Magazinrundschau

Von Birke zu Tanne

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
08.12.2020. Die London Review lernt von Fernand Braudel am Beispiel der globalisierten Welt der Renaissance, wie sich Kultur ausbreitet. Intercept verfolgt die Cyberpolizei in Kaschmir. Die New York Times lernt die rhizomatischen Verbindungen der Bäume kennen. Respekt würdigt den großen Antonin Liehm. In Radar erzählt der Philosoph Ricardo Forster, wie ein Streit um Diego Maradona ums Haar einen Benjamin-Kongress sprengte. In Daily Beast überlegt Steven Soderbergh, wie sich die Filmhäuser als Repertoire-Kino neu erfinden könnte. Republik warnt vor der fundamentalistischen Internationale der Evangelikalen.

London Review of Books (UK), 07.12.2020

Fernand Braudels wunderbares Werk über die Renaissance, "Das Modell Italien", wird im Englischen neu aufgelegt (im Deutschen ist es leider noch vergriffen). Erin Maglaque liest es voller Bewunderung, denn eigentlich interessiere Braudel als dem großen Historiker der Longe durée nichts von dem, was die italienische Renaissance ausmachte: fantastischer Reichtum, explosive Politik, aufregende Persönlichkeiten. Doch Braudel findet auf für "Modell Italien" seinen Zugang, wie Maglaque erklärt, und zwar in den ewigen Mustern, nach denen Kulturen sich ausbreiten: "'Spatzen und Florentiner gibt es auf der ganzen Welt', lautete ein Sprachwort der Renaissance. Braudels Buch beschreibt die kulturelle Transformation, die diese Florentiner und Neapolitaner, Venezianer und Genuesen mit sich brachten, als sie über ganz Europa und die Welt des Mittelmeers ausströmten. Es tauchen tatsächlich Menschen darin auf. Hungrige, ehrgeizige Gelehrte aus Italien waren erpicht auf Arbeit, am Morgen unterrichteten sie deutsche Prinzen in Griechisch und Latein, am Abend striegelten sie ihre Pferde. Italienische Kaufleute - Braudels Favoriten - überquerten das Europa, das Mittelmeer und das Rote Meer, sie kauften und verkauften Pfeffer, Arzneien, Seide, Reis, Goldstaub und Straußenfedern. Der Händler Antonia Malfante aus Genua machte sich zu einer quichottisch anmutenden Reise zu den Quellen des Golds im Sudan auf und kam immerhin bis zur Oase Touat in der Sahara. Der venezianische Patrizier Marin Sanudo notierte in seinem Tagebuch, dass der portugiesische Entdecker Vasco da Gama endlich Indien erreichte - nur um herauszufinden, dass die Venezianer dort zuerst waren. Wir erleben Petrarca im Exil in Avignon, der Briefe an die längst verstorbenen Adressaten Cicero und Vergil verfasste und damit auf eine Art das Altertum beschwor, die das intellektuelle Leben in Frankreich verändern sollte, oder Leonardo da Vinci, wie er über das Anwesen des Château du Clos Lucé in Amboise streift, wo er auf Einladung von Franz I. lebte (Leonardo hatte drei Meisterwerke mitgebracht, darunter die Mona Lisa). Braudel beschreibt auch das wendungsreiche Leben des Barockpoeten Giambattista Marino, der unter dramatischen Umstände seine Geburtsstadt Neapel verlassen musste, nachdem er seiner Geliebte Antonella bei einer Abtreibung geholfen hatte und ins Gefängnis geworfen worden war."

Republik (Schweiz), 04.12.2020

Zwei interessante Reportagen bietet das Schweizer Magazin. Paul Hildebrandt, Birte Mensing und Kiki Mordi recherchieren zu jenem anderen religiösen Fundamentalismus, der viel zu selten thematisiert wird - der von Putin und der radikalen Rechten in den USA tatkräftig gestützten Internationale der Evangelikalen. In Nigeria haben ihre Interventionen zusammen mit Partnern wie dem "Verein katholischer Anwälte", der "Islamischen Plattform" und der nigerianische "Liga für das Leben" den Druck auf Frauen erhöht, die abtreiben wollen - und auf Organisationen wie "Marie Stopes International", die sich für die reproduktiven Rechte der Frauen einsetzen. Dabei ist die Lage für die Nigerianerinnen jetzt schon düster: "Obwohl es für nigerianische Frauen beinahe keinen legalen Weg gibt, um abzutreiben, tun das in Nigeria jährlich zwischen 1,8 und 2,7 Millionen Frauen. Mehr als die Hälfte dieser Abbrüche gelten als unsicher. Das schätzt eine Studie aus dem Jahr 2018. Tatsächlich verhindern die strengen Gesetze keine Abtreibungen. Sie treiben die Frauen stattdessen an unsichere Orte: in Apotheken ohne Lizenzen, wo sie für wenige Dollar Abtreibungsmedikamente bekommen, und in sogenannte Quack Clinics - private Kliniken, in denen oft Laien die illegalen Abtreibungen durchführen."

Sehr im Trend ist Zement - allerdings mit negativen Schlagzeilen. 4 bis 7 Prozent des weltweiten Ausstoßes von Treibhausgasen gehen auf das Konto von Zement, schreibt Norbert Raabe. Das ist weit mehr als etwa der viel häufiger gescholtene Luftverkehr, der bei knapp 3 Prozent verbucht wird. Raabe untersucht in einer angenehm unideologischen und informationsreichen Reportage, wie sich die Schweizer und internationale Zementindustrie auf dies ungeheure Problem einstellt. Man sucht nach Alternativen, die man vielleicht in dem Mineral Olivin findet: "Das Besondere an Olivin ist: Es bindet Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Normalerweise geht dieser Prozess sehr langsam vor sich. Doch er lässt sich beschleunigen, in einem luftdichten Metallbehälter unter Druck und großer Hitze. Aus dem Rohmaterial plus CO2 entsteht so eine Substanz, die später für den Zement gebrannt wird. Bei diesem Vorgang tritt dann zwar Kohlendioxid aus - aber weniger, als zuvor chemisch gebunden wurde. Ein CO2-negativer Zement!" Allerdings noch längst nicht so funktionsfähig wie der klassische Zement! Die andere immer wieder zitierte Aternative heißt Holz, so Raabe.
Archiv: Republik
Stichwörter: Nigeria, Abtreibung, Bauindustrie

New Statesman (UK), 02.12.2020

Der in Verona lebende Tim Parks mault über die italienischen Medien und die ganze Gleichschaltung, die alle zu Corona-Leugnern abstemple, die sich von der Pandemie nicht den Spaß verderben lassen wollen: "Covid erreicht Norditalien im nebligen Februar, Der Lockdown wurde im sonnigen Mai gelockert. Aber es war unser Opfer, wird uns gesagt, nicht das Wetter, das den Unterschied machte. Überhaupt wird das Auf und Ab von Covid nur in Verbindung zu Regierungsdirektiven und der Bereitschaft der Bevölkerung betrachtet, ihnen zu folgen. Jeder Tod zeugt von Versagen, wenn nicht Schuld. Als die Sonne vom blauen Himmel herab brannte, war es ein Grund zur Besorgnis, dass Italien so stark vom Tourismus abhängt und dass es so ein schöner, gastfreundlicher, warmer und faszinierender Ort ist, voller Gelegenheiten für Menschen, es ins Herz zu schließen - kurz, dass das Leben lebenswert ist."
Archiv: New Statesman

Radar (Argentinien), 05.12.2020

"Wie sich vier Italiener einmal auf dem internationalen Walter-Benjamin-Kongress 1992 in Osnabrück wegen Maradona in die Haare gerieten", erzählt der argentinische Philosoph Ricardo Forster: "Drei von ihnen waren aus Norditalien - einer aus Mailand, einer aus Turin und der dritte, wenn ich mich recht erinnere, aus Florenz. Der vierte war aus Neapel. Mein argentinischer Kollege Nicolás und ich legten uns mit Verve für Maradona ins Zeug, woraufhin die drei Norditaliener zu unserer ungläubigen Überraschung alle Freundlichkeit ablegten und anfingen, den 'von der Camorra inthronisierten' Maradona wegen seines 'extravaganten Gebarens' mit Worten voller Ressentiment und Rassismus niederzumachen. Der Philosoph aus Neapel stellte sich dagegen wild entschlossen an unsere Seite und sprach von der historischen Gerechtigkeit, die es für die Leute aus dem Mezzogiono darstelle, mit Maradonas Hilfe endlich einmal Juventus Turin und die anderen Mannschaften aus dem Norden vom Thron gestoßen zu haben, die normalerweise den Titel wie auch die Reichtümer des Landes unter sich aufteilten und dem Süden nur die Armut und das Elend ließen. Damit erwies er sich als Einziger auf der Höhe einer benjaminschen Sicht der Geschichte, die die Schwachen, Entwurzelten und sonstigen Plebejer um die Erlösergestalt Maradonas versammelte, den Gott der Neapolitaner, der für Gerechtigkeit sorgte, indem er die heuchlerischen Herren des Geldes und des Fußballs ausdribbelte. Ohne das besänftigende Eingreifen Michael Löwys und Professor Garbers hätte die Sache ein schlimmes Ende genommen."
Archiv: Radar

Respekt (Tschechien), 06.12.2020

Mit 96 Jahren ist in Prag Antonín Jaroslav Liehm gestorben und damit einer der profiliertesten tschechischen Kulturjournalisten, Film- und Literaturkritiker. Er war maßgeblich beteiligt an der Aufbruchsstimmung des Prager Frühlings, dem die damals einflussreiche Literaturzeitung Literárni noviny unter seiner Mitwirkung ein intellektuelles Forum bot. Wie Jindřiška Bláhová erzählt, bezeichnete Liehm die Zeit dort später als "die besten Jahre meines Lebens … es war eine Epoche einer wirklich fühlbaren Hoffnung, der neuen Gedanken und neuen Visionen." Nach dem Einmarsch der Sowjetunion ging er in die Emigration, zunächst nach Frankreich, später in die USA, wo er sich unermüdlich und erfolgreich dafür einsetzte, die tschechoslowakische Neue Welle, das Filmwunder aus dem kleinen Land, im Ausland bekannt zu machen. In den achtziger Jahren gründete er die Zeitschrift Lettre Internationale und erst 2013 kehrte er dauerhaft in seine tschechische Heimat zurück. Jindřiška Bláhová schreibt: "In seiner Lebensgeschichte spiegeln sich zwei große Themen der tschechischen Gesellschaft: die Sechzigerjahre als Wunder und verpasste Gelegenheit, und das immer noch ungeklärte Verhältnis der Tschechen zur Emigration und den Emigranten - siehe Milan Kundera, mit dem er sich in Paris befreundete."
Archiv: Respekt

Intercept (USA), 06.12.2020

Ein Beitrag von Aakash Hassan vermittelt, wie Regierung und Cyberpolizei derzeit in Kaschmir gegen tweetende Bürger vorgehen: "Die 'Jammu Kashmir Coalition of Civil Society', eine Gruppe von Menschenrechtsorganisationen, berichtete im August, dass die Polizei Beschwerden gegen mehr als 200 User von Social-Media-Plattformen und virtuellen privaten Netzwerken eingereicht und Überwachungstechnologien eingesetzt habe, um die Menschen aufgrund von Antiterror-Gesetzen aufzuspüren und vorzuladen …  Einige von ihnen waren von der Cyberpolizei kontaktiert und aufgefordert worden, auf einer örtlichen Polizeistation eine unverbindliche Vereinbarung zu unterzeichnen, dass sie die Zivilbehörden und die Streitkräfte nicht in den sozialen Medien kritisieren würden. Andere berichteten, in den berüchtigten polizeilichen Aufstandsbekämpfungskomplex Cargo geschickt worden zu sein, wo sie verprügelt, beschimpft und mit Haft oder Tod bedroht wurden. Der jüngste Schlag gegen soziale Medien ist Teil der Verschärfung der Zensur unter dem hindu-nationalistischen Premierminister Modi seit August 2019. Damals beschloss die Regierung, den in der indischen Verfassung garantierten halbautonomen Status von Jammu und Kashmir auzuheben und den Staat in Gebiete unter seiner direkten Kontrolle aufzuteilen. Die Facebook- und Twitter-Posts, um die es geht, waren explizit politischer Art. Sie hinterfragten Indiens Vorgehen gegen Kaschmir nach Aufhebung des Sonderstatus' sowie die Missachtung von Menschenrechten durch indische Sicherheitskräfte und das Schweigen der Medien darüber … Während ein Großteil der Arbeit der Cyberpolizei im Verborgenen bleibt, hat ihr Vorgehen Auswirkungen auf die Aktivität in den sozialen Medien. Viele Accounts wurden gelöscht, sind verstummt oder enthalten keine politischen Inhalte mehr."
Archiv: Intercept

Elet es Irodalom (Ungarn), 07.12.2020

Der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Abgeordnete des ungarischen Parlaments Tamás Bauer verweist anlässlich des ungarischen (und polnischen) Vetos bei der Verabschiedung des EU-Haushaltes (der erstmals Auszahlungen mit der Einhaltung von Mechanismen der Rechtsstaatlichkeit verknüpft) auf essentielle Meinungsunterschiede zum Begriff der Freiheit bei der EU einerseits und des gegenwärtigen ungarischen Regimes andererseits. "Der Konflikt, der seit 2010 zwischen dem System von Orbán und der euroatlantischen Welt schwelt, geht in Wirklichkeit darum, dass die euroatlantische Welt, und darin die Europäische Union, seit dem Zweiten Weltkrieg und der Erfahrung von Faschismus und Kommunismus auf Prinzipien der liberalen Demokratie aufbaut, auf Institutionen des pluralistischen Rechtsstaates sowie auf allgemein für alle geltende Grundfreiheiten. Denn die Mitglieder von in ihren Interessen und ihren Werten fragmentierten Gesellschaften können lediglich in pluralen Systemen frei sein. Dem stellt sich Orbán prinzipiell entgegen, die Vielfältigkeit der ungarischen Gesellschaft sowie den Pluralismus aus zwei Jahrzehnten andauernder Demokratie negierend. Und diesen Gegensatz kaschiert er damit, dass er versucht den Konflikt so darzustellen, dass die Union Ungarn Multikulturalismus, "Gendertheorie" und Migration aufzwingen will, die alle den Intentionen und Neigungen der Ungarn entgegen stünden (...) Für Orbán spielt das Kriterium der Existenz oder des Fehlens der Freiheit der Bürger, was die westliche Welt primär von der sowjetischen Welt unterschied, keine Rolle."

Daily Beast (USA), 05.12.2020

Große Gespräche mit Steven Soderbergh über die Lage von Film und Kino bilden fast schon ein eigenes filmpublizistisches Genre in den letzten Jahren. Das große Coronakrisengespräch hat nun Nick Schager mit dem Regisseur geführt, der in den letzten Jahren hauptsächlich für Streaming-Plattformen gearbeitet hat (das Gespräch liegt auf den ersten Blick hinter einer Paywall, lässt sich aber über den Reading-Modus des Browsers frei lesen). Dass Warner gerade zum Entsetzen vieler Kinos verkündet hat, seine Blockbuster im kommenden Jahr parallel per Stream auf HBO Max auszuwerten, hält Soderbergh - der selbst in wenigen Tagen seinen neuen Film auf HBO Max veröffentlicht - für völlig plausibel. Das Ende des Kinos sieht er trotzdem nicht gekommen, vielmehr sollten Studios und Kinobetreiberverbände nun "praktische und realistische Gespräche über das Auswertungsfenster führen. Es braucht einfach eine gewisse Fluidität. Es gibt nicht das eine Muster, das zu jedem Film passt. Jeder Film ist anders. Man braucht diese Flexibilität. Wenn es schlecht läuft mit dem Film, den man gerade landesweit in die Kinos bringt, und man am Freitag um drei Uhr nachmittags erfährt, dass er im Kino nicht funktioniert, dann muss man einfach in der Lage sein, ihn so schnell wie möglich auf eine Plattform zu bringen. Man gibt so viel Geld aus, damit eine Sache ins Laufen kommt, und wenn das nicht klappt, sollte man tun dürfen, was immer man tun will. Die Kinos schmeißen den Film sowieso aus dem Programm, weil er floppt. ... Eine Variable, die wirklich noch nicht ausgeschöpft ist, ist die, dass all diese großen Kinoketten jetzt, da wir in einer volldigitalisierten Welt leben, sich als Repertoire-Kinos neu erfinden könnten, in dem sie all die Filme aus den letzten 120 Jahre zeigen, die das Publikum nie im Kino gesehen hat. ... Es gibt diese noch gar nicht voll ausgeschöpften Optionen, die Leute wieder daran zu gewöhnen, Filme zu sehen und ihnen etwas zu geben, was sie noch nie gesehen haben."
Archiv: Daily Beast

Lidove noviny (Tschechien), 03.12.2020

Die Villa Winternitz. Foto: Jeho Archiv, Villa Winternitz. Mehr Bilder aus dem Inneren der Villa bei Lidove noviny


Zum 150. Geburtstag von Adolf Loos öffnet sich in Prag-Smíchov die Villa Winternitz zu einer Ausstellung über den Brünner Architekten und sein Werk, wie die Lidové noviny berichten, wobei das größte Exponat freilich die Villa selbst ist. Josef Winternitz ließ sich das Haus 1932 von Adolf Loos und Karel Lhota erbauen (es war das letzte Werk von Loos, das erst nach seinem Tod fertiggestellt wurde), doch die jüdische Familie Winternitz wurde wenige Jahre später von den Nationalsozialisten daraus vertrieben, die meisten von ihnen ermordet. Ein Teil der Ausstellung widmet sich deshalb auch der Familie Winternitz selbst, deren Schicksal, wie der Urenkel und jetzige Leiter der Villa David Cysař sagt, "sowohl vom Holocaust als auch vom Kommunismus tief gezeichnet wurde". Erst 1997 erhielten die Erben im Zuge der Restitution die Villa zurück und konnten sie in ihre ursprüngliche Gestalt zurückbauen. Das Besondere an der Ausstellung ist, dass alle Räume frei zugänglich sind, "der Besucher sich zum Beispiel in die Sessel setzen und die vorhandenen Bücher lesen darf, so dass man die Ideen und das Werk von Adolf Loos mit allen Sinnen aufnehmen kann".
Archiv: Lidove noviny

Times Literary Supplement (UK), 04.12.2020

Schon 1970 schlug der Kompinist Mauricio Kagel vor, Beethovens damals zweihundertjährigen Geburtstag durch ein Moratorium zu würdigen. Nach einem Jahr der Stille würde Beethovens Musik wieder wie neu erklingen. Fünfzig Jahre später hat die Pandemie beinahe Ernst mit Kagels Vorschlag gemacht, doch Paul Griffiths muss zugeben, dass er sich das anders vorgestellt hat. Er liest also eine Reihe von Neuerscheinungen, die zu Beethovens zweihundertfünfzigsten Geburtstag auf dem Markt kommen und kann besonders Jan Caeyers' flotte Biografie "Beethoven: A Life" und Laura Tunbridges orginelles Porträt "Beethoven: A Life in nine pieces" empfehlen, auch wenn Caeyers ein bisschen altmodisch daherkomme: "Caeyers hält die 'Eroica' für einen 'heroischen Akt der Komposition an und für sich', ihr Heroismus sei ein wahrer, kein metaphorischer. Tunbridge dagegen zeichnet nach, wie Beethoven  - durch die bürgerliche Sehnsucht nach dem Autobiografischen in der Kunst - 'zu seinem eigenen Heroen wurde', wie 'seine kämpferische Haltung dem Unglück gegenüber' dazu führte, dass die Sinfonie 'als Jahrhundert überdauerndes Porträt des Künstlers' gedeutet wurde. Diese Tradition der Interpretation hat sich überholt. Eigentlich hatte schon 1970 John Cage bemerkt: 'Wir zelebrieren Beethoven heute weniger andächtig als vor zwanzig oder fünfzig Jahren.' Ein halbes Jahrhundert später hat es eine enorme Zunahme an historisch informierten Aufführungen gegeben, die zwar selten in den neuen Biografien erwähnt werden, aber doch verändert haben, wie sich Beethoven heute darstellt, nämlich ohne all das Gravitätische. Beethoven ist heute leichter, flinker, klarer, variantenreicher - und lustiger."

Magyar Narancs (Ungarn), 12.11.2020

Die Schriftstellerin und Dramatikerin Borbála Szabó beschreibt in einem Gespräch mit der Schriftstellerin Orsolya Karafiáth die Chancen des zeitgenössischen Dramas im Jugendtheater. "Ich mag es, zusammen mit den Kindern mit den Augen zu zwinkern oder Erwartungen außer Acht zu lassen - in diesem Genre darf ich das tun. Ich kann in einer Art Märchensprache sprechen, in einer von mir konstruierten Welt. Freilich ist das nur ein Werkzeug, denn ich kann alles, was mir wichtig ist, in dieser Sprache sagen, nur hat meine Botschaft eine Tarnkleidung. Und das befreit. (…) Ich hatte eine Kolumnenreihe bei einer Frauenzeitschrift, bei der ich über den Partner meiner Mutter, der ein Alkoholiker war, schrieb, über elende Augenblicke, was sicherlich nicht für Kinder bestimmt war. Doch sehr schnell wurde ich mit dem Welttrend konfrontiert, dass nach zeitgenössischen Dramen kaum gefragt wird, es werden eher Tschechow oder Shakespeare zum vierzigsten Mal neu inszeniert. Doch die Bühne für Jugendliche braucht neue Materialien, da sind wir noch gefragt und so sind die meisten Dramatiker dort zu finden."
Archiv: Magyar Narancs

New York Times (USA), 06.12.2020

In einem Artikel des aktuellen Wochenendmagazins lauscht Ferris Jabr den Bäumen und was sie einander zu sagen haben - via unterirdische rhizomatische Verbindungen. Die Ökologin Suzanne Simard gehört zu den Entdeckerinnen dieser Netzwerke zwischen Pflanzen und Pilzen (Mykorrhiza): "Bevor Simard und andere Ökologen das Ausmaß und die Bedeutung der Mykorrhiza aufdeckten betrachteten Förster Bäume als solitäre Lebewesen im steter Konkurrenz miteinander um Platz und Ressourcen. Simard und ihre Kollegen konnten nachweisen, dass dieses Modell allzu simpel ist. Ein alter Wald ist weder eine Ansammlung stoischer Organismen, die einander tolerieren, noch ein Schlachtfeld: Es ist eine gigantische, uralte, komplexe Gemeinschaft. Es gibt Konflikte, aber auch Diplomatie, Wechselseitigkeit und sogar Selbstlosigkeit. Bäume, Unterholz, Pilze und Mikroben im Wald sind so eng miteinander verbunden, kommunikativ und was die gegenseitige Abhängigkeit angeht, dass man auch von Superorganismen spricht. Jüngste Forschungen legen nahe, dass es Mykorrhizennetzwerke auch in der Prärie, in Graslanschaften und in der arktischen Tundra gibt, ja im Grunde überall an Land, wo es Leben gibt. Gemeinsam vereinen diese symbiotischen Partner die Böden des Planeten zu lebendigen Netzwerken von enormem Ausmaß und Komplexität … In einigen ihrer frühen Experimente pflanzte Simard gemischte Gruppen junger Douglasien und Papierbirken im Wald und verhüllte die Bäume mit Plastiksäcken, in die sie radioaktives Kohlendioxid, bzw. bei der anderen Art, ein Kohlenstoffisotop einließ. Die Bäume absorbierten die beiden Kohlenstoff-Formen durch ihre Blätter. Später pulverisierte Simard die Bäume und analysierte ihre Chemie, um festzustellen, ob Kohlenstoff unterirdisch von Art zu Art gelangt war. So war es. Im Sommer, als die kleineren Douglasien im Allgemeinen verschattet waren, floss der Kohlenstoff hauptsächlich von Birke zu Tanne. Im Herbst, als die immergrüne Douglasie noch wuchs und die Birke ihre Blätter verlor, kehrte sich der Fluss um. Genau wie Simards frühere Beobachtungen über das Douglasien-Sterben nahegelegt hatten, waren die beiden Arten voneinander abhängig."

Ligaya Mishan denkt ausführlich über Cancel culture nach: Wo sie älteren Beschämungspraktiken gleicht und wo nicht. Ihrer Ansicht nach ähnelt sie vor allem dem Karneval. Die herrschenden Mächte gewährten den unteren Klassen diese kleine Auszeit, in der sie Dampf ablassen und die da oben verspottet durften, damit alles beim alten blieb. Auch heute zeige sich, dass von der Cancel culture in erster Linie Personen betroffen seien, die in der Öffentlichkeit unbekannt waren. Ein hochrangiger Politiker oder Titan der Wirtschaft konnte noch nie gecancelt werden. "Heute wird so viel gejohlt und gestöhnt, aber scheinbar überall und bei allem, so dass selbst die wertvollsten und dringendsten Ursachen im Geschrei untergehen. Die vielen Subkulturen, deren Klagen die größere, nebulöse Cancel culture beflügeln, neigen dazu, sich an Kleinigkeiten aufzuhängen, was von Versuchen, einen umfassenderen Wandel zu erreichen, ablenken kann. Und dies kann eine absichtliche Ablenkung sein. Jede zwanghafte Suche bei Google nach Beweisen für Fehlverhalten, jeder wütende Post auf Twitter und Facebook, um die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen, lässt die Kassen klingeln in diesen Unternehmen, die Werbetreibende umwerben, indem sie auf die Intensität des Nutzerengagements hinweisen."

Außerdem: Abhrajyoti Chakraborty stellt den führenden Dokumentarfilmer Indiens vor, Anand Patwardhan, der seine Filmdoku "Reason" über den Aufstieg des Hindu-Nationalismus nur im Geheimen zeigen oder verkaufen will.
Archiv: New York Times