschen bei Verkehrskontrollen für bewaffnet halten."

Elet es Irodalom (Ungarn), 21.01.2022

Der Ökonom István Csillag nimmt mit einem Aufsatz an der seit längerer Zeit anhaltenden Debatte teil, wie nach einem eventuellen Sieg der vereinten Opposition bei den kommenden Parlamentswahlen (am 3. April), das System Orbans durch eine neue Verfassung abgelöst werden kann. "Die Wiederherstellung der rechtstaatlichen Verfassung darf kein 'kaukasischer Kreidenkreis' sein, die Opposition darf der autoritären Orbán-Regierung nicht nacheifern und wie Orban das Land entzweien. Sie kann selbst dann den für die neue Verfassungsgebung benötigten Frieden nicht garantieren, wenn sie eine Zweidrittelmehrheit erlangt. Mit dem Sieg der Opposition ist lediglich das Erlangen der Regierungswerkzeuge und die Neutralisierung des Orbán-Systems möglich, was allerdings nicht konfliktfrei sein wird. Man kann nicht davon ausgehen, dass der Lautsprecher die nächste Haltestelle ansagt, wo dann die Fahnenträger des Orbán-Systems aussteigen und die bisher Unterdrückten einsteigen."

New Yorker (USA), 24.01.2022

Kann Science-Fiction uns vor der Klimakatastrophe bewahren? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, geht Joshua Rothman mit dem Science-Fiction-Autor, Literaturwissenschaftler und Klimaaktivisten Kim Stanley Robinson in den Bergen wandern. Seit geraumer Zeit befasst dieser sich mit der Frage, wie die Menschheit der sich abzeichnenden Klimakatastrophe Herrin werden kann (wobei die fürs Genre typischen Fantasien, im Zuge einfach das Weltall zu kolonisieren, für Robinson keine Option darstellen). Sein jüngster Roman "Ministerium der Zukunft" schildert eine Art Utopie nach der Dystopie, indem er erzählt, wie die Menschheit nach schlimmsten Hitzeperioden die Lage in den Griff bekommt. "Ein Büro voller Experten, verstockt und unterschiedlicher Meinung, aber ohne aufzugeben - das ist die Metapher auf unsere eigene Zeit, wie der Roman sie anbietet. Wir selbst sind dieses Ministerium der Zukunft. Auch unsere Aufgabe ist es, auf der Grundlage von bereits gegebenem Wissen zu handeln: viele der Antworten auf die Krise liegen bereits vor. Robinson recherchiert für seine Romane insbesondere, indem er an wissenschaftlichen Konferenzen teilnimmt. ... Globale Finanzen sind unsexy, aber ein wichtiger Teil des Buchs. Konzerne und Regierungen haben bereits riesige Vorräte fossiler Treibstoffe ausfindig gemacht, die noch abgebaut werden müssen, schreibt Robinson. Diese unangetasteten Vorräte gelten 'als Besitz der Konzerne, die sie aufgespürt haben' und sind hunderte Billionen Dollar wert. Wenn auch nur ein Sechstel dieser Vorräte verbrannt werden, brennen auch wir. Robinson nennt die tatsächliche Liste der 19 größten Besitzer dieser Vorräte und erzählt eine Reihe von Konferenzen, auf der die Zentralbanken der Welt einen Weg suchen, um sie auszuzahlen. ... Wann immer wir einen Blick auf den Schlamassel werfen, in dem wir uns befinden, scheinen die Lösungen, die uns dafür einfallen, unplausibel (eine Kohlenstoffwährung? Gestützt von den Zentralbanken?). Und doch droht unsere Skepsis, weil es um so viel geht, zu einem Nihilismus zu werden - wir akzeptieren, dass das Desaster für die Zivilisation unausweichlich ist. Letztendlich ist dieser Nihilismus eine Art Versündigung an der Zukunft - ein 'Verrat', wie Greta Thunberg es ausdrückt - und in dieser Hinsicht ist die Lektüre von 'Das Ministerium der Zukunft' eine aufgeladene Erfahrung." (Lesenswert auch ein Interview, das Perlentaucherin Thekla Dannenberg im November für die taz mit Robinson führte.)

James Wood begibt sich mit einer neuen Biografie über Led Zeppelin nochmal tief in den Abgrund aus Sex, Drogen, Rock'n'Roll und jeder Menge Satanismus, wie er in den Siebzigern gang und gäbe war. Was brauchte er damals Punk, wenn er Led Zep haben konnte? "Wie die meisten Jugendlichen aus der Mittelschicht wollte ich Gefahr eher bezeugen als tatsächlich erleben. ... Wenn die Energie der Band zur Hälfte aus Proto-Punk-Zerstörungslust bestand, war die andere Hälfte musikalisch kultivierte Restauration: Es war einfach die brillanteste verspätete Bluesband der Welt. Ihre Gewalt riss die Dinge auseinander, die ihre Musikalität wieder zusammensetzte. In dieser Hinsicht waren Led Zeppelin das Gegenteil von Punk, dessen anarchische Negation darauf beruhte, das eigene Instrument kaum oder, wie in manchen Fällen, überhaupt nicht zu beherrschen."

Weitere Artikel: Adam Gopnik überlegt, was Buster Keatons Komik so modern macht. Alex Ross hört Chopin, gespielt von dem Pianisten Stephen Hough. Und verneigt sich Zadie Smith (noch in der letzten Ausgabe) vor Toni Morrisons literarischem Genie.
Archiv: New Yorker