Magazinrundschau

Was zum Teufel machen wir alle hier?

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
22.11.2022. Die LRB liest zwei Bücher zur Fußball-WM und Katar: 250 Milliarden Dollar hat Katar seit Vergabe des Turniers ausgegeben. Einen Entschädigungsfonds für ums Leben gekommene Wanderarbeiter möchte man aber lieber nicht einrichten, berichtet Prospect. Wie gut die Golfstaaten insgesamt im Sportswashing sind (und wie gern europäische Fußballclubs davon profitieren), erzählt Vanity Fair. In El Cultural rät die Schriftstellerin Cristina Morales von Dating Apps ab: Damit ist schlechter Sex garantiert. Harper's blickt auf den Wanderzirkus internationaler Organisationen, der in Niger floureszierende Cocktails schlürft. Der New Yorker reist ins antarktische Nichts.

London Review of Books (UK), 17.11.2022

David Goldblatt hat zwei Bücher gelesen, die ihm Einblick geben in das Land Katar. Wie wichtig Fußball - bzw. Sport insgesamt - für die soft power der Außenpolitik Katars ist, lernt er aus Paul Michael Brannagans und Danyel Reiches Band "Qatar and the 2022 Fifa World Cup: Politics, Controversy, Change". Wie kostbar diese soft power für die Herrscher Katars ist, vermitteln schon die Zahlen: "Nach vorsichtigen Schätzungen hat die katarische Regierung seit der Vergabe des Turniers im Jahr 2010 rund 250 Milliarden US-Dollar für die Entwicklung ausgegeben - mehr als das gesamte BIP des Landes. Das ist auch mehr als die Kosten aller bisherigen Weltmeisterschaften und Olympischen Spiele zusammengenommen." Abgesehen davon hat Katar enorme Summen in den europäischen Fußball und die Fifa investiert, was offenbar häufig freundschaftlichen Zugang zu europäischen Politikern sichert. Wer mehr über das Leben der Katarer wissen möchte, die "den Wandel eines Landes vom vormodernen Elend zum postmodernen Reichtum" miterlebten, dem empfiehlt Goldblatt "Inside Qatar: Hidden Stories from One of the Richest Nations on Earth" von John McManus. "Katarische Bürger zahlen keine Steuern. Gesundheitsversorgung und Bildung sind kostenlos. Der Staat garantiert all jenen, die es wünschen, eine Beschäftigung. Doch die politische Macht liegt in den Händen einer kleinen Schicht von Aristokraten rund um das Königshaus. Unkonventionelles Verhalten, geschweige denn Kritik am Status quo, ist riskant. Eine Zivilgesellschaft - von politischen Interessengruppen bis hin zu unabhängiger künstlerischer Produktion - ist so gut wie nicht vorhanden. Auffälliger Konsum ist jedoch erlaubt. Kataris sind die weltweit eifrigsten Käufer von Luxusgütern, was bedeutet, dass sie trotz der Großzügigkeit des Staates massiv verschuldet sind: Drei Viertel der katarischen Familien haben Schulden in Höhe von mindestens 70.000 Dollar. Viele haben auf die Hypermodernisierung des Landes reagiert, indem sie sich der Tradition verschrieben haben; einige haben sich stärker dem wahhabitischen Islam oder sogar, zum Entsetzen des Regimes, radikaleren salafistischen Strömungen angeschlossen."

Prospect (UK), 19.11.2022

Die Fifa und Katar verstehen bis heute nicht, welche Monstrosität diese Fußball-WM ist, notiert Mark Damazer, den auch die inzwischen eingeleiteten arbeitsrechtlichen Verbesserungen für die "Wanderarbeiter" nicht beeindrucken. "Eine große Zahl von Arbeitern hat von keinerlei Verbesserungen profitiert, viele Menschen sind unnötigerweise gestorben, und Katar scheint kein Interesse daran zu haben, etwas Sinnvolles für sie oder ihre Familien zu tun. Ein katarischer Minister bezeichnete kürzlich einen Entschädigungsfonds für Wanderarbeiter, die bei der Arbeit an WM-Projekten ausgebeutet, getötet oder verletzt wurden, als 'Publicity-Gag'. Die Kataris sind auch nicht bereit, auf eine andere Forderung einzugehen, nämlich die Einrichtung eines Zentrums für Wanderarbeiter in Katar selbst. Die Fifa steht nun also unter Druck, ihre eigenen enormen finanziellen Möglichkeiten zu nutzen, um Wiedergutmachung zu leisten. Und vielleicht raschelt es ja auch ein wenig - zumindest nach dieser wenig beachteten Bemerkung des stellvertretenden Fifa-Generalsekretärs Alasdair Bell, der im vergangenen Monat vor dem Europarat sagte, es sei 'wichtig zu versuchen, dass jeder, der durch seine Arbeit bei der WM einen Schaden erlitten hat, irgendwie entschädigt wird'. Er fügte hinzu, dass dies 'etwas ist, das wir gerne vorantreiben möchten'. Aber Bell spricht vielleicht nicht für seinen Chef. Amnesty ist der Ansicht, dass Infantino das Problem Nummer eins ist: 'Der Entscheidungsträger bei all dem ist Herr Infantino, der auffällig schweigsam zu unserem Vorschlag geblieben ist... ohne selbst irgendwelche Lösungen anzubieten oder sich zu verpflichten, die Arbeitsmissbräuche anzugehen, die viele Wanderarbeiter im Vorfeld dieser Weltmeisterschaft erlitten haben.'"
Archiv: Prospect

Vanity Fair (USA), 01.12.2022

Auch für Tom Kludt ist die Fußball-WM in Katar ein absolutes Desaster. Allerdings ein hausgemachtes, zu dem auch die Medien beitragen: "Die Organisatoren haben Beschränkungen auferlegt, wo und was Medienvertreter dokumentieren können, und verbieten das Filmen oder Fotografieren von Wohnhäusern, Privatunternehmen und Regierungseinrichtungen. Die harte Haltung der Regierung hat bereits zu Zwischenfällen geführt. Letzte Woche unterbrachen katarische Sicherheitsbeamte die Live-Aufnahmen eines dänischen Fernsehteams in den Straßen von Doha und drohten, die Kameraausrüstung zu zerstören; die Organisatoren der Fußballweltmeisterschaft entschuldigten sich später und erklärten, es habe sich um einen Fehler gehandelt. 'Es herrscht eine echte Feindseligkeit zwischen den Medien, den Fans und dem Gastgeberland, wie ich sie noch nie erlebt habe', sagt Guardian-Reporter Barney Ronay, der in diesem Jahr zum dritten Mal über die Fußballweltmeisterschaft der Männer berichtet. 'So sollte es eigentlich nicht sein.' Ronay ist besorgt, dass es zu weiteren Zwischenfällen zwischen Journalisten und den katarischen Behörden kommen könnte, aber er glaubt auch, dass die angespannte Atmosphäre es den Medien unmöglich macht, über das Ereignis ausschließlich durch das Prisma des Sports zu berichten. 'Es gibt nur eine Geschichte', sagte Ronay, 'und die lautet: Was zum Teufel machen wir alle hier?'" Die Antwort wäre: Geld und Quoten sichern. "Andere Fans des Fußballs sind zu einer ähnlichen Abwägung gezwungen, da der globale Fußball in diesem Jahrhundert durch den Eintritt einer Reihe von Petro-Staaten aus dem Nahen Osten auf den Kopf gestellt wurde. Manchester City ist dank der Großzügigkeit seines Besitzers, Scheich Mansour bin Zayed Al Nahyan aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, zum dominierenden Verein in England geworden. Ein weiterer englischer Verein, Newcastle United, wurde letztes Jahr vom Public Investment Fund Saudi-Arabiens gekauft. Die Katarer, die über eines der größten Erdgasvorkommen der Welt verfügen, haben auch an dieser Front mitgemischt. Die staatliche Beteiligungsgesellschaft Katars ist Eigentümerin von Paris Saint-Germain, einer galaktischen Mannschaft mit Lionel Messi, Kylian Mbappé und Neymar an der Spitze. [Der Vollständigkeit halber sei hier auch Bayern München erwähnt, die von Katar laut Bild-Zeitung (via Fußball News) mit um die 17 Millionen Euro jährlich gesponsort werden] Diese Übernahmen werden weithin als Lehrbuchfälle von 'Sportswashing' angesehen, bei denen ein Land mit einem angeschlagenen Image einen geliebten Sport nutzt, um sein Image aufzupolieren. Die Fußballweltmeisterschaft 2022 könnte der ultimative Ausdruck dafür sein."

Die Kushners, Trumps Tochter Ivanka und ihr Mann Jared, sind als ehemalige Berater von Donald Trump in den besseren Kreisen von Washington und New York heute unmöglich, in Florida, wohin sie mit ihrer Familie gezogen sind, geht es ihnen glänzend - auch dank der engen persönliche Beziehung Kushners zum saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman und zu Katar, berichtet Emily Jane Fox in einer Reportage, die einen würgen lässt. "Etwa sechs Monate nach der Vereidigung Joe Bidens gab Kushner in Florida bekannt, dass er die Investmentfirma Affinity Partners gründen würde. Bis zum Ende des Jahres hatte Affinity 3 Milliarden Dollar eingesammelt, davon 2 Milliarden Dollar von einem Fonds unter der Leitung von Mohammed bin Salman ... Kushner baute ein Team von etwa 30 Personen auf, darunter erfahrene Private-Equity-Experten und eine Reihe von Mitarbeitern aus Trumps Weißem Haus, darunter dessen langjährigen Berater Avi Berkowitz als Partner. Andere hatten im Nationalen Wirtschaftsrat, im Rat der Wirtschaftsberater und im politischen Team des Weißen Hauses gearbeitet. Miguel Correa, ein pensionierter Zwei-Sterne-General, der dem Nationalen Sicherheitsrat angehörte, kam als Mitglied des Geowirtschaftsteams hinzu. Sie bezogen die gesamte neunte Etage eines 12-stöckigen Gebäudes, zu einer Zeit, als Büroräume überall spottbillig waren, und während der Bauarbeiten mieteten sie einen Platz im 12. Sobald man die Tür zum Büro aufschwingt, schlägt einem der Ozean ins Gesicht, vom Boden bis zur Decke, so dass das Meer aus Stehpulten und Betonböden und die sonstige Nüchternheit des Raums verschwinden. An den Wänden hängen gerahmte, von Donald Trump signierte Titelseiten mit Kushner, ein WM-Trikot mit dem Namen Kushner und der Nummer 26 - eine Anspielung darauf, dass Kushner die Fußballweltmeisterschaft ausgehandelt hat, die 2026 nach Nordamerika kommt. Die Verbindung zu Trump mag für einige potenzielle Geschäftsleute ein rotes Tuch sein, aber sie hat viele andere nicht davon abgehalten. Etwa 400 Unternehmen haben Affinity im ersten Jahr Pitch Decks mit Finanzierungsanfragen zugesandt, obwohl Affinity bisher nur in vier investiert hat."
Archiv: Vanity Fair

El Cultural (Spanien), 21.11.2022

Soziale Medien dienen ausschließlich der sozialen Kontrolle und Frauen sollten ihrem Bauchgefühl trauen. Das meint im Interview mit El Cultural die spanische Schriftstellerin Cristina Morales. Die einstige Hausbesetzerin gehört zu den wichtigsten jungen Literaturstimmen Spaniens. Dass soziale Medien und insbesondere Dating Apps immer noch für ein Instrument der Befreiung gehalten werden, ist ihr absolut unverständlich: "Es gibt Leute, die argumentieren, Apps seien emanzipatorisch für bestimmte dissidente Persönlichkeiten oder nicht-kanonische Physiker, die es noch nie leicht hatten, Sex zu haben. Aber ich kann diesem Diskurs nicht zustimmen, weil Apps die Menschen, die sie nutzen, typisieren. Abgesehen davon, dass die Spontaneität flöten geht, führen sie dazu, dass man in eine Schublade gesteckt wird. Das verfestigt den Kanon, von dem man sich eigentlich befreien sollte. Ich ermutige jeden, diese Dating-Apps loszuwerden, denn so fickt man nicht, oder man fickt schlecht, mit weniger Geschmack, und man schaut dabei ständig auf sein Handy." Als der Interviewer ihr erzählt, dass Pasolini einst meinte, zu viel sexuelle Freiheit würde uns zu Terroristen machen würde, weil wir den Körper des anderen nur noch als Konsumgut sähen, muss Morales lachen. "Wie lustig, Pasolini... Ich erinnere mich, dass er irgendwo geschrieben hat, es wäre unmöglich gewesen zu ficken, als er mit Terenci Moix zusammen war, dass er kein Liebhaber war, sondern eine Bibliothek [lacht]. Ich denke, dass es in der Gesellschaft, in der wir leben, nicht so viel sexuellen Überfluss gibt, dass er eine Gefahr darstellt. Im Gegenteil: Wir leben in Knappheit und sexueller Unterdrückung, und deshalb ficken wir so schlecht, so materialistisch, weil es eine absolute Ignoranz gegenüber dem anderen gibt. Ich würde mir gerne Sorgen um diesen Überfluss machen, auf den Pasolini hinweist, aber im Moment sind wir noch weit davon entfernt."
Archiv: El Cultural

HVG (Ungarn), 22.11.2022

Anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Gedichtbandes spricht 1974 geborene Dichter und Dramaturg Krisztián Peer, einer der wichtigsten Autoren seiner Generation, im Interview mit Róbert Németh über Illusionen und Erkenntnisse der Wende, die er zusammen mit Dichtern und Schriftstellern wie dem verstorbenen János Térey oder István Kemény, Attila Bartis, Árpád Kun u.a. durchlebt hat. "Wir dachten damals, es würde von Tag zu Tag besser werden. Denn von Tag zu Tag war die Freiheit größer, wenigstens haben wir es so empfunden und wir dachten damals noch, dass es darüber einen gesellschaftlichen Konsens gibt, dass Freiheit etwas Gutes sei. Vor Kurzem hat mich ein jüngerer Freund scharf kritisiert: Ich würde mich zu viel mit Politik beschäftigen, dabei hätte das politische System auf höchstens zehn Prozent meines Lebens Einfluss. Er konnte sich nur deswegen dermaßen irren, weil er in seinem erwachsenen Leben nicht für eine Minute Gelegenheit hatte, daran zu glauben, dass er an einem großartigen Ort lebt. (…) Ich muss hinzufügen, ich war lange Zeit in vielen Freundeskreisen der Jüngste, und ich folgte sowohl im Geschmack als auch im Denken den Großen. Bis zur Jahrtausendwende saßen in den sympathischen Kneipen junge Menschen, die Künstler sein wollten, denn die Kunst ist das prädestinierte Gelände zur Ausübung von Freiheit, kein Beruf, sondern Lebensform. Die heute in den sympathischen Kneipen sitzenden junge Menschen sind eher Aktivisten, die erbost über den individualistischen Freiheitsbegriff der älteren Generationen sind, die für systematische Zusammenhänge blind waren. Ich neige dazu ihnen Recht zu geben, doch heutzutage verkehre ich in Kreisen, in denen ich der älteste bin. Ein Kind der systemwechselnden Illusionen."
Archiv: HVG

Harper's Magazine (USA), 01.12.2022

In Niger wachsen die Spannungen zwischen nomadischen Hirten und sesshaften Bauern, zwischen Peul, Tuareg und Djerma, aber auch die politischen Konflikte mit der Regierung. Zudem treibt die Terrorgruppe ISGS (Islamischer Staat in der Groß-Sahara) ihr Unwesen. In der Hauptstadt Niamey wundert sich Reporterin Caitlin L. Chandler, dass sich der internationale Wanderzirkus fast schon vollzählig eingefunden hat: Militärs, Geheimdienste und Söldnertruppen, dazu UNHCR, Unicef, IOM und GIZ. Ob's hilft? "In Niamey scheint der Konflikt einen Großteil der lokalen Wirtschaft anzutreiben. Nach Angaben der Beobachtungsstellung für Ökonomische Komplexität rangiert Reis bei den Importen an vorderster Stelle, gefolgt von 'explosiver Munition', einer Kategorie, die 'Bomben, Granaten, Torpedos, Minen und Raketen' umfasst. Neben den Amerikanern sind in Niamey etwa tausend französische Soldaten stationiert, außerdem Abordnungen aus Algerien, Belgien, Kanada, den Niederlanden, Italien und Spanien, eine UN-Friedenstruppe für Mali, die Sicherheitsattachés der Europäischen Union und Soldaten der G5 Sahel, einer gemeinsamen Initiative von Burkina Faso, Mali, Tschad, Mauretanien und Niger. (Mali hat sich diesen Sommer zurückgezogen.) Viele dieser ausländischen Truppen, die sich auf einen nebulösen Mix aus Grenzkontrollen und Aufstandsbekämpfung kaprizieren, fahren in gepanzerten Fahrzeugen in die Stadt hinein und wieder hinaus. Oft übernachten sie in neuen, bewachten Hotels in der Nähe des Kennedy-Kreisverkehrs. Im New York Restaurant des Radisson Blu Hotels versammeln sich militärische Auftragnehmer und Diplomaten am Pool und schlürfen fluoreszierende Cocktails. Eines Abends erhaschte ich einen Blick auf Linda Thomas-Greenfield, die amerikanische Botschafterin bei den Vereinten Nationen, als ein Konvoi sie von dem plüschigen Hotel zu einer Veranstaltung des UN-Sicherheitsrats brachte. Der damalige Kommandeur des AFRICOM, General Stephen Townsend, war ebenfalls in der Stadt und traf sich mit den Franzosen. Im Garten eines italienischen Bistros, das einer Wüstenbehausung nachempfunden war, hörte ich, wie ein Mann seinem Begleiter, der für die UNO arbeitete, erzählte, er gehöre zu den deutschen Spezialkräften, die hier 'nachrichtendienstliche Erkenntnisse' sammelten und 'etwas Beratung' leisteten."

New Yorker (USA), 28.11.2022

Der Thwaite-Gletscher in der westlichen Antarktis wird gern als Doomsday-Gletscher tituliert, weil sein mögliches Abrutschen den Meeresspiegel über einen Meter ansteigen lassen könnte. Für Forscher ist der schneller als erwartet fließende Gletscher schwer zu erreichen, Expeditionen dorthin sind nur mit Eisbrechern durch die Amundsen-See und von dort mit Hubschraubern möglich. David Brown hat jede Minute ausgekostet, die er mit dem Piloten John Bishop und dem Nasa-Wissenschaftler Jamin Greenbaum verbrachte, um Messgeräte per Torpedo zu versenken: "Wir flogen am Morgen los. Es dauerte eine Stunde, bis wir das Kerosindepot erreichten, das sich zunächst als einzelner roter Punkt in einer weißen, unscheinbaren Ebene abzeichnete. Bishop landete, der Motor verstummte, und eine beeindruckende Stille machte sich breit. Wir waren vom antarktischen Nichts umgeben. 'Ist alles in Ordnung bei Dir', fragte mich Bishop. Der Flug war sehr holprig gewesen, und ich hatte Mühe gehabt, mein Frühstück zurückzuhalten. 'Mir geht's gut', sagte ich, taumelte in meinem Neoprenanzug aus dem Hubschrauber und zog die Kapuze so schnell ab, dass ich einige meiner Haare herausriss. Ich lehnte mich nach vorne und stützte meine Hände auf die Knie. 'Also nicht in Ordnung', sagte Bishop... Die Übelkeit verging, und ich sah mich um. Ein flatterndes Stück sonnenverbrannten Stoffs, das an einen Bambuspfahl gebunden war, markierte den Standort des Depots. Der düstere Mount Murray ragte im Südwesten in den Himmel. Sieben rote Kerosinfässer lagen auf der Seite, halb verschüttet. Bishop und ich brauchten fünfzehn Minuten, um eines mit unseren behandschuhten Händen auszugraben. Er brachte einen Schlauch zwischen dem Fass und dem Hubschrauber an und begann zu tanken. Dann setzten wir unseren Flug fort. Unter uns wurden die kilometerlangen Risse im Eis immer größer, als hätte ein riesiges Wesen den Boden mit seinen Krallen aufgeschlitzt. Schließlich erreichten wir das, was Glaziologen 'die Melange' nennen. Dort war das Eis zerkleinert, geometrisch geformt und von Schneematsch umgeben. Eisberge, die vom gefrorenen Ozean eingeschlossen waren, hatten sich aufgetürmt, und flache Gebilde von der Größe eines Stadions ragten aus der Landschaft heraus. Das zerkleinerte Eis rutschte ins Meer und schuf ein Chaos aus klumpigen Alabasterbergen, Tälern, Schluchten, Ausläufern und vereisten Seen. Es gab Klippen und Felsvorsprünge, Abgründe mit blau schimmerndem Innern. Es war ein Science-Fiction-Ödland, fremdartig und entsetzlich."

Außerdem: Elizabeth Kolbert hat Geschichten über den Klimawandel von A bis Z zusammengetragen. Emily Witt erzählt von der Gefahr, die der Klimawandel für die Existenz Insel Kivalina darstellt. Kathryn Schulz liest Ted Conovers "Cheap Land Colorado". Manvir Singh widmet sich den Huxleys. Und Anthony Lane sah im Kino Rian Johnsons Sequel zu "Knives Out".
Archiv: New Yorker

La regle du jeu (Frankreich), 16.11.2022

Bruno Meyerfeld, Brasilien-Korrespondent von Le Monde und Autor des Buchs "Cauchemar brésilien", analysiert im Gespräch mit Maria de França die brasilianischen Wahlen. Boslonaro ist abgewählt, sagt er, aber der Bolsonarismus nicht. Bolsonaro repräsentiere alles, was dynamisch ist im Land: Die Soja-Industrie, den Evangelikalismus und die extreme Rechte, die die sozialen Medien dominieren. Der Erstaunliche dabei ist, dass keineswegs nur Weiße in diesem mehrheitlich schwarzen und gemischten Land für ihn stimmten. Meyerfeld kennt auch eine Menge alleinstehender Mütter, die ihn wählten: "Bolsonaro liegt bei den weiblichen Wählern weit zurück, aber er ist sich dessen sehr bewusst. Die Figur des Vaters ist in Brasilien sehr abwesend; sehr viele Kinder wachsen in Familien auf, in denen nur die Mutter da ist, weil der Vater einfach weggeht und sich vor seiner Verantwortung im Haushalt drückt. Bolsonaro aber hat sich immer als sehr präsenter Familienvater dargestellt, und das hat er in die Politik integriert: Er ist zwar ein Macho, aber er ist ein echtes Familienoberhaupt. Und ich glaube, das berührt einige Frauen, die ihre Kinder allein erziehen; es gefällt ihnen, in Bolsonaro diese Figur des Familienvaters zu sehen. Natürlich ist er ein Macho, aber schließlich ist ganz Brasilien Macho-Land, was macht das also für einen Unterschied? Das schreckt nicht ab, im Gegenteil." Andere Gründe, warum nicht so wenige Schwarze Bolsonaro wählen, ist ihr Konservatismus, so Meyerfeld, und die Macht der Evangelikalen, die gerade in der schwarzen Bevölkerung stark sind.
Archiv: La regle du jeu

Deník Referendum (Tschechien), 17.11.2022

Der 17. November ist in Tschechien der staatliche Feiertag des "Kampfes für Freiheit und Demokratie" und erinnert an zwei Ereignisse zugleich: zum einen an den 17. November 1939, als die deutschen Nationalsozialisten tschechische Universitäten schlossen und unzählige tschechoslowakische Studenten und Universitätsdozenten verhafteten und hinrichten ließen, zum anderen an den 17. November 1989, als wiederum Studentenproteste die Samtene Revolution und damit den Sturz des Kommunismus einleiteten. Das Magazin Deník Referendum fragte aus diesem Anlass ehemalige Dissidentenpersönlichkeiten, ob und wie sich dieser Tag heute noch ohne Kitsch und Pathos feiern lasse. Während die Schriftstellerin Eva Kantůrková (*1930) in dem Gedenktag ein historisches Datum wie viele andere sieht und an dem Geist einer "November"-Tradition eher zweifelt, sieht der Publizist Petr Pospíchal (*1960) die Bedeutung des Feiertags durch den Ukraine-Krieg noch angewachsen: "Wir dürfen nicht gleichgültig sein - auch dies ist eine immer noch lebendige Lehre des Novembers 1989. Das damalige Regime endete genau deshalb, weil die Menschen ihre Gleichgültigkeit aufgaben." Der ehemalige Premier und Havel-Gefährte Petr Pithart (*1941) findet an Pathos an sich nichts Schlechtes, nur lasse sich das nicht verordnen, sondern müsse von allein entstehen. Die Geschichten der Menschen, die unter eigenen Opfern etwas bewegt hätten, müssten immer wieder neu erzählt werden. "Haben wir keine Scheu vor dem Wort Opfer. Das ist nichts Religiöses, wenngleich manchmal auch. Ohne Opfer gibt es keine wahrhaftigen Geschichten. Und im Stillen dürfen wir uns davon auch etwas ergreifen lassen." Der Philosoph Pavel Floss (*1940) mahnt, nicht zu vergessen, dass die ursprünglichen Ideale der Revolution sich nur teilweise realisiert haben. "Heute genügt es nicht, dass die Demokratie freiheitlich ist, sie muss vor allem eine soziale Demokratie sein, die allen Teilhabe ermöglicht." Die Publizistin Hana Holcnerová (*1960) setzt ihre Hoffnungen in die junge Generation und lobt ausdrücklich die Studenten, die soeben aus Protest gegen die verfehlte Klimapolitik die Universität in Schlafsäcken besetzt haben.

Tablet (USA), 21.11.2022

Auch in den USA richten sich die Minderheiten nicht nach den Trugbildern, die der Antirassismus von ihnen zeichnet. Jener "Regenbogen", in dem sich angeblich die nicht weißen Minderheiten gegen die "White Supremacy" zusammenschließen, existiert mit wachsender Dynamik dieser Minderheiten immer weniger, schreibt Joel Kotkin. "Die sich wandelnden politischen Einstellungen der asiatischen und lateinamerikanischen Communities zeigen, dass, nun ja, die Vielfalt in Amerikas Diversity zunimmt. Laut Umfragen des Pew-Instituts wird der Anteil der Latinos an der amerikanischen Bevölkerung bis 2050 auf 29 Prozent steigen und damit mehr als doppelt so hoch sein wie der Anteil der Schwarzen. Der Anteil der Asiaten wird von fast 12 Millionen im Jahr 2000 bis Mitte des Jahrhunderts auf mehr als das Dreifache ansteigen. Zusammengenommen werden Latinos und Asiaten 40 Prozent der Amerikaner und die große Mehrheit der Nichtweißen ausmachen, und während die schwarzen Wähler von beiden Parteien automatisch als Demokraten betrachtet werden, sind die Stimmen der Latinos und Asiaten umkämpft. In Gegenden wie Texas und Florida, wo Einwanderer einen höheren Anteil an Hausbesitzern und Unternehmern haben, neigen Latinos und Asiaten dazu, ihre Stimmen gleichmäßiger zwischen den Parteien aufzuteilen."

Ebenfalls im Tabletmag erinnert Mitchell Abido an die Revue blanche, eine französische Literaturzeitschrift um 1900, wo André Gide, Paul Valéry, Charles Péguy und viele andere publizierten, und die von den Brüdern Natanson aus Warschau gegründet worden war. Die Zeitschrift wurde nach einigem Zögern auch zu einem der Hauptorgane der Dreyfus-Verteidiger.
Archiv: Tablet
Stichwörter: Antirassismus, Florida, Diversity

Elet es Irodalom (Ungarn), 18.11.2022

Der Jurist und Publizist Gábor Gadó glaubt keine Sekunde, dass die jüngst auf Druck der EU in Ungarn verabschiedeten Gesetze zur Bekämpfung der systematischen Korruption in Ungarn etwas bringen werden: "Die Frage ist nicht, ob die Orbán-Administration ihre Versprechen einhält, sondern ob diese Regeln überhaupt geeignet sind, die autoritären Züge des Systems zu schwächen. Auch die Hoffnung der Opposition ist fehlgeleitet, dass wenn die Behörde zur Bekämpfung von Korruption massenweise Untersuchungen startet, wir dann Zeugen eines progressiven Reformprozesses sein würden. Diese professionellen Optimisten irren, sie hissen - nach Karl Jaspers - die Fahne der Hoffnung auf Gräbern. An den Gesetzen ist nicht nur problematisch, dass man ihre Verlogenheit schon von weitem riechen kann. Das Hauptproblem ist, dass sie selbst bei vollständiger Implementierung nicht geeignet sind, die Korruption zurückzudrängen und den ethischen Normen des Rechtsstaates zur Geltung zu verhelfen."
Stichwörter: Ungarn

Wired (USA), 17.11.2022

Träumen Künstliche Intelligenzen von elektrischen Schafen? Das könnte man in Anlehnung an einen Science-Fiction-Klassiker von Philip K. Dick fragen, liest man, was Kevin Kelly über den Fortschritt schreibt, den Künstliche Intelligenzen im Bereich Bildgeneration in den letzten Monaten gemacht haben (für viele Beispiele und anregende Texte zu den Implikationen, die damit einhergehen, empfiehlt sich ein Blick ins Archiv von René Walters "Good Internet"-Newsletter). Tools wie etwa Dall-E, Stable Diffusion, Midjourney und Artbreeder gestatten es, auf Grundlage einer Analyse von mehreren Milliarden von Bildern, die das Internet heute problemlos zur Verfügung stellt, teils herrlich skurrile, teils umwerfende Bilder zu produzieren - ganz einfach, indem man den entsprechenden Wunsch in einen Textschlitz schreibt: Je präziser die Angaben, desto atemberaubender das Ergebnis - je diffuser und knapper, umso surrealer. Schon schlagen Künstler Alarm, weil ihre Arbeiten ausgeschlachtet würden, um typische Stile zu simulieren. Kelly hingegen schlägt vor, K.I.-Bilder zu einer eigenen Kunstform zu erklären: "Es ist nicht ungewöhnlich, für ein herausstechendes Bild 50 Arbeitsschritte zu veranschlagen. Hinter dieser neuen Art von Zauberkunst steckt die Kunstfertigkeit der Texteingabe. Jeder Künstler oder Designer entwickelt beim Raffinement seiner Texteingabe eine ganz spezielle Art, um die K.I. dazu zu verführen, ihr Bestes hervorzubringen. Nennen wir diese neuen Künstler K.I.-Flüsterer oder Texteingabekünstler oder einfach Souffleure. Die Souffleure arbeiten fast wie Regisseure, indem sie die Arbeit ihrer fremdartigen Kollaborateure in Richtung einer vereinheitlichen Vision leiten. Der vielschichtige Prozess, den es braucht, um einer K.I. ein erstklassiges Bild zu entlocken, entwickelt sich gerade rasch zu einer künstlerischen Fertigkeit. Überdurchschnittliche Texteingaben umfassen nicht nur das Subjekt, sondern beschreiben auch die Ausleuchtung, die Perspektive, die evozierte Stimmung, die Farbpalette, den Grad an Abstraktion und vielleicht noch ein Referenzbild zur Imitation." Aber "nicht jeder Souffleur verspürt auch den Drang, seine Geheimnisse preiszugeben." Mario Klingemann etwa "ist berühmt dafür, seine Eingaben nicht zu teilen. 'Ich glaube, alle Bilder existieren bereits', sagt er. 'Man erstellt sie nicht, man findet sie. Wenn clevere Texteingaben dich zu einem bestimmten Ort führen, dann verstehe ich nicht, warum ich die ganze Welt dorthin einladen sollte.'"

Ein paar Beispiele gefällig? Der Spieledesigner Jason Allen hat kürzlich auf einer Messe den Preis als bester Nachwuchskünstler gewonnen - mit einem ziemlich Aufsehen erregenden Bild, das er mit Midjourney erstellt hat. Ein Garant für wochenlange Albträume ist diese tolle Galerie mit Hippies, deren okkulte Drogenexperimente irgendwann ganz schreckliche Auswüchse angenommen haben. Und die VFX-Jungs von Corridow Crew überlegen gerade, wie sie K.I. nutzen können - dazu ein vergnügliches Video:

Archiv: Wired