Magazinrundschau

Er war gefährlich unabhängig

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
23.05.2023. Die London Review beobachtet ein Erstarken des nationalen Konservatismus auch in Britannien. Persuasion fürchtet sich vor Populisten wie El Salvadors Nayib Bukele oder Singapurs Lee Kuan Yew, die ihr Volk einen, nicht spalten, und dabei auch noch für Wohlstand sorgen. In Pritomnost stellt der tschechische Regisseur Petr Nikolaev den jüdischen Reformkommunisten František Kriegel vor, über den er ein Biopic gedreht hat. Im Filmdienst ärgert sich Lars Henrik Gass über eine staatliche "Filmbildung", die jede Lust aufs Anderssein untergräbt. Die LA Review of Books fragt sich mit Martin Puchners Buch "Culture", wie Kultur und Akademia so schockierend ich-zentriert werden konnten. Nicht die Künstler sind langweilig geworden, sondern wir, ihr Publikum, meint Tablet.

London Review of Books (UK), 01.06.2023

Viktor Orban ist zum großen Vorbild einer neuen rechten Politik geworden, die einen nationalen Konservatismus stark macht, gegen das Establishment und woken Wahnsinn wettert und den "Kulturmarxismus" verantwortlich macht für Einwanderung und Geburtenrückgang. In den USA feiern die Nationalkonservativen große Erfolge mit ihren von der Heritage Foundation und Peter Thiel gesponsorten NatCon-Versammlungen. Dass sie jetzt auch in Britannien landen, wundert Peter Geoghegan eigentlich: "Im vergangenen Juni verfasste ein Kader führender Nationalkonservativer ein Manifest. Es kann als Absage an die Fusion verstanden werden, die in den 1950er Jahren in der National Review unter William Buckley entwickelt wurde und die schließlich dazu führte, dass Ronald Reagan und Margaret Thatcher an die Macht kamen, indem sie neoliberalen Kapitalismus mit einem gesellschaftlichen Konservatismus verbanden. In den zehn Grundsätzen der Nationalkonservativen heißt es, dass 'der freie Markt nicht absolut sein kann' und dass die Bibel 'als die erste Quelle einer gemeinsamen westlichen Zivilisation gelesen werden sollte'. Die Migration muss stark eingeschränkt und 'manchmal' ganz verboten werden. Imperialismus sollte 'in seinen verschiedenen zeitgenössischen Formen' abgelehnt werden (der historische Imperialismus wird freigesprochen). Zu den Unterzeichnern gehörten der Tech-Milliardär Peter Thiel, Michael Anton, ein Machiavelli-Gelehrter, der im Kommunikationsstab von Trumps Nationalem Sicherheitsrat arbeitete, und Charlie Kirk, ein Star des konservativen Talkradios und Gründer der trumpistischen Studentenbewegung Turning Point. Am Vorabend der NatCon London sagte mir ein englischer konservativer Kommentator, dass das Weltbild der Nationalkonservativen 'viel zu amerikanisch' sei, um im Vereinigten Königreich Fuß zu fassen." Ein Irrtum: "Beim letzten Mal, als der Zirkus 2019 in die Stadt kam, war der Hinterbänkler Daniel Kawczynski der einzige konservative Abgeordnete auf der Liste. Diesmal gab es Kabinettsminister, Fernsehkameras und drei Tage Medienaufmerksamkeit."

Substack - Yascha Mounk (USA), 22.05.2023

Nicht Misserfolg macht Populisten groß, sondern Erfolg, meint der venezolanische Journalist Francisco Toro im Substack-Newsletter "Persuasion". Und der erfolgreichste Populist ist einer, der sein Land nicht spaltet, sondern eint. Singapurs Lee Kuan Yew hat das Textbuch für diese Rolle geschrieben: Er ist autoritär, aber gleichzeitig "so erfolgreich beim Aufbau einer stabilen, wohlhabenden Gesellschaft, dass seine alles andere als makellose Menschenrechtsbilanz aus der Geschichtsschreibung herausgespült wurde und heute eher eine Fußnote auf Seite 4 als eine Schlagzeile ist." Ob El Salvadors junger Präsident Nayib Bukele so erfolgreich sein kann? Seine Zustimmungsrate im Land liegt bei über 90 Prozent, so Toro, seit er zehntausende Mitglieder der ultrabrutalen Gangs, die das Land terrorisiert haben, eingesperrt hat. Nach Menschenrechten und Demokratie mögen die Salvadorianer da nicht mehr fragen: "Normale Menschen, die jahrelang in Angst vor den Maras gelebt hatten, freuten sich über die Abrechnung. Plötzlich verlagerte sich das Leben nach draußen. Nachbarschaftsparks und Fußballplätze, die jahrzehntelang brach gelegen hatten, waren plötzlich von Kindern aus der Nachbarschaft bevölkert. Die Salvadorianer fühlten sich auf ihren Straßen und in ihren Gemeinden so frei, wie es schon lange nicht mehr möglich gewesen war. Wie könnte sich ein Demokrat nicht unwohl fühlen, wenn er eine Politik tadelt, die im Grunde jeder im Land unterstützt? ... In einem Land nach dem anderen wird der Bukelismo zur Alternative für demokratische Systeme, die als zu sklerotisch gelten, um reformiert zu werden. Guatemalas neuer Präsident gibt sich schon jetzt eindeutig bukelisch und schwört, den Erfolg El Salvadors gegen seine eigenen Maras zu wiederholen. Limas Bürgermeister Rafael López Aliaga plant, eine explizit bukelanische Agenda zu verabschieden. Santiago Cúneo, einer der populärsten Fernsehmoderatoren Argentiniens, kündigte gerade seine Präsidentschaftskandidatur an und versprach, 'den Schritten Nayib Bukele's in Argentinien zu folgen'." Demokraten müssten sich gewaltig anstrengen, um die Menschen davon zu überzeugen, dass auch eine Demokratie sie schützen kann, denkt sich Toro.

Yascha Mounk kritisiert scharf die Ausladung russischer Dissidenten vom Pen-Festival "World Voices" (Masha Gessen ist wegen dieses Vorgangs aus dem Vorstand des Pen America ausgetreten, unser Resümee). Man stelle sich vor, Thomas Mann, Bert Brecht, Albert Einstein oder Marlene Dietrich hätte in Amerika während des Zweiten Weltkriegs die Nazis nicht kritisieren dürfen, weil sie Deutsche waren. "Der moralische Rang eines Menschen wird nicht durch seine Nationalität definiert", erinnert Monk. "Zwei Dinge machen diese Episode in meinen Augen besonders bemerkenswert, denn beide zeigen, wie tief der Verfall liberaler Prinzipien und die Angst vor moralischer Verunreinigung inzwischen in den Mainstream eingedrungen sind. Das erste ist, dass eine Organisation von Schriftstellern sich nicht in der Lage sah, die Unterscheidung zwischen einer Person und der Nation, aus der sie stammt, aufrechtzuerhalten. Wer wird den Vorrang des Individuums und seines Gewissens vor dem Ruf nach zugeschriebener Identität und Kollektivschuld verteidigen, wenn eine Organisation von Schriftstellern - die die ersten sein sollten, die die Menschheit in ihrer ganzen glorreichen Komplexität anerkennen - dazu nicht in der Lage ist? Zweitens sind die Personen, die diese Entscheidung getroffen haben, wohl kaum Mitglieder der illiberalen Linken (oder, was das betrifft, der illiberalen Rechten). Suzanne Nossel, die Geschäftsführerin der Organisation, setzt sich grundsätzlich für die Redefreiheit ein. Ayad Akhtar, der Präsident des PEN und ein wunderbar nuancierter Romancier, hatte sogar den Mut, sich auf der Gala der Organisation im letzten Jahr subtil gegen linke Formen der Stempelkultur zu wehren. Ich kenne und respektiere beide, und ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, unter welchem Druck sie in den letzten Tagen gestanden haben müssen. Aber Prinzipien sind nur dann wichtig, wenn wir in der Lage sind, sie auch zu ehren, wenn es schwierig ist, ihnen gerecht zu werden".

Pritomnost (Tschechien), 23.05.2023

Mit dem Film "Muž, který stál v cestě (Der Mann, der im Weg stand)" widmet sich der tschechische Regisseur Petr Nikolaev dem jüdischen Reformkommunisten František Kriegel, der 1968 als Einziger heldenhaft seine Unterschrift unter die Moskauer Protokolle verweigerte, die das Ende des Prager Frühlings besiegeln sollten. Kriegel stammte ursprünglich aus Galizien, war, weil es an der Lemberger Universität einen Numerus clausus für Juden gab, zum Medizinstudium nach Prag gegangen und als Idealist in den Spanischen Bürgerkrieg gezogen, um verwundete Interbrigadisten zu versorgen. "Er trat mit großer Entschiedenheit auf, und es ist bekannt, dass er mit Pistole in der Hand andere Ärzte daran hinderte, von der Front zu fliehen", erzählt der Regisseur im Gespräch mit Agáta Pilátová. Sein Film, der gerade in den tschechischen Kinos anläuft, konzentriert sich allerdings auf die Ereignisse um 1968 und damit auf die komplexe Persönlichkeit Kriegels, der "ein Kommunist war, der Schwierigkeiten mit den Kommunisten hatte." So gehörte er zu den Politikern um Dubček, die einen anderen kommunistischen Weg ausprobierten, anders als dieser gab er jedoch dem Druck der sowjetischen Führung nicht nach und gehörte später auch zu den (drangsalierten) Unterzeichnern der Charta 77. "Die Sowjets hassten ihn, weil er keine Angst vor ihnen hatte. Er war gefährlich unabhängig und ließ sich nicht einschüchtern." Einen großen Anteil an seiner Unbeugsamkeit habe seine Frau Riva Krieglová gehabt, die als jüdische Widerstandskämpferin während des Naziprotektorats knapp Auschwitz überlebt hatte und ihm in seiner Verweigerung den Rücken gestärkt habe. Ein Teil der russischen Filmszenen wurde übrigens Ende 2021 in der Ukraine, ausgerechnet auch in Butscha gedreht, was dem historischen Thema nachträglich eine bedrückende Aktualität verleiht.

Hier der Trailer zum Film:

Archiv: Pritomnost

Film-Dienst (Deutschland), 17.05.2023

Wenn Lars Henrik Gass, der Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, das Wort "Filmbildung" hört, wie es die Kulturpolitik gerne im Munde führt, rechnet er mit nichts Gutem, wie er in diesem Essay darlegt. Jedenfalls nicht damit, dass Menschen sich Gedanken über Filme machen oder mit Filmen gar ins Denken geraten, wie es etwa bei den von den Fernseharchiven sehr stiefmütterlich behandelten Fernsehbeiträgen von Peter W. Jansen der Fall war. Und ganz sicher geht es der Politik auch nicht darum, jungen Menschen Rahmenbedingungen zu schaffen, um sich spielerisch und auf eigene Faust einen Reim auf die Filmgeschichte zu machen: "Seit von Filmen, die Denken erlauben, in Fernsehen wie Kino nichts übrig geblieben ist, ist von Filmbildung liturgisch die Rede. ... Schutzbefohlene müssen nun 'umfassende Medienkompetenz' erlernen und 'Kompetenzerwartungen' entsprechen, wie die Vision Kino (GmbH Netzwerk für Film- und Medienkompetenz) in der Sprache des Unmenschen anordnet." Dabei "gibt es am Kino nichts zu lernen. Man müsste im Kino vielmehr die Möglichkeit vorsehen, nichts zu lernen, die Möglichkeit, nicht mitzumarschieren. ... Progressiv am Kino war, mediengeschichtlich wie gesellschaftlich gesehen, dass Bildung nicht nötig war, um Zugang zu einer fremden, sprachlosen Welt zu erlangen, die weder durch Kultur noch Schule vertreten wurde und nicht nur jenen wenigen vorbehalten war, denen Voraussetzungen vererbt sind. Man musste im Kino nichts wissen; es war voraussetzungslos." Dies "war radikal neu am Kino. Und das haben die Bildungseliten dem Kino niemals verziehen. Die Kunst schaut heute noch aufs Kino herab, Kulturbürger rümpfen die Nase vor dem Kino, wie wenn sie an einem Obdachlosen vorbeigehen. Jetzt muss Filmbildung wie mit dem Rohrstock noch den Kleinsten Lust und Neugier auf etwas nehmen, das sich nicht verwerten lässt, auf Entdeckung und Anderssein, also auch verstörende Erfahrung und Abweichung, indem man sie Einstellungsgrößen und Begriffe sinnlos pauken lässt und so ins autoritäre Denken und die Auswertung der Filme einübt."
Archiv: Film-Dienst

The New Atlantis (USA), 01.05.2023

Es gibt keine Idee, die im Silicon Valley nicht als extremistische Religion wieder ausgespuckt wird. Man erinnert sich an das Erstaunen, mit dem man in Walter Isaacsons Biografie erfuhr, dass sich Steve Jobs, weil er irgendwelche esoterischen Theorien aufgeschnappt hatte, jahrelang nicht wusch und ausschließlich von Möhren ernährte - Apple hat er nebenbei trotzdem hingekriegt. Tara Isabella Burton lässt die ideologischen Verrücktheiten in der Zeitschrift The New Atlantis (deren "About" auch leicht dubios klingt) aufparadieren und konstatiert, dass nach extremen Rationalismen, zu denen sie den Transhumanismus und den "effective altruism" zählt, nun "Postrationalismus" angesagt ist, der sich gern aus dem Fundus deutscher Mythen bedient. "Da gibt es etwa Lehren, die man als populären Neo-Jungianismus bezeichnen könnte: Leute wie Jordan Peterson, die auf die Macht des Mythos, des Rituals und der Beziehung zum Heiligen als Mittel zur Bekämpfung der postmodernen Entfremdung verweisen - oft in heikler Allianz mit traditionalistischen Christen. (Über Petersons enge intellektuelle Beziehung zum römisch-katholischen Bischof Robert Barron könnte man ganze Artikel schreiben). Es gibt auch eine progressiv kodierte Version, die man auf TikTok finden kann, wo Hexerei und Aktivismus, Salbei-Reinigung und 'Manifestation' in einem Miasma von Vibes koexistieren. Und es gibt die offen faschistische Version, die am Rande der Neuen Rechten lauert, wo Blut-und-Boden-Nationalisten, Paleo-Bodybuilder, Julius-Evola-lesende Traditionalisten wie Steve Bannon und katholische sedisvakantistische Podcaster gemeinsame Sache machen und für die Wiederbelebung einer mystischen und maskulinistischen Vergangenheit eintreten, um so der sklerotischen modernen Welt endlich wieder Leben einzuhauchen."

HVG (Ungarn), 18.05.2023

Ungarn, das seit 2015 mit Dekreten regiert wird, entlässt nach einer Regierungsverordnung von Ende April an die 700 ausländische Staatsbürger, die wegen Menschenschmuggels verurteilt worden waren, aus der Haft - unter der Bedingung, dass sie innerhalb von 72 Stunden das Land verlassen. Sie sollen sich anschließend mit ihren Entlassungsdokumenten in ihren Heimatländern melden, um jeweils ihre restliche Strafe zu verbüßen. Durchgesetzt oder kontrolliert wird dies allerdings von keiner ungarischen Behörde, was nicht nur in den Nachbarländern für Irritationen sorgt. Blanka Iványi weist auf das Absurde der Verordnung hin: "Man kann sich förmlich vorstellen, wie ein Menschenschmuggler, eilig zurückgekehrt in die Heimat, sich mit auf ungarisch ausgestellten Dokumenten in seiner Hand bei den dortigen Behörden meldet, weil er seine restliche Strafe absitzen möchte. (…) Die Ausgewiesenen werden nicht mal von Beamten bis zur Grenze begleitet, sie werden auch nicht den Ordnungsbehörden ihrer Heimatländer - was auch immer dies beispielsweise im Falle von Afghanistan oder dem Irak bedeutet - übergeben. Es hängt gänzlich vom Betroffenen ab, wann und in welche Richtung er Ungarn verlässt. Freilich können sich nun Kriminelle, die bisher zur Stigmatisierung von Geflüchteten und Einwanderern als potentiellen Terroristen dienten, genauso leicht in andere europäische Länder absetzen."
Archiv: HVG
Stichwörter: Ungarn, Schlepper, Irak

LA Review of Books (USA), 23.05.2023

Als heilsames Korrektiv zu den gegenwärtig tobenden Kulturkämpfen liest Robert N. Watson das Plädoyer des in Harvard lehrenden Literaturwissenschaftlers Martin Puchner für Offenheit und Vielfalt der Kulturen: "Culture: The Story of Us, from Cave Art to K-pop". Wenn vielleicht auch etwas zu optimistisch zeige Puchner durch die gesamte Geschichte hindurch, dass Kultur nie etwas Abgegrenztes oder Abgrenzbares war. Damit stellt er sich sowohl gegen das linke Tabu der kulturellen Aneignung wie gegen rechte Ablehnung von Einwanderung und Multikulturalismus. Auch ein Wole Soyinka sei von vielen Einflüssen geprägt, von der antiken Oyo- und der modernen Yoruba-Kultur, vom britischen Kolonialsystem ebenso wie von Shakespeare und der griechischen Tragödie. Am Ende tröstet sich Watson nur halb damit, dass die geisteswissenschaftlichen Fakultäten in den USA nicht wirklich von maoistischen Kulturrevolutionären heimgesucht werden: "Das Ende der unhinterfragten akademischen Verehrung für die 'westliche Zivilisation' stellt keine solche Bedrohung dar; im Großen und Ganzen scheint es ein wertvolles Korrektiv zu sein. Dennoch fällt es leicht, Puchners Bestürzung über 'die Arroganz späterer Generationen' zu teilen, 'die kostbare kulturelle Artefakte und Praktiken geringschätzen, weil sie nicht mit den religiösen, sozialen, politischen oder ethischen Idealen des Augenblicks übereinstimmen'. Nathan Hellers vieldiskutierter Artikel im New Yorker über den Niedergang des Hauptfachs Englisch zitiert einen jungen, nicht-weißen Harvard-Professor, der diesen Niedergang bedauernd auf Studenten zurückführt, 'die mit dem Gefühl an die Universität kommen, dass die unaufgeklärte Vergangenheit nichts mehr zu lehren hat'. Für einen überzeugten Shakespeare-Prof wie mich ist es frustrierend, dass so viele Kollegen darauf bestehen, dass das Wichtigste, was man den Schülern über Shakespeare beibringen muss, die Tatsache ist, dass er ein Vertreter der weißen Vorherrschaft war und eine tiefe Mitschuld an allen späteren Übeln des Rassismus und der Sklaverei trägt. Ganz allgemein ist die Annahme, dass Menschen in der Vergangenheit, die nicht wie 'wir' klingen, idiotisch oder unmoralisch gewesen sein müssen, schockierend ich-zentiert. Vielleicht hat die akademische Welt ihr Ziel, die Ehrfurcht vor den alten Kulturhelden zu beschneiden, tatsächlich zu gut erreicht."

Tablet (USA), 16.05.2023

Wenn William Deresiewicz auf die aktuellen Erzeugnisse der Kultur blickt, kommt ihm das große Gähnen. Der Niedergang setzte schon in den 60ern ein, als Kultur sich zu institutionalisieren und die Kulturindustrie aufzublühen begann. Von da an wurde Kultur immer stärker genormt - das war jedenfalls die These des 2021 gestorbenen Kunstkritikers David Hickey. "Nach etwa einem Jahrhundert, in dem sich die Kunst laut Hickey der institutionellen Kontrolle entzogen hatte - einem Jahrhundert der Pariser Bohème, der modernistischen Vagabunden und visionären Spinner, von Rimbaud, van Gogh, Nijinsky, Cage, Gertrude Stein und anderen - wurde sie standardisiert und, was noch wichtiger war, moralisiert. Mit anderen Worten, auch das Publikum wurde genormt", so Deresiewicz, der anders als Hickey nicht nur der Industrie die Schuld am kulturellen Niedergang geben will. "Es geht nicht darum, dass die Konzerne den Geschmack des Volkes entwürdigt haben. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kulturindustrie ist ebenso wie die Junk-Food-Industrie sehr gut darin geworden uns unseren Geschmack zurückzuspiegeln und ihn zu befriedigen. Und mit dem Internet sind die Rückkopplungsschleifen immer effizienter geworden. Mit anderen Worten: Kunst ist heute langweilig, weil wir langweilig sind." Deresiewicz vermisst die Ambition, das Verlangen, sich weiterzubilden, das die Nachkriegsgeneration auszeichnete. "Ich sehe diese Art von Bestreben nicht mehr (sie war bereits am Ausklingen, als ich in den frühen 80er Jahren auf den Campus kam), dieses Gefühl schmerzhafter Unvollständigkeit, diesen Hunger nach einem höheren Anderen. Was ich sehe, ist Narzissmus: die Forderung, dass die Kunst uns bestätigt, uns niemals bedroht, uns niemals das Gefühl gibt, unzulänglich oder unwissend oder klein zu sein, und uns unser kostbares kleines Selbst zurückspiegelt."
Archiv: Tablet
Stichwörter: Kultur, Kulturkritik

Qantara (Deutschland), 16.05.2023

Mahir Elfiel möchte aus dem Sudan fliehen, kann aber nicht, weil sein Pass in der inzwischen geschlossenen spanischen Botschaft liegt, erzählt er in Qantara. Jetzt hängt er - wie tausend andere - in Wadi Halfa fest, einer sudanesischen Kleinstadt nahe der ägyptischen Grenze, in der Hoffnung auf ein Visum. Doch die ägyptischen Grenzbeamten wollen ihn ohne Pass nicht einreisen lassen: "Wie mir geht es vielen Sudanesen, die vor Kriegsausbruch ein Visum beantragt hatten, für Schweden, die Niederlande oder Spanien. Die europäischen Behörden übernehmen keine Verantwortung. Sie reagieren nicht auf unsere Anfragen, sie ignorieren uns. Dabei wäre es möglich gewesen, die Pässe zurückzugeben. Die Mitarbeiter der chinesischen Botschaft etwa haben die Antragsteller kontaktiert und ihnen ihre Dokumente zurückgegeben, bevor sie Khartum verlassen haben. Die spanischen Behörden sagen, dass sie nichts tun können und wir einen neuen Pass bei den sudanesischen Behörden beantragen sollen. Als ob in dem Chaos irgendjemand einen Pass ausstellen würde! Ich bin wütend und frustriert. Ich sitze in einem Kriegsgebiet fest und habe keine Möglichkeit, hier wegzukommen."

Außerdem: Frauen, Homosexuelle und Atheisten leben gefährlich im Iran. Aber auch die schiitische Geistlichkeit muss sich langsam um ihre Sicherheit sorgen, berichtet Ali Sadrzadeh.
Archiv: Qantara
Stichwörter: Sudan

Harper's Magazine (USA), 01.06.2023

Ian Penman liest RJ Smiths Biografie über Chuck Berry, "Chuck Berry - An American Life". Zugegeben, man erfährt einige Details über Berrys Sexleben, auf die man nicht unbedingt erpicht war. Aber auch Poesie spielt eine Rolle. "Wo kommen sie her, diese Lieder? Robbie Robertson hat Berry einmal genau diese Frage gestellt, und Berry antwortete, dass es absolut kein Geheimnis sei: 'Sie kamen aus der Poesie. Die Poesie schildert eine Szene oder eine Geschichte, und das ist der Ursprung meiner Texte.' Zu Hause wurden regelmäßig Gedichte rezitiert, vor allem Werke des schwarzen Mundartdichters Paul Laurence Dunbar. Dadurch, schreibt Smith, bekam Berry ein Gefühl dafür, 'was Stimmen erreichen können'. Auch Miles Davis und Chester Himes - der wie Berry in St. Louis aufgewachsen ist - bezeichneten Dunbar als eine große Präsenz in ihrer Kindheit. Davis verglich Dunbars 'Negro Southern'-Stimme mit Lead Belly und Bessie Smith. Dunbar, schreibt Smith, war ein 'Verkäufer, der seine Kunst an die Menschen brachte, indem er sprach wie sie'. Er hatte die Fähigkeit, als eine kunstvoll volkstümliche Persönlichkeit, die 'sowohl echt als auch eine Erfindung' war, zu einem schwarzen und weißen Publikum zu sprechen. All dies scheint auf unheimliche Weise entscheidende Elemente von Berrys eigenem Agieren vorauszusagen."

Hier eine Einführung in das Leben und Werk Dunbars in Text und Video:



Der ehemalige Atlantic-Redakteur Benjamin Schwarz und der Politologe Christopher Layne hantieren in der Titelgeschichte "Why Are We in Ukraine?" nur mit den ganz großen Bausteinen wie einst Herfried Münkler, bevor er lernen musste, dass die Ukraine existiert. Die Nato ist demnach immer nur dabei zu expandieren, während Russland, das sich auf seiner bescheidenen Fläche umzingelt fühlt, immer nur warnt. Und da die Nato das Hauptinstrument der amerikanischen Hegemonie ist, während die osteuropäischen Länder rätselhafter Weise aus eigenen Antrieb in sie drängten, ist am Ende Amerika schuld, wenn Putin auf den roten Knopf drückt.