Magazinrundschau

Mehr Essen, mehr Raum, mehr Sex

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
17.09.2013. Caravan beschreibt ein indisches Problem, das man auch in Europa kennt: man erfährt erst über englische Texte, was im Nachbarland geschieht. In Rue 89 vermisst der Philosoph Edgar Morin die Pariser Pissoirs. Democracy sucht einen politisch denkenden Techno-Intellektuellen und findet ihn in Tom Slee. In Elet es Irodalom analysiert Péter Nádas die Stärken und Schwächen des Demokraten. Pacific Standard beobachtet eine Genexpression (oder eher: -explosion). Intelligent Life und die New York Review of Books stellen zwei Heldinnen vor. In der NYT feiert Jonathan Lethem die paranoide Kunst des Thomas Pynchon.

Caravan (Indien), 01.09.2013

Trotz einer gemeinsamen Landesgrenze findet der kulturelle und literarische Austausch zwischen China und Indien vor allem über den Westen statt, erklärt Anjum Hasan in einem großen Bericht über seine Begegnung mit der chinesischen Literatur anhand von englischen Übersetzungen. "Chinesische Literatur bildet ein vergleichsweise neues Segment internationaler, in Indien vertriebener Belletristik. Offensichtlich folgt das wachsende westliche Interesse an ihr dem westlichen Interesse an China generell (...). Vor dem Hintergrund, dass unser Zugang dazu, wie die Leute in China denken und fühlen, von der Regierung begrenzt ist, bildet Literatur naturgemäß eine zentrale Zugangsmöglichkeit. Nachdem ich Mo Yans Novelle 'Change' gelesen habe, griff ich zu den jüngsten, übersetzt vorliegenden Werke anderer chinesischer Autoren und fand mich unausweichlich in der Position wieder, diese Romane und Kurzgeschichten als Fenster zu China zu lesen. Da mir allein im Westen veröffentlichte Bücher vorbehalten waren, deren Autoren sich des westlichen Publikums bewusst sind, war es zugleich ebenso interessant zu sehen, wie diese Autoren diese Position verhandelten - wie sie Erwartungen unterwanderten oder erfüllten, die die Leser an sie stellten."

Eine Auswahl chinesischer Literatur finden Sie hier beim Perlentaucher.
Archiv: Caravan
Stichwörter: Chinesische Literatur

Rue89 (Frankreich), 15.09.2013

Zineb Dryef unterhält sich mit dem Philosophen Edgar Morin, der in dem Buch "Mon Paris, ma mémoire", das im Winter erscheinen wird, eine ganz persönliche Stadtgeschichte schreibt. In einer Passage des Gesprächs spricht er über die unzähligen Pariser Pissoirs, die es nach dem Krieg noch in der ganzen Stadt gegeben habe. "Für uns Jugendliche war das sehr praktisch. Wir haben gern eines ganz in der Nähe gehabt. Heutzutage muss man ja, um in Ruhe pinkeln zu können, in einem Bistro etwas konsumieren. Es war auch ein wichtiger Ort für Homosexuelle. Es gab da das berühmte Pissoir am Boulevard Raspail, nicht weit vom Verlag Gallimard. Dort ging es ziemlich schwul zu, wie man nicht nur damals sagte, und sehr literarisch. Als Jugendlicher wurde ich dort manchmal befummelt ... Das fand ich gar nicht gut."
Archiv: Rue89
Stichwörter: Gallimard, Mons, Rue89, Stadtgeschichte

New Yorker (USA), 23.09.2013

Lizzie Widdicombe porträtiert Bryan Goldberg, den ehemaligen Betreiber der enorm erfolgreichen Sportwebsite Bleacher Report, der noch einmal Großes vorhat: seine neu gegründete Website Bustle.com soll die nächste große, wenn nicht ultimative Publikation für Frauen. "Zum größten Teil soll das Themenspektrum Bustles von den Autorinnen bestimmt werden: Statt eine erfahrene Belegschaft einzustellen, wie es ein Hochglanzmagazin täte, will Goldberg Autorinnen aus der Gruppe junger Frauen einsetzen, die Bustles angestrebte Leserschaft ist: die Achtzehn- bis Dreiundvierzigjährigen. Er hofft, dass er mit der schrittweisen Einstellung Hunderter dieser Autorinnen, die 'Inhalte erzeugen sollen, die sie interessieren', die Website zu einem 'präzisen Abbild' dieser Bevölkerungsgruppe wird. Goldbergs Vision - mit ihrem Triumph mathematischer Gewissheiten über redaktionelle Kunst - erinnert mich an das Theorem der endlos tippenden Affen, wonach Affen, die unendlich lange willkürlich auf einer Schreibmaschine rumtippen, irgendwann den gesammelten Shakespeare zustande bringen. Wenn man also eine hinreichend große und buntgemischte Gruppe junger Frauen zusammenstellt, werden sie irgendwann eine Website produzieren, die bei jungen Frauen ankommt."

Weitere Artikel: Sasha Frere-Jones stellt den Sänger und Musiker Archy Marshall alias King Krule vor, einen überzeugten Romantiker und "womöglich das, was einer jungen britischen Ausgabe von Tom Waits am nächsten kommt". David Denby sah im Kino den Thriller "Prisoners" von Denis Villeneuve mit Hugh Jackman und Jake Gyllenhaal und den Dokumentarfilm "Salinger" von Shane Salerno über den "Der Fänger im Roggen"-Autor J. D. Salinger. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Bad Dreams" von Tessa Hadley.
Archiv: New Yorker

Democracy (USA), 16.09.2013

Der Politologe Henry Farrell begutachtet die neuen Techno-Intellektuellen von Clay Shirky über Jeff Jarvis bis zu Evgeny Morozov (für den er eine besonders große Portion Vitriol bereit hält) und ist insgesamt nicht zufrieden mit ihrer Arbeit, die viel zu unpolitisch sei: "Vieles wird überhaupt nicht diskutiert. Der Arbeitskonsens unter Techno-Intellektuellen beschreibt eine Welt der Möglichkeiten, die in starkem Gegensatz steht zur amerikanischen Realität der raketenhaft ansteigenden politischen und wirtschaftlichen Ungleichheit." Als Beispiel nennt er die Metapher vom Long Tail, die er "missverständlich" findet. "Sicher, es ist heute einfacher als früher, obskure Bücher oder Bands zu finden. Aber die meisten Leute wollen gar keine obskuren Dinge finden - sie lenken ihre Aufmerksamkeit auf das, was alle anderen interessant finden. Die, die bereits reich an Aufmerksamkeit sind, werden immer reicher, während das 'lange Ende' sich immer noch in Dunkelheit und Obskurität verliert."
Archiv: Democracy

New Inquiry (USA), 12.06.2013

Einer der wenigen Techno-Intellektuellen, die Henry Farrell wirklich interessant findet, ist der hierzulande kaum bekannte Chemiker und Software-Ingenieur Tom Slee. Im New Inquiry hat er vor zwei Monaten einen Text veröffentlicht, der Geschäftsmodelle wie das im New Yorker beschriebene Bustle.com auseinander nimmt. Es geht um "open commens", um Webseiten, auf denen die User selbst den Inhalt zusammentragen, wie die Buchkritiken bei Goodreads (jetzt Amazon), die Filmkritiken bei IMDB (jetzt ebenfalls Amazon) oder die Reiseseite Couchsurfing. Letztere ist eine Seite, auf der junge Reisende sich austauschen und gegenseitig Unterkunft anbieten. Sogar der Code wurde von den Usern erstellt. Doch als der Eigentümer 7,6 Millionen Dollar Risikokapital aufnahm, fühlten sich die User entfremdet, die Community schrumpfte. "Vergleichen Sie Couchsurfing mit Hostelling International, einem ehrwürdigen Netzwerk aus internationalen Jugendhostelorganisationen, das immer gemeinnützig geblieben ist. Über 100 Jahre alt und immer noch stark, 'stellt es inzwischen 35 Millionen Übernachtungen in über 4.000 Hostels in über 800 Ländern bereit'. Einige Menschen ernähren sich durch die Arbeit für die Hostels, aber das ist Lichtjahre entfernt von einer Injektion von Millionen von Dollar Risikokapital."
Archiv: New Inquiry
Stichwörter: Amazon, Techno

Elet es Irodalom (Ungarn), 13.09.2013

Péter Nádas beschreibt in einem umfangreichen Essay in 12 Punkten die Stärken und Schwächen des Demokraten: "Seine Gutgläubigkeit und sein Vertrauen in die Vernunft gibt der Demokrat auch in einer noch so verzweifelten Situation nicht auf. Aus diesem Grunde nimmt er jedoch auch Entwicklungen immer zu spät zur Kenntnis, die er schon frühzeitig hätte ansprechen müssen. Wenn die öffentlichen Räume von populistischen Redner und fundamentalistische Ideologen beherrscht werden. Oder ihm schweigende Oligarchen mit Massen von Sklaven bereits an den Hals gehen. Das geliebte Volk, welches die Demokratie wollte, will jetzt diejenigen, die mit starker Hand für Ordnung sorgen im Freudenhaus. Sie werden schon diese schlampigen, trägen und gebrechlichen Nutten von Demokraten maßregeln. Wenn die Mehrheit dies jetzt so will, das Volk seinen eigenen Tyrannen wünscht, dann kann der Demokrat diese großartige Willenserklärung nicht missachten."

The Nation (USA), 17.09.2013

Auch wenn es Akiva Gottlieb mitunter ziemlich auf die Nerven ging, dass sich Steven Soderbergh für schlauer als die gesamte Kinowelt hielt, weiß er ihn doch als den schrägsten Typen zu schätzen, dem Hollywood jemals die kreative Kontrolle über Multimillionen-Dollar-Projekte gewährte. Und natürlich wird Soderbergh nicht mit dem Film aufhören, höchstens mit dem Hollywoodkino, das Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit dem Marketing geopfert habe: "Als Filmemacher ist er sich der Anforderungen des Marktes bewusst, und er hat so verzweifelt versucht, sich selbst darin nicht zu verfangen, dass er sich selbst aus dem Job avantgardisiert hat. Der Regisseur, dessen unangreifbare Karriere einen Ausweg aus der Dialektik von Film als Kunst und Kino als Unterhaltung andeutete, glaubt inzwischen, dass seine eigene Unangreifbarkeit das Problem sei: Wie er einem Interviewer sagte: 'Ich weiß nur, dass alles davon abhängt, ob es mir gelingt, wieder ein Amateur zu werden.'"
Archiv: The Nation

Pacific Standard (USA), 03.09.2013

Unser Verhalten wird weder von den Genen noch von der Umwelt bestimmt, sondern von der sogenannten Genexpression, dem Verhalten der Gene, das wiederum maßgeblich von äußeren Faktoren abhängt. Wie stark die Genexpression durch die Umwelt beeinflusst werden kann, hat der Genetiker Russell Fernand jetzt in einem bemerkenswerten Experiment mit afrikanischen Barschen der Art Astatotilapia burtoni bewiesen, berichtet David Dobbs: "Bereits 2005 hatte er gezeigt, dass es in jeder Burtoni-Population eine Art Pharao gab, ein Männchen, das viel mehr Essen, mehr Raum, mehr Sex hatte als selbst das zweithöchste Männchen. Diese Nummer eins wies auch einen erheblich größeren und bunteren Körper auf. Eines Tages schaltete Fernald das Licht über seinem Aquarium aus, fischte den großen glitzernden Pharao heraus und schaltete das Licht zwölf Stunden später wieder an. Als Barsch Nummer zwei sah, dass die Nummer eins nicht mehr da war, reagierte er schnell. Seine Genexpression nahm drastisch zu, er peppte seinen zinnfarbenen Körper mit grellen roten und blauen Streifen auf und wuchs in wenigen Stunden um 20 Prozent. Es war, wie wenn Jason Schwartzman [links] eines Tages ins Büro kommt, feststellt, dass sein größter und kräftigster Kollege gekündigt hat, und sich bis Feierabend in Arnold Schwarzenegger [rechts] verwandelt."

ars technica (USA), 02.09.2013

Aus Anlass des zehnjähriges Jubiläums von Skype erzählt Toivo Tänavsuu die Geschichte des Internet-Videotelefondienstes, der von einem Schweden, einem Dänen und vier Esten in Tallinn erfunden wurde: "Der Name des Projekts stammt aus den Worten 'sky' und 'peer'. Nach dem Beispiel von Napster und anderen, sollte er zu 'Skyper' abgekürzt werden. Da jedoch die Domain skyper.com bereits vergeben war, schnitt man das 'r' ab und nannte sich 'Skype'. Mit einem Computer zu sprechen, kam einem damals noch albern vor - so wie es in der Anfangszeit der Handys albern war, sich mit seiner Hand zu unterhalten. Die erste Resonanz war nicht sehr ermutigend, weil es etwa in der Klangqualität grobe Störungen gab. Aber als den Testern bewusst wurde, dass sie nun über den Computer mit Menschen am anderen Ende der Welt sprechen konnten - und zwar kostenlos -, änderte sich ihre Einstellung." Nur am Rande erwähnt wird, dass Microsoft, das 2011 Skype gekauft hat, der NSA direkten Zugriff auf alle über Skype geführten Telefongespräche gibt.
Archiv: ars technica
Stichwörter: Sky, Microsoft, Resonanz

Eurozine (Österreich), 09.09.2013

Zwischen Populismus und Partizipation changieren die Pole der Demokratie in Zeiten des Internets, das neue Verfahren ermöglicht, schreibt Nadia Urbinati in einem etwas trockenen, aber instruktiven Artikel für Esprit (auf Deutsch bei Eurozine). Eine ihrer Erkenntnisse: "Die Internet-Demokratie lässt den Mythos der direkten Selbstverwaltung (das alte demokratische Versprechen autonomer Selbstbestimmung) in veränderter Form wiederaufleben, birgt jedoch die Gefahr identitätspolitischer, demagogischer oder populistischer Aktionen, eines politischen Handelns also, das ausschließt und diskriminiert, und damit, wie in Ungarn auch, die Voraussetzungen für eine regelrechte Tyrannei der Mehrheit schafft."

Während sich der Kunsthistoriker Hubertus Kohle im Perlentaucher dezidiert für Internet und Open Access in den Geisteswissenschaften einsetzt, profiliert sich der Mittelalter-Historiker Valentin Groebner zusehends als die Stimme des Kulturkonservatismus in diesem Feld. In einem Artikel für den Mittelweg, online in Eurozine, diagnostiziert er einen "theologischen Ton" bei den Befürwortern des Internet und rät dringend, an den überkommenen Formen des wissenschaftlichen Publizierens festzuhalten: "Das Netz ist wunderbar für Unfertiges und Provisorisches; für erste Entwürfe und für das rasche Hin-und Her zwischen kritischer Stellungnahme und Replik. Aber mit der Stabilisierung und positiven Validierung der dort produzierten Information -also mit verbindlich festgelegten Resultaten - hapert es. Und zwar, soweit es sich nach zwanzig Jahren World Wide Web beurteilen lässt, wohl dauerhaft."

Außerdem sucht der Soziologe Paolo Gerbaudo in einem Artikel für Soundings, auf Englisch bei Eurozine, nach den Quellen des Coups in Ägypten.
Archiv: Eurozine

Economist (UK), 14.09.2013

Der Economist denkt über Edward Snowdens Versicherung nach, dass minutiös korrekt implementierte und gehandhabte Verschlüsselung der Internetkommunikation vor NSA-Schnüffeleien schützt: "Die Annahme, Geheimdienste, deren Job sich dadurch auszeichnet, Nachrichten abzufangen und zu entschlüsseln, würden irgend etwas unversucht lassen, um sicherzustellen, dass sie soviel verschlüsselten Traffic wie möglich lesen können, ist naiv. ... Doch die letzten Aufdeckungen sind aus drei Gründen Besorgnis erregend. Erstens könnten die Aktionen der NSA die Internetsicherheit, auf die sich Milliarden Menschen für Online-Banking verlassen, mit ihren Hintertüren, die nicht nur von Geheimdiensten, sondern auch von Kriminellen genutzt werden könnten, insgesamt geschwächt haben. Zweitens untergräbt dies das Vertrauen in amerikanische Technologiefirmen. Man kann ihnen nicht mehr trauen, wenn sie behaupten, ihre Produkte seien sicher, was es Amerika schwer macht, die Netzpolitik autoritärer Regime zu kritisieren (...). Drittens scheint es so, als hätte die NSA still und heimlich durchgesetzt, was ihr öffentlich nicht gelang. In den 90ern scheiterte ihre Lobbyarbeit, in alle Kommunikationssysteme Hintertüren einbauen zu lassen." [Vor knapp zwanzig Jahren war Präsident Bill Clinton, der die Hintertüren unterstützte, an einer breiten Gegenkoalition gescheitert, zu der u.a. der Republikaner John Ashcroft, der Demokrat und jetzige Außenminister John Kerry, der Fernsehevangelist Pat Robertson, Silicon-Valley-Manager und die American Civil Liberties Union gehörten, so die NYT.]

Mehr dazu auch an dieser Stelle: Wenn es stimmt, dass der NSA weite Teile der verschlüsselten Kommunikation offen liegen, dann handelt es sich wahrlich um "Big News. ... Obwohl Cyberverbrechen eine wachsende Bedrohung darstellen, ist verlässliche Verschlüsselung immer noch die Basis des Billionen schweren elektronischen Handels: Ohne könnte niemand sicher eine Online-Überweisung tätigen. Kritiker sind der Ansicht, dass die Sabotage dieser Codes in etwa dem entspricht, als würde die Regierung im Geheimen die Hersteller von Schlössern damit beauftragen, ihr Produkt leichter knackbar zu machen - und dies inmitten einer Welle von Einbrüchen."

Und aller Kritik der letzten Jahre zum Trotz, ist sich der Economist kurz vor der deutschen Bundestagswahl sicher: Angela Merkel wird's schon richten!
Archiv: Economist

Intelligent Life (UK), 01.09.2013

Der indische Romanautor Rahul Bhattacharya erzählt die Geschichte Humaira Bachals, die eigenhändig dafür sorgt, dass immer mehr Kinder in Pakistan zur Schule gehen können. "Sie wurde an einem Freitag geboren, 'schwarz und dünn wie eine Ratte', sagt sie." Sie wuchs in einem Slum bei Karachi auf. Anders als andere Mädchen durfte sie zur Schule gehen. Mit 13 Jahren gründete sie ihre erste eigene Schule, in der sie Nachbarskinder unterrichtete. Daraus wurde eine ganze Bewegung: "Von halb acht Uhr Morgens bis acht Uhr Abends versorgen 25 Lehrer an der Dream Model Street School 1.200 Schüler über fünf Schichten. Jungen und Mädchen lernen gemeinsam an der Schule, die Schulbücher sind kostenlos, es gibt keine Uniform. Wer zahlen kann, zahlt 30 Rupien Schulgebühr pro Monat (das entspricht 30 Eurocent). Die Schule beginnt im Vorschulalter und endet in der achten Klasse. ... Abends gibt es Klassen für Kinderarbeiter. Nachmittags wird eine zweistündige Madrass-Klasse unterrichtet, aus taktischen wie aus erzieherischen Gründen."

Sharmeen Obaid Chinoy hat einen kleinen Film über Humaira Bachal gedreht:

New York Review of Books (USA), 26.09.2013

Helene Epstein stellt eine echte amerikanische Heldin vor: Die 1873 geborene Dr. Sara Josephine Baker, die mit ihren pragmatischen Gesundheits- und Hygienemaßnahmen das Leben von mehr als 90.000 armen Kindern in New York rettete. Um diese Maßnahmen durchzusetzen, musste Baker sich gegen ignorante konservative Politiker und Ärzte durchsetzen, deren Verbohrtheit stark an den Widerstand heutiger Republikaner gegen Gesundheitsvorsorge für Frauen erinnert. Aber Baker, die ihr Handwerk mehrere Jahre im bettelarmen Hell's Kitchen ausübte, war eine toughe Frau: "Arzt zu sein, erforderte in jenen Tagen einen gewissen Mut. Als sie noch in Boston praktizierte, tötete Baker fast einen Betrunkenen, der seine Frau schlug, während sie ein Kind gebar. Als Gesundheitsinspektor in New York City verpasste sie in Asylen dösenden Obdachlosen Pockenimpfungen, sie lehnte Anfragen von Tammany-Politikern ab, ihre abgelegten Geliebten als Krankenschwestern anzuheuern und sie jagte die notorische Köchin Typhus-Mary durch die Straßen von Manhattan. Baker musste den ganzen Weg zum Krankenhaus auf Mary sitzen bleiben, damit diese nicht aus dem Krankenwagen sprang." Baker hat 1939 eine Autobiografie geschrieben, "Fighting for Live", die Epstein wärmstens empfiehlt.

Vice (USA), 10.09.2013

Deer Trail, eine Kleinstadt in Colorado, wird im Oktober vermutlich eine Verfügung erlassen, wonach das Abschießen von Überwachungsdrohnen erlaubt ist. Matthew Francey hat sich mit Philip Steel unterhalten, der ihm erklärt, warum er den Entwurf der Verfügung zur Abstimmung eingebracht hat: "Nun, im September 2015 wird die Federal Aviation Administration (Bundesluftfahrtbehörde) eine neue Richtlinie erlassen, um den sogenannten 'navigable airspace' bis zum Boden hinunter auszuweiten. Das ist ein großes Problem. Es bedeutet vor allem, dass die Bundesregierung die Zuständigkeit für alles erhält, was sich durch diesen Luftraum bewegt." Das betreffe nicht nur Flugzeuge, sondern sogar einen Baseball, der durch die Luft fliegt. "Wenn es Drohnen gibt, schießen wir sie runter. Hier geht es nicht um die großen 25 Millionen Dollar teuren Predator-Drohnen - die fliegen eh über 1000 Fuß hoch. Es geht um die kleinen, mit der Größe eines Vogels. Sie fliegen dicht über der Erde. Ihr Zweck ist Überwachung. Sie sind mit Thermaltechnologie ausgestattet und können praktisch durch Wände sehen."

Außerdem: ein Interview mit der Schriftstellerin Marilynne Robinson über das Schreiben und das Unterrichten von Schreiben.
Archiv: Vice

HVG (Ungarn), 04.09.2013

Der Kultur- und Medienwissenschaftler Péter György, der gerade sein neues Buch "Álltkert Kolozsváron - képzelt Erdély" (Zoo in Klausenburg - Imaginiertes Siebenbürgen, Magvető Kiadó, Budapest 2013) veröffentlicht hat, erklärt Éva Marton im Interview, warum der Trianon-Vertrag von 1920 in Ungarn seit 1989 immer größere Bedeutung gewinnt und wie ungesund das seiner Ansicht nach ist: "In den letzten drei Jahren wurde Trianon zur Staatsreligion. Lange dachte ich, dass Siebenbürgen kein politisches Thema sei. Es wäre auch keins, wenn die politische Doktrin des liberalen Ungarns erfolgreich gewesen wäre. (...) Die Auslandsungarn leben in einer viel zeitgemäßeren Kulturkonstruktion, in der Kultur der Mehrsprachigkeit. Das zwingt sie zur ständigen Selbst-Reflexion. Wenn wir nur dies von ihnen lernen könnten, wäre unsere Kultur außerordentlich bereichert. (...) Die Zukunft baut sich auf Migration, auf eine multilinguale, multireligiöse Welt. Das ist eine schwere Herausforderung für die Geschlossenheit, in der die Ungarn heimisch sind, mit ihrer allein gelassenen Kultur."
Archiv: HVG

Foreign Policy (USA), 31.10.2013

Heroin ist out. Taimur Khan ist in die pakistanische Megacity Karatschi gefahren, wo gerade in großem Stil der neueste Trend im Drogengeschäft gekocht wird: Methamphetamin, auch Crystal genannt. Das Geschäft ist hoch spezialisiert und globalisiert: Pakistanische Händler und Politiker, iranische Drogenköche, Verteilungsstationen in Mexiko, Malaysien und Australien. Einige macht es reich, viele tötet es, auch in Pakistan, berichtet Khan: "Der Drogengebrauch, vor allem Opiate und Cannabis, ist bereits hoch in Pakistan. Etwa ein Prozent der Bevölkerung nimmt Heroin und 4,1 Millionen Menschen gelten laut UNODC als drogenabhängig. Ein Report von 2013 der UNODC und der pakistanischen Regierung stellt jedoch einen 'nachweisbaren Anstieg von Methamphetamingebrauch in bestimmten Gegenden des Landes' fest. 'Dieser Befund ist bemerkenswert, weil er zum ersten Mal Daten zum Gebrauch von Amphetamin-Stimulantien' in Pakistan erstellt habe. So wie der Transport von riesigen Mengen von Heroin durch Pakistan unvermeidlicherweise einen lokalen Markt kreiert hat, mit Millionen von Abhängigen, so haben jetzt Methamphetamine zu einem metastasenartigen Handel in den Straßen von Karatschi geführt. 'Crystaal', wie es genannt wird, ist überall."
Archiv: Foreign Policy
Stichwörter: Australien, Heroin, Karatschi, Cannabis

New York Times (USA), 16.09.2013

Schönheit und Schrecken hat ein hellauf begeisterter Jonathan Lethem in Thomas Pynchons neuem Roman zum 11. September und den Tiefen des Internets, "Bleeding Edge", erlebt. Er erklärt Pynchons düstere Weltsicht mit Verweis auf Philip K. Dick in der Sunday Book Review: "Während gewöhnliche Paranoiker glauben, dass die schlimmsten Fragen monströs einfache Antworten haben, weiß die paranoide Kunst, dass die beängstigenderen (aber unvermeidlichen) Entdeckungen weitere Fragen sind. Der paranoiden Kunst geht es um Deutung, sie entlockt sie ihrem Publikum; sie misstraut sich selbst und wird so zum notwendigen Gegenpart der selbstzufriedenen Kunst. In Pynchons Sicht wandelt sich das System der Moderne mit ihrer Aufklärung und Befreiung - Eisenbahn, Post, Internet, etc. - immer wieder zum Black Iron Prison des Kapitalismus mit seinen Beschränkungen, Monopolen und Überwachungen. Am fließenden Übergang dieses Wandels (oder an seinem 'blutigen Grat') leben wir in unserer ganzen Hilflosigkeit. Pynchons Figuren ernähren sich von den Brocken der Freiheit, die vom Fließband der erbarmungslosen Umwandlungsmaschinerie fallen - wie die Katze beim Fleischer. Für James Joyce ist die Geschichte ein Albtraum, aus dem wir aufzuwachen versuchen. Für Pynchon ist die Geschichte ein Albtraum, in dem wir Träumer mit wachem Verstand werden müssen."

Im Magazine stellt Laura Rappano den Wunderknaben Battushig Myanganbayar aus der Mongolei vor, der es dank eines ehrgeizigen Schuldirektors mit siebzehn Jahren aus der Steppe ans MIT geschafft hat.
Archiv: New York Times