Magazinrundschau
Gift ins Brot gemischt
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
30.11.2021. Der New Yorker blickt in die Kerker, in die libysche Milizen für die EU afrikanische Migranten sperren. Die LRB ringt in Delhi nach Luft. Eurozine stellt sich dem Hexenglauben in Papua-Neuguinea entgegen. Elet es Irodalom hofft, dass die ungarische Gesellschaft mit einer neuen Verfassung ihre Souveränität zurückgewinnt. Im Guardian wirft Jill Lepore einen Blick auf die Gesellschaft und zurück schaut ein blasses, übellauniges Wesen, das den ganzen Tag vor dem Bildschirm hockt. Le Monde raubt dem reaktionären Medienmogul Vincent Bolloré das Weihwasser. Und der Filmdienst setzt sich der Vehemenz des frömmelnden Kinos aus.
New Yorker (USA), 06.12.2021

Außerdem: Pankay Mishra überlegt, was uns Frantz Fanons postkolonialer Klassiker "Die Verdammten dieser Erde" heute sagen kann. Und Peter Schjeldahl erinnert an die tragende Rolle von Sophie Taeuber-Arp bei der Etablierung der abstrakten Kunst.
Guardian (UK), 29.11.2021

Und der Philosoph Kwame Anthony Appiah schreibt über die Verheerungen, die Corona für den globalen Süden bedeuten: Die Blumenindustrie in Kenia ist ebenso zusammengebrochen wie die Schokoladenernten in Ghana und der Elfenbeinküste. Aber auch gesundheitlich werden die afrikanischen Länder indirekt, aber schwer getroffen werden: "Eine tödliche Gefahr ist Covid vor allem, weil es das Management anderer Krankheiten wie HIV, Malaria und Tuberkulose einschränkt. Allein in Afrika leben 26 Millionen Menschen mit HIV, in einem ganz normalen Jahr sterben mehreren hunderttausend daran, während Malaria, die besonders für Säuglinge und Kleinkinder tödlich ist, annähernd 400.000 Leben fordert... Experten der Öffentliche Gesundheit erwarten als indirekte Folge der Pandemie, dass an Malaria doppelte so viele sterben könnten. An Tuberkulose könnten in den nächsten Jahren zusätzlich 400.000 Menschen sterben, eine halbe Million mehr an HIV. Kurz gesagt, die Reaktionen auf das Coronavirus haben in der ganzen Welt eine Schattenpandemie eingeleitet. Die wahre Todesrate des Coronavirus sollte daher nicht nur die einbeziehen, die an Covid gestorben sind, sondern auch die, deren Sterben an Malaria, TB, HIV oder Diabetes hätte verhindert werden können."
London Review of Books (UK), 02.12.2021

Perry Anderson rühmt die moldawische Philosophin und Historikerin Stella Ghervas, die sich mit ihrer europäischen Geschichte "Conquering Peace" in die Gruppe großer osteuropäischer Denker wie Dmitri Furman, Gáspár Tamás, Slavoj Žižek, Jan Zielonka einreihe: "Mit einem Titel von Shakespeare und Bildern von Tiepolo und Max Ernst behabndelt 'Conquering Peace' die verschiedenen Versuchen seit dem 18. Jahrhundert, Europa den Krieg auszutreiben. Für Ghervas waren die Friedensschlüsse, die jeden großen Ausbruch von Feindseligkeiten beendeten, ebenso bedeutsam wie die Konflikte selbst und oft von längerer Dauer. Jeder von ihnen wurde, so Ghervas, von einem bestimmten Zeitgeist inspiriert: Der Frieden von Utrecht 1714 vom Geist der Aufklärung, der Kongress von 1815 vom Geist von Wien; die Gründung des Völkerbundes 1920 vom Geist von Genf; in Europa nach 1945 Geist der Nachkriegsordnung vom Geist der Nachkriegsordnung; und schließlich das Ende des Kalten Krieges seit 1991 vom Geist des erweiterten Europas. All diese Regelungen seien durch einen 'Ariadnefaden' miteinander verbunden, das Streben nach Einheit und Frieden auf dem Kontinent. Ghervas zufolge waren diese Ziele untrennbar miteinander verbunden, auch wenn bei weitem nicht alle Akteure diese Sicht teilten. Dagegen standen die aufeinander folgenden Bestrebungen verschiedener Despotien - bourbonisch, napoleonisch, wilhelminisch, nationalsozialistisch, sowjetisch - nach einem universellen Imperium in Europa. Eine Periodisierung der Geschichte des Kontinents als Abfolge von Ideen, die seine langfristige Entwicklung bestimmen, kann kaum vermeiden, in den Verdacht des Idealismus zu geraten - nicht nur im moralischen Sinne des Begriffs, sondern in seiner philosophischen Bedeutung, deren Gegenteil der Realismus ist."
Le Monde (Frankreich), 16.11.2021
Wer diesen Artikel liest, wird ernste Zweifel an der demokratischen Zukunft Frankreichs bekommen. Frankreich war schon immer ein Museum politischer Strömungen: Bis vor kurzem gab es drei trotzkistische Parteien, zwei monarchistische Strömungen (Legitimisten und Orleanisten) und auch noch ein paar Bonapartisten unterschiedlicher Couleur. Und selbstverständlich gibt es noch die von Balzac besungene superreaktionäre katholische Tradition in der Bretagne (die mehrheitlich heute sehr viel moderner ist). In dieser fundamentalistisch-katholischen Tradition steht Vincent Bolloré, einer der reichsten Männer Frankreichs, den Raphaëlle Bacqué und Ariane Chemin in einem epischen Artkel für Le Monde porträtieren. Bolloré ist größter Aktionär des Vivendi-Konzerns und besitzt die halbe französische Medienlandschaft von Buchverlagen über Canal Plus bis zu "Info"-Sendern wie CNews, wo er Eric Zemmour groß machte. Bolloré verhinderte, dass Canal Plus einen Film von François Ozon über Missbrauch in der Katholischen Kirche kaufte (er lief auf der Berlinale, mehr hier) und er hasst Charlie Hebdo wie sonst nur woke Linke, die er natürlich auch hasst. Er hofft, dass Zemmour im Bündnis mit der gemäßigten Rechten den Elysée-Palast erobert, "mit einem Köhlerglauben inklusive frommen Bildchen in seinem Portemonnaie und einem bretonischen Synkretismus , der zwischen keltischer Tradition und Marienverehrung schwankt. Die Devise der Familie ist seit 1789 gleichgeblieben: 'Auf den Knien vor Gott, aufrecht vor den Menschen.' Da er abergläubisch ist, hat er stets eine kleine Marienstatue in Reichweite und trägt Fläschchen mit Weihwasser aus Lourdes mit sich herum, wo er einmal jährlich hinpilgert..."
Elet es Irodalom (Ungarn), 30.11.2021

Respekt (Tschechien), 28.11.2021

Eurozine (Österreich), 29.11.2021

Magyar Narancs (Ungarn), 24.11.2021

Film-Dienst (Deutschland), 27.11.2021

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