Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
23.12.2002. In Literaturen träumt Philip Roth von Kafka. Der Economist schlägt das Erbe von Karl Marx aus. Der Merkur stöhnt über den Zwang zur permanenten Innovation. Der Spiegel portärtiert den Regierungsberater Heinrich August Winkler. In Outlook India teilt Richard Gere mit, dass er bisher noch keinen Grund zur Klage über George Bush hat. Prospect hat das Buch "Kicking Away the Ladder" von Ha-Joon Chang und nennt es das "wichtigste Buch der letzten Jahre zum Thema Weltwirtschaft".

Literaturen (Deutschland), 01.01.2003

Die Feuilletons sagen es ja nicht, schon weil sie ungern auf eigene Schwächen - nämlich die mangelnde Schwerpunktsetzung in der Literaturkritik - hinweisen: aber Literaturen bindet Monat für Monat interessante und anregende Sträußchen zu neuen Büchern. Diesmal geht's um Kafka - der Anlass ist die neue Biografie von Reiner Stach. Das Buch selbst wird von Sander L. Gilman, Autor einer jüngst erschienen Biografie über Jurek Becker, besprochen. Einige Autoren, darunter Imre Kertesz schildern in kürzeren oder längeren Texten ihr Verhältnis zu Kafka. Besonders lesenswert hier die Texte von Sibylle Lewitscharoff und von Georg Klein, der über die Unverwüstlichkeit der "Verwandlung" nachdenkt.

Höhepunkt des Dossiers ist ein bisher im Deutschen unveröffentlichter Essay Philip Roths aus den siebziger Jahren. Roth stellt sich hier vor, dass Kafka überlebt hätte und 1938 nach New York emigriert wäre, wo er dem späteren Autor des Essays begegnet: "1942. Ich bin neun; mein Hebräischlehrer, Dr. Kafka, ist 59. Den Jungen, die täglich an seinem Nachmittagsunterricht von vier bis fünf teilnehmen müssen, ist er als Dr. Kishka bekannt - teils wegen seiner schwach mnerklichen, melancholischen Fremdartigkeit, hauptsächlich aber deshalb, weil wir unsern Ärger darüber auslassen, dass wir eine alte Schönschrift lernen müssen, anstatt uns um diese Zeit draußen auf dem Sportplatz die Lungen aus dem Leib zu schreien. Der Spitzname geht auf mein Konto. Sein saurer Atem, der nachmittags gegen fünf Uhr Magensäfte ausdünstet, lässt das jiddische Wort für 'Eingeweide' besonders sprechend erscheinen, finde ich."

Einzig online zu lesen ist ein kleiner Essay von Frauke Meyer-Gosau über die literarischen Debüts des fast schon verflossenen Jahres: "Nach dem triumphalen Aufmarsch jugendlicher Talente mag der Markt die Debütanten auf einmal nicht mehr so sehr, und selbst ihre einstigen Propheten rudern heimlich, still und leise zurück: Eine neue literarische Substanz habe sich leider nicht ergeben, heißt es, die Neue Deutsche Welle der Literatur habe offenkundig nicht weit getragen und daher als Ganze auch kaum eine Perspektive." Aber so unzufrieden ist Meyer-Gosau mit den Romanen von Ricarda Junge und Markus Orths, Gregor Sander, Philip Meinhold, Nina Jäckle, Helmut Kuhn und Marc Buhl dann doch gar nicht.



Archiv: Literaturen

New York Times (USA), 21.12.2002

Eine lange Parade von prominenten Rezensenten diese Woche: Nick Hornby (mehr hier) hat sich immer ein bißchen geschämt, wenn er im Taxi einen der sechs Comics oder besser Graphic Novels (hier eine Auswahl der Illustrationen) las, die er in dieser Ausgabe vorstellt. Obwohl er sie anspruchsvoll, innovativ und anregend findet wie es sonst nur gute Bücher sind. Hornby fühlte immer den Drang, dem Taxifahrer ztu erklären, dass zu Hause auf dem Nachttisch eine Menge "echter" Bücher bereitlägen. "die Wahrheit ist natürlich, dass viele dieser richtigen Bücher ungelesen bleiben werden, oder halbgelesen, wohingegen diese Comics verschlungen wurden, schnell und mit großer Lust: Comicbücher sind nie langweilig, nie so, wie Prosa sein kann, und es ist unvorstellbar, eine Graphic Novel nur halb zu lesen, ebenso wie man ein Sonnett nicht nur bis zur Hälfte liest. Und wirklich, eines der Probleme mit einem Buch wie Eric Dookers überwältigend schönem 'Blood Song' besteht darin, wie man es angemessen genießen kann. Man setzt sich kaum hin und beginnt auf Seite 1, und 20 Minuten später findet man sich am Ende, ausgespuckt aus der Geschichte und chancenlos, die ganzen Eindrücke auch nur annähernd aufgenommen zu haben."

Wenn William Langewiesche, Chefreporter des Atlantic Monthly, ein Buch und seinen Autor so rückhaltlos empfiehlt, kann man fast nichts mehr falsch machen. Und Langewiesche ist begeistert, er schwärmt von Charles Bowdens Geschichte (erstes Kapitel) eines Mannes, dessen jüngerer Bruder sterben musste, weil er gegen den Drogenschmuggel an der amerikanisch-mexikanischen Grenze kämpft. "Ist 'Down by the River' ein Exposee, etwas Geschichtliches, eine Biografie, eine Erinnerung, eine Abenteuergeschichte oder philosophisches Sinnieren? Alles auf einmal, Reportage auf höchstem Niveau, und es wechselt zwischen diesen Kategorien ohne Zögern oder Entschuldigung. Es ist auch eine Art Poesie. Wenn Bowden loslegt, schreibt er wie im Fieber."

Außerdem: Robert Gottlieb, Ex-Chefredakteur des New Yorker, lobt die von Susan Stanford Friedman herausgegebenen "Analyzing Freud - Letters of H.D., Bryher, and Their Circle" (erstes Kapitel) - alle waren Patienten von Sigmund Freud -, worin das Wien der 30er Jahre vor dem inneren Auge genau so aufersteht wie der große Freud, der hier aus allernächster Nähe geschildert wird. Patricia Hampl hat durch Ivan Klimas große Biografie (erstes Kapitel) den großen Tschechen Karel Capek kennen- und schätzen gelernt, den sie nach der Lektüre seines neu herausgegebenen Erzählbandes "Cross Roads" (erstes Kapitel) gleichauf mit Kafka und als Vorbild Milan Kunderas sieht. Jodi Kantor findet Susan Antillas Report über sexuelle Belästigung an der Wall Street "Tales from the Boom Boom Room" (erstes Kapitel) zwar schockierend, aber nuancenreicher als die gewöhnliche Aufdeckungs- und Skandalgeschichte.
Archiv: New York Times

Times Literary Supplement (UK), 21.12.2002

Imperialismus sei scheinbar wieder in, bemerkt Ronald Wright (mehr hier und hier) , findet aber die These interessant, die Henry Kamen in seinem Buch "Spain's Road to Empire" (Auszug) vertritt, nämlich dass nicht die Großmacht Spanien ihr Kolonialreich geschaffen habe, sondern umgekehrt. In der Tat seien die eroberten Länder maßgeblich an der Errichtung der spanischen Großmacht beteiligt gewesen. Hier ist für Wright allerdings Vorsicht geboten: "Es ist sicher richtig, dass sowohl in Amerika als auch in Asien, eingeborene Kräfte und Interessen eine wichtige Rolle in der Konsolidierung der spanischen Macht gespielt haben. Aber eroberte Völker forsch-fröhlich 'Kollaborateure' zu nennen, ist so, als würde man behaupten, Juden, Slawen, Zigeuner und anderen Zwangsarbeiter hätten bei der Errichtung des Dritten Reichs 'kollaboriert'."

Gabriel Dover beschäftigt sich mit Steve Jones' Buch "Y - The Descent of men", in dem Jones die "neue Wissenschaft der Männlichkeit" präsentiere. Diese Männlichkeit sei zunächst noch "ein einigermaßen wohl verstandener, genetisch beeinflusster Zustand", gerate aber mehr und mehr zur Suche nach dem "Wesen des Mannes", das ein ungleich "schwierigeres Konzept" darstelle. "Kein Mars oder Venus mehr, bitte!", seufzt der Rezensent.

Weitere Artikel: John Whale findet Raymond Chapmans Anthologie zum klerikalen Leben zu wenig durchdacht, freut sich aber, dass der Leser mit "anregenden und bedachten Texten" konfrontiert wird. Dawn Ades berichtet über die Azteken-Ausstellung in der Londoner Royal Academy of Arts und wundert sich, wie sehr die heftigen und meist verurteilenden Reaktionen der heutigen Kritiker sich von der Bewunderung der damaligen Entdecker unterscheiden.

Nur im Print zu lesen sind unter anderem "God still matters" von Anthony Kenny, "The Two Towers" von Tom Shippey und "The Room of Saints and Virgins" von Jean Sprackland.

Nouvel Observateur (Frankreich), 19.12.2002

Hauptsächlich Rezensionen und Besprechungen in dieser Woche, dafür aber interessante. Als "längst überfällig" feiert der Nouvel Observateur die neue Pleiade-Ausgabe der Romane, Erzählungen und Novellen von Theophile Gautier (mehr hier), dem "heitersten und frechsten Schriftsteller seiner Epoche", so Dominique Fernandez. Der "am meisten verkannte der großen französischen Autoren" habe "als Romantiker stets im Schatten Hugos, als Abenteuerschrifsteller im Schatten Dumas' und als Lyriker im Schatten Baudelaires" gestanden, der ihm seine berühmten "Fleurs du mal" gewidmet hatte. Einer der Gründe dafür, vermutet der Rezensent, "könnte die Beweglichkeit seines Geistes gewesen sein, der gegen jede Form der Rekrutierung durch welche Doktrin auch immer rebellierte."

Sehr gelobt wird auch eine Biografie über den französischen Germanisten Jacques Decour, der 1942 in Paris von den Nazis erschossen wurde ("Jacques Decour, l?oublie des lettres françaises", von Pierre Favre, Editions Leo Scheer). Verhaftet wurde er während der Vorbereitung für die erste Nummer der Zeitschrift "Lettres francaises", die er gemeinsam mit Paulhan gegründet hatte. Decour - auch Übersetzer von unter anderen Storm, Heine, Kleist und Goethe - hatte während der Okkupation "die 'Front national des Ecrivains'" organisiert und einen offenen Brief "an die Herren Bonnard, Fernandez, Chardonne, Brasillach, ehemalige französische Schriftsteller" geschrieben, der mit den Worten endet: "Die Literatur wird weiterleben. Ohne Sie. Gegen Sie."

Hingewiesen sei auch auf ein Porträt des "großen Vergessenen des italienischen neorealistischen Kinos", Luciano Emmer. Der inzwischen 85-Jährige hatte 1952 in Venedig den "Goldenen Löwen" gewonnen und legt nun seinen neuen Film "Une longue, longue, longue nuit d?amour" vor, den er als "den ersten eines neuen Zyklus" verstanden wissen will. Etwas abseitig, aber sehr vielversprechend liest sich schließlich die Kritik des Films "Les Larmes du Tigre noir" von Wisit Sasanatieng. Bei dem Debüt handle es sich um einen "köstlichen thailändischen Western" ("alles ist Kitsch, theatralisch, bombastisch"), den man sich laut Nouvel Observateur so vorzustellen hat: "Sergio Leone revu par Pierre et Gilles".

Economist (UK), 20.12.2002

Neuerdings, so der Economist, sei man damit beschäftigt, Marx' intellektuelles Vermächtnis aufzuwerten und ihn - demzufolge - aus dem realkommunistischen Fiasko auszunehmen. Dies höre sich dann etwa so an: "Verwerft unbedingt den Kommunismus, so wie er in der Sowjetunion und Osteuropa praktiziert wurde (und in China, Nordkorea, Kuba und eigentlich überall da, wo er immer noch praktiziert wird). Aber bitte, verwerft Marx nicht." Überraschend ist daran für den Economist, dass Marx noch immer eine solche Breitenwirkung besitzt, wo er doch "seltsam irrelevant" für die "moderne Ökonomie" ist. "Wie kann man das erklären? Was, wenn überhaupt, kann in Marx' Schriften noch gelten?"

Auf welch unterschiedliche Weise man eine konservative Tradition beerben kann, zeigt der Vergleich zwischen amerikanischen Republikanern und britischen Tories. Während die Tories ihren Platz als zweitstärkste Partei nur mit Mühe halten könnten, haben sich die Republikaner zur wirklichen Volkspartei entwickelt. Dies allerdings "ist nicht nur eine Sache des politischen Erfolgs, sondern der Philosophie" - und bei der Aufzählung dieser philosophischen Leistungen kann man sich ein ironisches Lächeln nicht verkneifen: "Man kann sich keine europäische Partei vorstellen, die eine so große Steuersenkung durchsetzen würde wie die von George Bush, die das Kyoto Protokoll zu Ramsch erklären würde, die auf Schärfste für den Waffenbesitz und die Todesstrafe ins Feld ziehen würde, die aus Abtreibung einen solchen moralischen Kreuzzug machen würde, die einer 'Achse des Bösen' den Krieg erklären würde, die Israel so zielstrebig unterstützen und die Vereinten Nationen unverhohlen angrinsen würde." Als Hillary Clinton dies eine große Rechts-Verschwörung genannt hat, so der Economist, "hat sie übertrieben - aber nicht viel".

Pünktlich zu Weihnachten, ein Blick in die Puppenkiste. Ist sie der "amerikanische Traum" oder der amerikanische Albtraum? Der unbestreitbare Erfolg der Barbie-Puppe gibt so manches Rätsel auf - und stachelt sogar Akademiker dazu an, Barbies mysteriöses Innere auszuleuchten: "Barbie repräsentiert die Art zeitgenössischer Individualität, die manche als militant und andere als befreit ansehen. Ihr Selbst ist ein veränderliches, proteisches, verarbeitendes, kontextgebundenes Selbst, dessen Verhalten sich von Situation zu Situation und von Rolle zu Rolle verändert... Ihre Persönlichkeit ist undefiniert, ja sogar ätherisch; ihre moralischen Werte sind mehr implizit als ausgesprochen oder bekräftigt; ihr intimes Leben - ihre Träume, ihre Leidenschaften, ihre treue Gebundenheit - bleibt ein Rätsel." Da bleibt kein Auge trocken.

Außerdem erfahren wir, dass 2002 ein gutes Jahr war - gemessen an den schlechten Erwartungen -, dass der Fitnesskult ein finsterer Puritanismus ist, dass die Zukunft des Personenfluges "pilotenlos" sein könnte, dass es ihn doch gibt - den lohnenswerten e-commerce und schließlich, dass der EU-Erweiterungs-Gipfel in Kopenhagen historisch war.
Archiv: Economist

Prospect (UK), 01.01.2003

Michael Lind ist davon überzeugt, dass der Ökonom Ha-Joon Chang mit seinem Buch "Kicking Away the Ladder" das "wichtigste Buch der letzten Jahre zum Thema Weltwirtschaft" geschrieben hat. Für Chang sei "das Scheitern der globalen freien Marktwirtschaft in der Hilfe für Entwicklungsländer kein Zufall gewesen". Im Gegenteil, "die Regeln der Weltwirtschaft sind so gestaltet, dass den armen Ländern nicht geholfen wird, eine moderne Wirtschaft zu entwickeln, und anstattdessen die Privilegien der jetzt führenden Industrieländer gestärkt werden. Die USA und andere fortgeschrittene Industriestaaten sind nicht nur egoistisch, sondern scheinheilig. Sie verweigern den Entwicklungsländern genau die Methoden, die sie in der Vergangenheit benutzt haben, um wirtschaftliche Supermächte zu werden." Würde dieses Argument von einem typischen links denkenden Globalismus-Kritiker stammen, könnte man es getrost überhören, so Prospect - doch Chang hat selbst unter anderem als Berater der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank gearbeitet.

Die Taliban stehen mit ihrer Dämonisierung des Fernsehens nicht allein, stellt Bella Thomas in einem sehr interessanten und skurrilen "Special Report" fest. In der oft gestellten Frage, wie Fernsehzuschauer in armen Ländern mit dem umgehen, was sie zu sehen bekommen, schwinge immer die Behauptung mit, dass "die Armen - anders als die schlauen Reichen - das, was sie sehen, pauschal aufsaugen". Im Gegenteil, die auf diesem Gebiet durchgeführten Studien belegten, dass in die Wahrnehmung immer auch die eigene Erfahrung einfließt und diese zu großen Teilen mitbestimmt. Eine Studie über holländische Dallas-Fans habe gezeigt, "dass ihr Spaß an der Show sich mit ihrem Bewusstsein, was deren ideologischen Inhalt betrifft, beißt. In einer Studie über 42 Anhänger der Ewing-Saga, kam heraus, dass jeder seine eigene Beziehung zur Serie hatte: Liebe zu Pamela, übertriebene Kleider, die amerikanischen Städte, JRs Schrecklichkeit, mit Amerika in Berührung zu sein, der enge Familienkreis, die 'Wahrscheinlichkeit" der Serie, die 'Unwahrscheinlichkeit' der Serie." Es sei eben doch nicht so einfach. "Also kann uns Fernsehen in vielerlei Hinsicht beeinflussen, und in keiner. Wir sollten uns daran erinnern, wie Virginia Woolf es ausgedrückt hat, dass jedes Individuum aus mindestens 28 Ichs besteht. Fernsehen schafft lediglich ein neunundzwanzigstes."

Weitere Artikel: Andrew Brown porträtiert Bill Hamilton, "den größten Evolutions-Denker des späten 20. Jahrhunderts". Edward Marriott, selbst Verfasser von Reisebüchern, beteuert, dass die schon so oft totgesagte Reiseliteratur sich bester Gesundheit erfreut. In einem Gespräch fragen sich verschiedene Persönlichkeiten aus dem britischen Universitäts-Milieu, ob Großbritannien Weltklasse-Universitäten hat und braucht, und ob Studiengebühren eingeführt werden sollen. Zuletzt gibt es ein paar Fakten: Hitler war 1938 für den Friedensnobelpreis nominiert worden und nächstes Jahr werden die Russen voraussichtlich zum ersten Mal mehr Bier als Wodka kaufen.
Archiv: Prospect

Merkur (Deutschland), 01.01.2003

Auch der Merkur ist jetzt der Neuen Zeit angekommen. Nicht nur, dass seine Texte endlich im html-Format zu lesen sind, das neue Heft ist ganz der Ökonomie verschrieben.

Christoph Müller etwa versucht sich an einer Ontologie der New Economy. "Diese Ökonomie, meint Müller, sei "selbstdestruktiv als Bedingung der Möglichkeit ihres Überleben". Da ihre Produkte immateriell sind, also nicht rosten oder verschleißen können, muss ihre Veralterung künstlich erzeugt werden: "Die Immaterialität seines Produktes erweist sich für den Produzenten als eine Art von Fluch, der ihn zu immerwährender Flucht nach vorn zwingt. Mit permanenten Innovationen produziert er nun selbst jene Vergänglichkeit, die seinen Produkten 'von Natur aus' nicht zukommt und die doch allein kontinuierlichen Absatz ermöglicht. Das paradoxe Ergebnis dieses Kunstgriffs ist bekannt: Nichts veraltete schneller als die verschleißresistenten Produkte der Informations- und Telekommunikationsbranche." Mit anderen Worten: "Pentium III entwertete Pentium II entwertete Pentium I; Office 2000 entwertete Office 98 entwertete Office 95; DVD entwertete CD entwertete Diskette; TDSL entwertete ISDN entwertete analogen Anschluß etc."

In seiner wunderbaren Ästhetikkolumne beschäftigt sich Wolfgang Kemp mit den neuesten Trends. Das sind unter anderem "Sofortvertrauen", "Verpflichtung auf Zeit", die Fernanwesenheit und die Generation Sandsack. In den Marginalien werden die Gewinner des Essaywettbewerbs "Unter 28" präsentiert. Unter anderen erzählt Ines Langelüddecke, warum ihr der Osten lieber ist als der Westen.

Leider nur im Print: Georg Franck ruft den mentalen Kapitalismus aus, "in dem nicht Ware gegen Geld, sondern Information gegen Aufmerksamkeit getauscht wird." Volker Gerhardt zeichnet die philosophische Karriere der "Anerkennung" nach. Adam Krzeminski beschreibt Polens langen Weg nach Westen als eine Folge meist missglückter Modernisierungsschübe.
Archiv: Merkur

Outlook India (Indien), 23.12.2002

Großes Titelthema dieser Woche ist, natürlich, das Wahlergebnis im Bundesstaat Gujarat. Die Hindu-Nationalisten unter ihrem Anführer Narendra Modi haben triumphal gesiegt, die Duldung, wenn nicht Unterstützung der Pogrome gegen Muslims hat sich also ausgezahlt. Die Kongress-Partei unter Sonia Gandhi hat damit einen schweren Schlag erlitten und fürchtet nun das Schlimmste für die neun im nächsten Jahr anstehenden Regionalwahlen - zu den Aussichten gibt es eine Analyse. Outlook sucht nach den Gründen und vermutet, dass die scharfen Töne der nicht-religiösen Gegner Modis ihren Teil zu seinem Erfolg beigetragen haben. Zitiert wird ein indischer Soziologe: "Die städtischen Säkularisten hatten bei ihrer Kampagne keine Möglichkeit, die Mehrzahl der Leute zu erreichen, einfach weil sie mit den lokalen Sprachen nicht vertraut sind. Ihre Kampagne wurde daher als ein Manöver der westlich Orientierten und Gebildeten betrachtet - und jedenfalls als solche dargestellt." Wenig ermutigend auch die folgende Analyse: "Es ging um eine größere politische Vision, wie es die RSS" - der radikalste Teil der Hindu-Nationalisten - "in diesem Jahr formulierte, die darauf hinausläuft, dass die Minderheiten auf den guten Willen der Mehrheitsgemeinschaft angewiesen sind, ohne sich auf das Recht berufen zu können."

Andere Themen: In einem recht ausführlichen Interview äußert sich Richard Gere zu seinem Engagement für Tibet, das ihn auch nach Neu-Delhi geführt hat, wo das Interview stattfand. Auf die Frage nach seiner Haltung zur Bush-Regierung antwortet er sehr diplomatisch: "(Pause) Bisher habe ich, was nun unmittelbar Tibet betrifft, noch keinen Grund zur Klage. Es gibt eine Menge Konflikte in der Welt, und es ist außerordentlich schwierig, für eine nicht-gewalttätige Bewegung Aufmerksamkeit zu erhalten." Allerdings vermutet Gere auch, dass das republikanische Interesse größer wäre, wenn die Tibetaner wenigstens Christen wären.

Positiv besprochen werden ein neuer Band mit Erzählungen von Hanif Kureishi - und der Bollywood-Film "Kaante" (zu deutsch: Dornen), bei dem es sich, man höre und staune, um ein Remake von Tarantinos "Reservoir Dogs" handelt. "Kaante" wurde in Los Angeles gedreht, mit indischen Stars und indischem Regisseur, aber mit amerikanischem Team und in einer Mischung aus hindi und englisch - der Film startet, das ist eine Premiere, zu gleicher Zeit in Indien und in den USA (wenn auch nur in New York und LA). Hier die ebenfalls nicht unfreundliche Kritik in der New York Times.
Archiv: Outlook India

Spiegel (Deutschland), 23.12.2002

Traditionell gibt's beim Spiegel zu Weihnachten Gott. In diesem Jahr geht es unter dem Titel "Die Erfindung Gottes" um die Fragen: "Ist der liebe Gott erst 2000 Jahre alt? Besaß er ursprünglich gar eine Frau?" Für die Antworten bitte 85 Cent in den Spiegel-Klingelbeutel.

Jürgen Leinemann porträtiert den in der Berliner Republik zum Kanzlerberater erhobenen Historiker Heinrich August Winkler, der zuletzt mit seinem entschiedenen Nein zum EU-Beitritt der Türkei aufhorchen ließ. Winkler selbst hört das Wort vom "Berater" freilich nicht so gern: "Obwohl der Kanzler bestätigt, dass er Heinrich August Winkler 'häufig' trifft, reagiert der überaus empfindlich auf die Charakterisierung als Regierungsberater. Eher versteht sich der Professor als historischer Nachhilfelehrer. Dass der dringend gebraucht wurde, blieb auch in der Folgezeit unübersehbar." So ist es wohl auch Winkler zu verdanken, dass Schröder das Schlagwort vom "deutschen Weg" rasch wieder vergessen hat, denn das berühmteste Buch des Historikers beschäftigt sich auf über tausend Seiten genau mit der Ankunft Deutschlands im Westen, dem Ende also aller Sonderwege. In Sachen Irak jedoch hat Schröder akademische Unterstützung: "Der Westen ist pluralistisch, oder er gibt sich selbst auf", lautet Winklers Credo.

Irgendwann zwischen dem 26. Mai und dem 2. Juni 1911 hat Thomas Mann auf dem Lido den polnischen Jungen gesehen, der in seinem "Tod in Venedig" dann den Namen Tadzio trug. 1965 meldete sich der polnische Baron Wladyslaw Moes und sah sich als den Jungen, der er damals war, beschrieben. Der Autor Gilbert Adair hat nun eine Biografie des Barons verfasst, die auch voller Spekulationen darüber ist, warum alles nicht so hundertprozentig hinhaut. So fragt er sich: "War Thomas Mann kurzsichtig? Machte ihn die Liebe blind? Oder täuschte er sich einfach?" Vielleicht nichts von alledem, meint nun Volker Hage in einem Artikel, dessen Ausführlichkeit der Bedeutung des Ganzen gerecht wird. Vielleicht nämlich war es doch nicht Moes, Hage schleppt gleich einen neuen Verdächtigen an, Beweise freilich hat auch er nicht und resümiert darob: "Es bleibt Spekulation. Das Geheimnis um den schönen Tadzio, dessen Anblick den alten Aschenbach 'mit Zufriedenheit und Lebensfreude' erfüllt, dürfte kaum mehr zu lösen sein."

Online ist außerdem nachzulesen, wie das Desaster um die einst gehypte Bildbearbeitungsfirma Das Werk auch ihren Mitgründer Wim Wenders ruiniert hat. Weitere Themen im Heft sind illegitime Priesterkinder, ein Rückblick auf 50 Jahre Fernsehen, Kritik an den "Schaumschlägereien" des Peter Sloterdijk und "der Aufstieg der schwarzen Intelligenzija" in den USA.
Archiv: Spiegel