Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
03.05.2004. Im Merkur liefert Michael Zeller Impressionen aus der Ukraine. Prospect feiert das Temperament ungarischer Schriftsteller im allgemeinen, das TLS Peter Esterhazys im besonderen. Outlook India rühmt eine Anthologie erotischer Sanskrit-Literatur. Im Espresso stellt uns Umberto Eco Hannibals intelligente Raketen vor. Der New Yorker wirft der US-Armee Versagen auf höchster Ebene vor. Im Express diagnostiziert Gerard Chaliand bei den Moslems pathologische sexuelle Frustration. Das New York Times Magazine widmet sich der Deutschen Frage.

Prospect (UK), 01.05.2004

Am Beispiel von George Szirtes' und Miklas Vajdas Anthologie ungarischer Literatur ("Leopard V: an island of sound") zeigt Julian Evans, welche Kraft die EU aus ihren neuen Literaturen beziehen kann: "Die Geschichten aus Ungarn und aus Zentraleuropa überhaupt mögen uns seltsam erscheinen. Ihre Geschichte, ihr Temperament, ihre fiktionale Ästhetik scheinen einer ganz eigenen Landschaft zu entstammen. Ihre Ästhetik ist jedoch die der Entdeckung, des Eintauchens in das Unbekannte - und so gesehen ist dies unser Ur-Europa, das Europa, das uns einst aussandte, unsere Möglichkeiten zu erforschen und alles zu wagen. Vor ein paar Jahren fragte ich Peter Esterhazy (...), wozu Romane seiner Meinung nach gut seien. Er antwortete, sie besäßen 'eine bodenlose Neugier, herauszufinden...' Er hielt inne, stockte kurz, wedelte mit dem Armen, bevor er die richtigen Worte fand, '...was zum Teufel all das bedeutet!'"

Der Liberalismus ist keineswegs erst 300 Jahre alt, behauptet Paul Seabright, sondern hat schon vor 10.000 Jahren mit dem Beginn der Sesshaftigkeit und der Landwirtschaft eingesetzt - in dem Moment nämlich als Fremde begannen, miteinander Handel zu betreiben.

"Gute Zäune machen gute Nachbarn." Sehr spannend liest sich Eamonn Fingletons Artikel über die japanisch-chinesische Allianz. Denn was von außen nach gepflegter Erbfeindschaft aussieht, könne bestenfalls als geschickte Hassinszenierung gelten, die darüber hinwegtäuschen soll, wie eng das Bündnis beider Partner längst geworden ist.

Weitere Artikel: James Fergusson erzählt die ernüchternde Geschichte eines nach Großbritannien ausgewanderten Afghanen, der fälschlicherweise der Vergewaltigung angeklagt wurde. Philip Hunter erklärt, welch grandiose Zukunftsperspektiven die künstliche Photosynthese eröffnet. Im Aufmacher unterhalten sich Lord Falconer und fünf führende politische Kommentatoren (Robert Hazel, Anthony Barnett, Geoffrey Howe, Ferdinand Mount und Vernon Bogdanor) über die zweite Phase der von der Labour-Regierung in die Wege geleiteten Verfassungsreform.
Archiv: Prospect

Outlook India (Indien), 10.05.2004

Eine eigenartige Anerkennung: Lee Siegel, Indien-Kenner und Professor an der Universität von Hawaii, war ganz entzückt über eine "wunderbare Anthologie indischer literarischer Texte über erotische Liebe" ("Love and Lust: An Anthology Of Erotic Literature From Ancient and Medieval India", herausgegeben von Pavan K. Varma und Sandhya Mulchandani), doch dann fand er darin ein Gedicht, das ihm bekannt vorkam. Er selber hatte es übersetzt, doch seinen Namen konnte er nirgends finden. Und das war erst der Anfang eines ganzen Rattenschwanzes editorischer Fauxpas und Dummheiten. "Deshalb kann ich", schreibt also Siegal, "auch wenn ich als Liebhaber erotischer Sanskrit-Literatur die Auswahl der sexy-verführerischen Texte ehrlich bewundere, nicht davon Abstand nehmen, ein paar Einwände vorzubringen." Und noch einmal Literatur: Anita Roy hat Rupa Bajwas Roman "The Sari Shop" gelesen und lobt die Autorin in allerhöchsten Tönen.

Zum Sport, aber nicht zum Kricket. Sugata Srinivasaraju wundert sich darüber, dass die Weitspringerin Anju Bobby George, Indiens einzige Medaillenhoffnung bei den Olympischen Spielen in Athen, ohne offizielle Unterstützung auskommen muss. Und das in einem Land, dem sein Image in der Welt immer wichtiger wird.

Schließlich das Thema Wahlen, bei denen die zweite Halbzeit ansteht. Und siehe da, mit einem Mal sieht es für die Kongresspartei gar nicht mehr so furchtbar schlecht aus. Über den neuen Optimismus im Oppositionslager von Sonia Gandhi berichtet Bhavdeep Kang. Sanjay Suri weiß, dass Wahl-Logistiker weltweit und ganz speziell im Vereinigten Königreich mit Anerkennung und gezücktem Notizbuch nach Indien blicken. Und Sanjeev Srivastava ist nach New York gefahren, um herauszufinden, was die Amerikaner über Indien denken: "Die Idee war, die indischen Wahlen aus globaler Perspektive in Augenschein zu nehmen. Was denkt die mächtigste Demokratie der Welt über die größte?" Sein Befund: "Amerika hat seine Blindheit in Bezug auf Indien abgelegt." Dass der Blick manchmal sehr tunnelartig ist - naja.
Archiv: Outlook India
Stichwörter: Olympische Spiele, Optimismus

Merkur (Deutschland), 01.05.2004

Der Schriftsteller Michael Zeller liefert Impressionen aus der Ukraine, wo seiner Meinung nach der Blues spielt: "'Freiheit' meint in diesem Land seit 1991 Unabhängigkeit von Moskau, dem von jeher erdrückenden Brüderchen im Osten. Der Gefühlswert, den dieses Wort 'Freiheit' hierzulande in den Menschen auslöst und der ihre Seelen wärmt, auch wenn sie hungern mögen, in allen Widrigkeiten ihres Alltags: Es ist ein kräftiges, vitales Gefühl, vergleichbar vielleicht dem Pathos der Französischen Revolution vor zweihundert Jahren. Jung und uralt zugleich." Und wie gut dies der ukrainischen Lyrik getan hat! Zum Beispiel der des von Lemberg bis Kiew gerühmten Sergiy Zhadan: "Keine Reime mehr, keine feste Strophik. Die Verse fließen in freiem Rhythmus und haben dabei entscheidend an Atem gewonnen. Schön geregelter Atem sind Gedichte, was sonst. Die Klangfarbe des Ukrainischen meine ich darin zu hören, die sanghafteste aller slawischen Sprachen, wie es immer wieder heißt."

In den Marginalien wirft Thomas Frahm einen ausgesprochen nüchternen Blick auf die Situation der Zigeuner in Bulgarien: "Es sind zahlreiche Versuche unternommen worden, die Zigeuner zu integrieren, sprich: sie zum Wertekanon einer bürgerlichen Lebensform zu bekehren. Die Vorzüge dieser Lebensform erschienen ihren Vertretern so unbestreitbar, die Armut einer Mehrzahl der Zigeuner so evident, dass es ihnen undenkbar war, die Gemeinde der Zigeuner könnte diesen Integrationsvorschlag ablehnen. Die Integratoren waren sich in ihrer Hoffnung um so sicherer, als der Materialismus der Zigeuner ja offenkundig war. Statussymbole spielen bei Zigeunern eine gewaltige Rolle. Der Wert einer Hochzeit bemisst sich an der Zahl der Gäste, der Fülle der Bewirtung und nicht zuletzt an dem Preis, den die Familie des Bräutigams an die Familie der Braut bezahlt (50.000 Euro für besonders schöne Mädchen sind keine Seltenheit)." Doch es klappte nie. Der Grund, so Frahm, ist die besondere Ökonomie der Zigeuner: Für sie "existiert nur die Kategorie des Privateigentums - alles andere sind Ubiquitäten."

Nur im Print finden sich Artikel zur "Geschichte als Therapie", Kulturanthropologie und zu Norbert Elias, zur Normalität von Ostdeutschland, zur Fruchtbarkeit von Tratsch und Kenzaburo Oe.
Archiv: Merkur

Times Literary Supplement (UK), 30.04.2004

Peter Esterhazys Roman "Harmonia Caelestis" ist nun auch auf Englisch erschienen, und Joanna Kavenna hat anfangs gezittert, ob dieses wacklige literarische Kartenhaus aus "schockierend expliziter Komödie", ungarisch-aristokratischem kitchen-sink drama und "Der-Autor-ist-tot"-Prosa auch wirklich hält. Aber ja, jubelt sie schließlich und erkennt genau im Durcheinander dem "wilden Exzess" den Moment der Größe.

Kaum ein gutes Haar lässt Richard Wilson an der enttäuschenden Neuauflage von Anthony Sampsons Anatomie der britischen Gesellschaft "Who Runs This Place?". Lauter Fehler, Widersprüche und falsche Einschätzungen, schimpft Wilson. Völlig unverständlich ist ihm etwa, wie Sampson behaupten kann, dass keine Politik das Land jemals so verändert hat wie das Privatfernsehen: "Wo war er, als Mrs. Thatcher an der Macht war?" Michael Gorra stellt die neuesten Produkte der stets florierenden Mark-Twain-Industrie vor, darunter zwei neue Biografien und die Bonmot-Sammlung twainquotes. Adrian A. Barnett dankt Herve Le Guyader für eine neue Studie über den völlig zu Unrecht vergessenen Zoologen Etienne Geoffroy Saint-Hilaire, dem wir Wegweisendes in der komparativen Anatomie, der experimentellen Embryologie, der evolutionären Paläontologie und der Tetralogie verdanken. Und Clive James kommentiert den "Cyrano von Bergerac" im Olivier Theatre, mit Stephen Rea in der Hauptrolle, polyglott mit "Sacre Bleu! Quelle histoire" und "Der Beifall war endenwollend".

Express (Frankreich), 29.04.2004

Ein paar ziemlich dezidierte Ansichten äußert der Terrorismus-Historiker Gerard Chaliand ("Histoire du terrorisme" bei Bayard) im Gespräch mit L'Express. Zur Kopftuch-Debatte sagt er: "Für die Islamisten ist das Verbot des Kopftuchs an den Schulen eine Kriegserklärung. Sie sehen es als einen Angriff auf die moslemische Frau, der man untersagen will, keusch zu sein. Die moslemischen Gesellschaften haben ein echtes Problem mit den Frauen, es herrscht dort eine quasi pathologische sexuelle Frustration. In Frankreich versuchen sie, uns ein Schuldgefühl zu geben... Der Druck des Islamismus manifestiert sich aber durch die Kontrolle der Frauen. In den fünfziger Jahren kannte ich ein Agypten, in dem die Frauen nicht verschleiert waren. Heute tragen in Kairo achtzig Prozent der Frauen das Kopftuch."

Außerdem in L'Express ein Porträt des "unsinkbaren" Charles Aznavour, der mit seinen achtzig Jahren mal wieder eine Reihe von Konzerten in Paris gibt.

Archiv: Express

New Yorker (USA), 10.05.2004

Die Folteranschuldigungen gegen amerikanische Militärpolizisten, die irakische Gefangene bewachen, beruht auf einem internen Bericht der US Army des Generals Antonio M. Taguba, berichtet Seymour Hersh in einer seiner großartig trockenen Recherchen. Hersh studiert diesen Bericht, der dem New Yorker zugespielt wurde und geht vor allem der Frage nach, wie hoch die Verantwortung für die Untaten anzusiedeln ist - ziemlich hoch, so scheint es: "Als die internationale Wut stieg, bestanden höchste Offiziere und Präsident Bush darauf, dass die Taten einiger weniger nichts über das Verhalten der Army insgesamt aussagen. Tagubas Bericht kommt jedoch einer schonungslosen Bilanz kollektiven Fehlverhaltnes und eines Versagens der Armee-Hierarchie auf der höchsten Ebene gleich." Online only veröffentlicht der New Yorker auch noch weitere Fotos, die die Vorwürfe belegen.

In einer ausführlichen Rezension bespricht Hendrik Hertzberg "Plan of Attack" (Auszüge), das neue Buch von Bob Woodward über die Vorbereitung des Irakkriegs (Simon & Schuster), und porträtiert dabei auch den Autor. "Wann", fragt Hertzberg eingangs, "ist die Veröffentlichung eines Buchs nicht nur einfach die Veröffentlichung eines Buchs? Das ist kein großes Geheimnis, denn die Antwortet ist inzwischen offensichtlich: Wenn der Autor Bob Woodward heißt."

Weiteres: Jeffrey Toobin beleuchtet John Kerrys Anwaltsvergangenheit. Die Erzählung "The Abandoner" schrieb Ma Jian. Besprochen werden eine Inszenierung des Theaterstücks "A Raisin in the Sun" von Lorraine Hansberry und Andrew Lloyd Webbers Bollywood-Musical "Bombay Dreams". Anthony Lane sah im Kino das Melodram "The Saddest Music in the World? des kanadischen Regisseurs Guy Maddin mit Isabella Rossellini und die Teenykomödie "Mean Girls" von Mark Waters. Und Joan Accocella schreibt über ein europäisches Tanzprojekt an der Brooklyn Academy of Music.

Nur in der Printausgabe: eine Reportage über italienische Luxusschuhe, das Porträt eines südafrikanischen Satirikers, nicht näher spezifizierte Lektionen über Kunst und Fußball und Lyrik von Henri Cole und Rita Dove.
Archiv: New Yorker

Cicero (Deutschland), 01.05.2004

Die zweite Ausgabe des neuen Magazins Cicero macht auf mit einem Text von Martin Walser über die "menschliche Wärmelehre", der sich stellenweise wie eine Selbstreflexion über die vertrackte Dialektik der Walser-Hermeneutik liest. Der Text ist in sechs Sätze und ihre Interpretation gegliedert, von denen allerdings nur zwei online gestellt wurden. Satz 1: "'Man kann Menschen besser beurteilen nach dem, was sie verschweigen, als nach dem, was sie sagen.' Das ist der 1. Hauptsatz der menschlichen Wärmelehre. Dieser Satz macht es nötig zu behaupten, es sei leicht, in dem, was ein Mensch sagt, das festzustellen, was er verschweigt. Und wenn man sich angewöhnt hat, den Text eines Menschen Wort für Wort als die Mitteilung eines verschwiegenen Textes zu verstehen, dann werden auch die fadesten oder banalsten Sätze dramatisch interessant. Auch die farblosesten Politikerstatements werden, wenn man in ihnen das Verschwiegene entdeckt, abgründig attraktiv. Und es sind gerade die farblosesten Routinephrasen, die dann die spannendsten Kehrseiten offenbaren."

Nur im Print: Adam Michnik schreibt einen Brief an Gesine Schwan. Georg Diez hat Franz Müntefering besucht. Angela Merkel spricht im Interview über Macht und Männer. Barbara Bierach beklagt das Fehlen weiblicher Top-Manager in Deutschland. Wolf Biermann erklärt im Interview, warum er nicht weiß, ob er ein Jude ist. Und Timothy W. Ryback stellt uns Hitlers Familie vor. Nach und nach sollen mehr Texte online gestellt werden.
Archiv: Cicero

Espresso (Italien), 06.05.2004

"Hannibal hat die Römer bei Cannae besiegt, weil er Elefanten hatte, die intelligenten Raketen seiner Zeit, aber tat er gut daran, die Alpen zu überqueren und auf der Halbinsel einzumarschieren?", fragt Umberto Eco in einer Bilanz des Irak-Kriegs. Um schließlich festzustellen, dass wie im Irak auch in Italien die Politik ohne Beteiligung der Bevölkerung betrieben wird - und das muss zwangsläufig scheitern. Der Chefredakteur von Foreign Policy, Moses Naim, zeigt sich ähnlich kritisch und fordert ein Ende des Unilateralismus, den die USA sich, dem Irak und der Welt langsam nicht mehr zumuten könnten.

Drei Typen der Nacht gibt es: Arbeitende, Schlafende oder Vergnügungssucher. Wie Europas Stadtplaner die Koexistenz dieser drei Gattungen möglichst reibungsfrei organisieren wollen, schildert Gabriele Isman. Michele Serra gehen die Pläne, die Evolutionslehre aus dem italienischen Lehrplan zu streichen, nicht weit genug: Wieder einmal sei eindrucksvoll bestätigt worden, dass in Wahrheit der Affe vom Menschen abstammt. Katia Riccardi zeigt, dass auch die Berufsprotestanten des 1. Mai mittlerweile im Internet angekommen sind. Im Kulturteil stellt der Espresso eine Ausstellung im Palazzo Inghirami in San Sepolcro vor, wo vier zeitgenössische Künstler den Renaissancemaler Piero della Francesca (eine kleine Ausstellung im Netz) neu interpretieren. In Gigi Rivas Artikel zur EU-Erweiterung kann man schließlich nachlesen, dass auch in Italien die Angst vor der wirtschaftlichen Konkurrenz vorherrscht.
Archiv: Espresso

Clarin (Argentinien), 03.05.2004

Ganz im Zeichen des Tangos und seiner Verbindungen zur Literatur stehen diese Woche die Literaturbeilagen der argentinischen Tageszeitungen Pagina 12 (Radar) und Clarin (N). Anlass sind drei kürzlich erschienene Romane: "El cantor de tangos", von Erfolgsautor und Journalist Tomas Eloy Martinez, sowie "Errante en la sombra" und "El bailarin de tango" der Debütanten Federico Andahazi und Juan Terranova. Dass dies keineswegs ein neues Thema ist und Hommagen an die Spelunken-Musik ein wichtiges Leitmotiv der argentinischen Literatur sind, von Jorge Luis Borges über Roberto Arlt bis Julio Cortazar , daran erinnert Vicente Muleiro in einer historischen Übersicht. Kein Wunder, denn "Tango-Texte sind ohnehin Literatur, gute oder schlechte, aber Literatur", wie auch Julio Nudler in Radar findet.

In "El cantor de tangos" macht sich nun ein amerikanischer Student, Bruno Cadogan, auf die Suche nach dem wahren Tango und stößt auf einen außerordentlichen Sänger, Julio Martel. In dem Roman von Eloy Martinez ("Der Flug der Königin") geht es selbstverständlich viel um Buenos Aires, nicht zuletzt auch deswegen, weil es sich um eine Auftragsarbeit über Metropolen für Liz "Harry Potter" Calder und ihren Bloomsbury Verlag handelt. "Große Tangos zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Art Destillat dieser Stadt sind", erklärt der Autor im Interview. Rezensent Ariel Schettini bescheinigt "El cantor de tangos" Bestseller-Qualitäten, stilistische Brillanz, genaue Beobachtungsgabe und politische Ambitionen ("Argentinien als perfektes Modell für Globalisierungshasser"), lässt aber gleichzeitig durchblicken, dass seiner Ansicht nach nur wenige seiner Seiten "beste Literatur" seien.

Derartige Qualitäten werden gemeinhin den unzähligen Büchern Cesar Airas bescheinigt, einem argentinischen Autor der mittlerweile auch ins Deutsche übersetzt wird, aber bislang trotz begeisterter Rezensionen ein wenig in der Neuerscheinungs-Flut untergegangen ist. Aira hat kürzlich eine Gesamtausgabe der Gedichte seines Landmannes Osvaldo Lamborghini herausgegeben, die er nun in Radar kurz vorstellt. Weitere Beiträge befassen sich mit der Buchmesse in Buenos Aires sowie mit dem neuen Film von der auch in Deutschland durch "La Cienaga" bekannten Regisseurin Lucrecia Martel. Und dann ist da noch ein Beitrag -der wievielte eigentlich? - zur Biografie von Gabriel Garcia Marquez: Journalistin Silvana Paternostro hat Dutzende von Freunden, Verwandten und Weggefährten interviewt und dabei mehr oder weniger interessante Anekdoten gesammelt.
Archiv: Clarin

Monde des livres (Frankreich), 30.04.2004

Einen Sturm entfacht in Frankreich der Wechsel Michel Houellebecqs vom Verlag Flammarion zu Fayard - dieses Haus gehört zur Hachette-Gruppe, die auch über eine synergetisch wertvolle Film- und Medienabteilung verfügt. Bei Fayard arbeitet jetzt auch Raphael Sorin, der Houellebecq einst bei Flammarion herausbrachte, während Houellebecq bei Flammarion seinen Kumpel Frederic Beigbeder unterbrachte, der in Le Monde des livres so zitiert wird: "Ich bin sprachlos und bestürzt. Menschlich bin ich sehr traurig, aber auch froh für Michel, wenn ihm das erlaubt, ein gutes Buch zu schreiben. Ich warte als Freund und Leser mit Ungeduld darauf. Als Verleger fühle ich mich wie eine Mätresse, deren Geliebter zu seiner Ehefrau zurückkehrt, und das obwohl ich so viel sexier bin als Raphael Sorin!"

Außerdem in Le Monde des livres eine große Besprechung der Briefe, die Simone de Beauvoir mit ihrem Geliebten Jacques-Laurent Bost, der alles in allem doch hübscher war als der offizielle Sartre, in den Jahren 1937 bis 40 wechselte.

Economist (UK), 30.04.2004

Aus fünfzehn mach fünfundzwanzig. Keinem Club, so der Economist, rennen die Mitglieder so die Tür ein wie der EU. Und doch bleibe die Freude über die jüngste EU-Erweiterung verhalten, auch aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Wie ein enttäuschter Liebhaber blickt der Economist zurück, um zu erkennen, wann und wie ihm der europäische Zauber verloren ging. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass Europa seine Vitalität schon immer aus Visionen bezogen hat. Zeit also für neue Visionen: "Der Türkei Einlass in den Club zu gewähren mag (noch) nicht zu der EU-Vision des gewöhnlichen Europäers gehören. Doch dem könnte so werden, wenn der türkische Beitritt als Teil einer größeren Mission begriffen würde, nämlich: der erweiterten EU eine neues Ziel auf globaler Ebene zu geben. Der EU ist es beschieden, Leuchtfeuer und Vorbild zu werden: nicht nur als wirtschaftlicher Erfolg, sondern als liberale, tolerante und multikulturelle Gesellschaft."

"Gouvernator" Arnold Schwarzenegger ist dabei, Kalifornien zu einem wirklichen Neustart zu verhelfen, meint der Economist und liefert dazu ein ganzes Dossier.

In weiteren Artikeln erfahren wir, dass John Kerrys Profil sich letztlich darauf zu reduzieren scheint, dass er nicht George Bush ist, warum Google vor seinem allseits gehypten Börsengang doch nicht ganz so unangefochten dasteht wie es zunächst den Anschein hatte, dass das Votum der griechischen Zyprioten auf leichtsinnigen Gedankenspielen gründet, dass Jagdish Bhagwatis Verteidigung der Globalisierung ("In Defence of Globalisation") durchdacht und unpolemisch ist, warum man von dem britischen High-Tech-Personalausweis weder allzuviel erwarten noch Angst vor ihm haben sollte, inwiefern das Auto vom Handy abgelöst wird, und wie Biomechanik und Cricket sich ins Gehege kommen. Und schließlich ein Nachruf auf die Kosmetik-Legende Estee Lauder, die das Geheimnis ihres Alters mit ins Grab genommen hat.
Archiv: Economist

Nouvel Observateur (Frankreich), 29.04.2004

Nach seinem Buch über den ermordeten Journalisten Daniel Pearl (mehr hier) legt Bernard-Henri Levy (BHL) jetzt zwei neue und ziemlich dicke Essaybände vor: "Recidives" (1008 Seiten, Grasset) und "Jours de colere" (448 Seiten, Livre de poche). Im Gespräch mit dem Nouvel Obs erläutert Levy seine "Wahrheiten" und erzählt von den "großen Schlachten meines Lebens". Seinen Einfluss beurteilt er erstaunlich ambivalent: "Seit ich 25 war, hatte ich immer wieder einflussreiche Positionen, bis zu dem Moment, in dem die Dinge total in die Hose gingen. Etwa in der Zeit um 1974/75, als ich nichts Geringeres wollte, als die französische Presse neu zu erfinden und eine Tageszeitung namens l'Imprevu vom Stapel ließ - ein Abenteuer, das in einem lächerlichen Debakel mündete. Zur Zeit der 'nouveaux philosophes' gab es einen Moment, in dem ich einen wirklichen Einfluss auf dem intellektuellen Feld hatte; im Gegenzug sind die Dinge, als ich Theater machte, schlecht gelaufen. Und mit dem Film war es noch schlimmer."

Im Debattenteil schreibt der spanische Schriftsteller Javier Marias über die Sozialisten, Aznar und Blair, Franco, Proust und Tintin. Über den Terrorismus in Spanien sagt er: "Terroristen sind meistens Leute, die früh aufstehen. Der größte Teil der Attentate in Spanien findet am frühen Morgen statt. Es gibt diesen Brauch, sich jedes Mal, wenn die ETA einen oder mehrere Menschen umgebracht hat, am Mittag vor den Rathäusern zu einer Schweigeminute zu versammeln. (...) Von meinem Fenster aus sehe ich das Madrider Rathaus. Gewöhnlich schreibe ich und bin ein bisschen versunken, und plötzlich spüre ich eine seltsame Stille. Dann weiß ich, dass es ein Attentat gegeben hat."

Ebenfalls im Debattenteil beschäftigt sich der Mittelalterexperte Jacques Le Goff mit mehreren Publikationen zum Verhältnis Islam - westliche Religion und resümiert "sieben Jahrhunderte Gleichgültigkeit" und "gegenseitige Feindseligkeit": "Von Anfang an sind die Dinge schlecht gelaufen")

Besprochen werden außerdem der neue Roman "Le Dernier Ami" (Seuil) von Tahar Ben Jelloun und eine Biografie über Pierre Levy, den Verleger von Max Ernst und De Chirico und Gründer der legendären Zeitschrift Bifur. Zu lesen sind des weiteren ein umfangreicher Artikel über die norwegische Musikszene und das experimentelle Label Rune Grammofon und ein Porträt des Schauspielers und Regisseurs Jacques Perrin (mehr).

Haaretz (Israel), 30.04.2004

Sehr ernsthaft widmet sich Haaretz diese Woche dem Humor in der israelischen Gesellschaft. Sarah Blau wagt sich an das in dieser Hinsicht größte Tabu: Witze über den Holocaust, welche die Öffentlichkeit häufig verstören und für die meisten Überlebenden unerträglich sind. Der Satiriker Guy Meroz sieht dagegen auch im schwärzesten Humor eine Möglichkeit, sich dem Unfassbaren zu nähern: "Natürlich ist nichts lustig am Holocaust, aber jemand, der sich mit Humor beschäftigt, thematisiert extreme Dinge, und weil der Holocaust etwas so absolut Extremes ist und gleichzeitig so dominierend in unserem Leben, spricht man auch darüber. Ob das mit gutem oder schlechtem Geschmack geschieht, ist eine andere Frage, aber vor allem geht es hier um einen Versuch zu verstehen, und das tue ich mit meinen Mitteln als Satiriker." Arik Glasner fragt in einem weiteren Artikel nach dem Humor in verschiedenen politischen Lagern Israels und bezeichnet den besonders in Deutschland hochverehrten Efraim Kishon (mehr hier) als den "größten Satiriker, den die israelische Rechte hervorgebracht hat."

Außerdem: Orthodoxe Juden demonstrieren gegen die Anwesenheit von messianischen Juden (die an Jesus glauben) in der israelischen Stadt Arad. Uri Klein fühlt sich der Generation verbunden, die Bernardo Bertolucci in "Die Träumer" porträtiert, ist aber von der Oberflächlichkeit des Films enttäuscht. Aviva Lori ist dagegen begeistert von Lia Nirgads Buch "Winter in Qalandiya" über israelische Checkpoints in der Westbank. Im wöchentlichen Porträt eine Familie mit schwierigem Namen: Die Bunkov-Snegoshchenkos, die 1999 von Russland nach Israel einwanderten.
Archiv: Haaretz

Spiegel (Deutschland), 03.05.2004

Brigitte-Chefredakteur Andreas Lebert beweist in einem Interview aus Anlass des 50. Geburtstages der Brigitte, dass es Perspektiven gibt, aus denen betrachtet die Welt sich seit 1954 eigentlich nicht groß verändert hat: "... ein gutes Männermagazin (wird) sich mit Autos beschäftigen, weil Männer Freude an Autos haben. Und in Frauenzeitschriften geht es um Mode, Kosmetik und Küche, weil Frauen daran Freude haben."

Außerdem: Christoph Dallach berichtet vom Siegeszug des digitalen Musik-Players: "Für Apple ist der iPod, im Herbst 2001 auf den Markt gebracht, der bislang wohl größte Coup der Firmengeschichte." Pro-Sieben-Sat1-Eigner Haim Saban erklärt im Interview, was er wirklich unfair findet: "ARD und ZDF kriegen jährlich und völlig ohne Risiko sensationelle 6,5 Milliarden Euro an Gebühren. Und dazu noch 400 Millionen aus der Werbung. Das finde ich inakzeptabel." Hartmut Plamer berichtet von den Wahlkämpfen Gesine Schwans und Horst Köhlers - die die beiden Bundespräsidentschaftskandidaten natürlich nicht so nennen wollen. Und Dietmar Hawranek beschreibt die Folgen des Machtkampfes bei Daimler Chrysler.

Im Print: Ein Essay von Leon de Winter "über Europas Seele". Ein Gespräch mit Außenminister Joschka Fischer "über Irak, Europa und die Wende in der Finanzpolitik". Und es wird berichtet, wie der "eigensinnige" Walter Kempowski "von Jungliteraten hofiert" wird.

Im Titel geht es diesmal um die wachsende Bedeutung von Söldnern - im Irak, wo ihnen angeblich das Verhören Gefangener aufgetragen wurde - und anderswo.
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 02.05.2004

Im heutigen Deutschland, schreibt Gabriel Schoenfeld, begreife man sich zunehmend als Opfer des Nazi-Terrors, und nicht als Tätervolk. Die Zerstörung Dresdens durch alliierte Bomber am 13. Februar 1945 spiele bei der gewandelten Sicht auf die eigene Vergangenheit eine prominente Rolle, spätestens seit Jörg Friedrichs "Der Brand". Frederick Taylor widerspricht in seiner Studie "Dresden" (erstes Kapitel) nun der These, dass die Bombardierung unnötig und grausam war, weil Dresdens Bevölkerung unschuldig und die Elbmetropole darüber hinaus weder von strategischer noch kriegswirtschaftlicher Bedeutung war. Außerdem habe das Bombardement nur höchstens 40 000 und nicht 100 000 Menschen das Leben gekostet, und auch Leben gerettet. Schoenfeld überzeugt in seiner Besprechung vor allem dieser Aspekt. "Nur Tage vor dem Angriff erhielten die wenigen übriggebliebenen Juden - bisher durch ihre Ehe mit Ariern verschont - den Deportationsbefehl. Am 16. Februar sollten sie nach Auschwitz gebracht werden. Unter den durch die Brandbomben der Alliierten geretteten Juden war auch der Chronist Deutschlands im Krieg, Victor Klemperer, der mit seinem Manuskript überlebte."

Im Aufmacher empfiehlt John Dust den letzten Roman des im Dezember verstorbenen John Gregory Dunne: "Nothing Lost" erzähle von einem schwarzen Drifter, seinen Mördern und einem publicity-hungrigen Supermodel, mit einem Finale, das Dust nicht weniger als "superb" findet.

Im New York Times Magazine geht der Historiker und Philosoph Michael Ignatieff der Frage nach, ob die USA den Kampf gegen den Terror verlieren können, wie eine solche Niederlage aussehen könnte und wie groß das kleinere Übel sein darf, mit dem man das größere bekämpfen will. Zum Schluss plädiert er: "Wir müssen unseren Glauben an die Freiheit behalten. Wenn Terroristen konstitutionelle Demokratien angreifen, beabsichtigen sie damit, Wähler und Gewählte zu überreden, dass die Stärke dieser Gesellschaften - öffentliche Debatten, gegenseitiges Vertrauen, offene Grenzen und konstitutionelle Begrenzungen exekutiver Macht - Schwächen sind. Wenn Stärken als Schwächen angesehen werden, können sie leicht abgeschafft werden. Wenn das die Logik des Terrors ist, dann müssen die demokratischen Gesellschaften neuen Glauben finden, dass ihre scheinbare Verwundbarkeit eine Form der Stärke ist. Dafür braucht es nichts Neues oder Besonderes. Es bedeutet lediglich, dass diejenigen, die für die demokratischen Institutionen verantwortlich sind, ihre Arbeit machen. Wir wollen CIA-Mitarbeiter, die verstehen, dass die Hunde des Krieges gebraucht werden, aber an die Leine gehören. Wir wollen Richter, die verstehen, dass die nationale Sicherheit keine Carte blanche für die Aufhebung individueller Rechte ist, eine freie Presse, die weiterhin fragt, wo die Gefangenen sind und was mit ihnen gemacht wird."

Unter der Überschrift "The German Question" beschreibt Richard Bernstein die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA seit dem 2. Weltkrieg, schildert die Gründe für die Eiszeit, die der Irakkrieg mit sich brachte, zeichnet für seine amerikanischen Leser ein kurzes, nicht uncharmantes Porträt Joschka Fischers und überlegt schließlich, wie sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern in Zukunft gestalten könnten: "Das Ende des Kalten Krieges und die Wiedervereinigung Deutschlands haben zu Veränderungen geführt. Ein langsamer, aber stetiger Prozess führt zu dem, was die Deutschen ein normales Land nennen, ein Land wie andere, obwohl die Deutschen zu verstehen scheinen, dass die bloße Tatsache, dass sie normal zu sein wünschen, bedeutet, dass sie es zumindest in einigen Dingen nicht sein können." Für Bernstein ist klar, dass in Zukunft die EU für Deutschland eine mindestens so große Rolle spielen wird wie bisher die Vereinigten Staaten. Aber dies, meint er, ist der unvermeidliche Preis, den die USA für einen "der größten Triumphe" der amerikanischen Außenpolitik bezahlen müssen: "die Formung eines friedlichen, demokratischen, vereinigten Deutschlands".
Archiv: New York Times