Magazinrundschau

Sind wir keine Männer?

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
31.05.2011. Wer rappt wie Jelinek schreibt, soll auch als Künstler gelten, fordert New Inquiry. In der LRB erklärt Mark Johnston, wie man auch als Atheist oder so nach dem Tode weiterleben kann. In Telerama fordert Jeremy Rifkin mehr globale Sympathie. Es ist nicht weise, sinnlose Politikerreden zu interpretieren, meint Elet es Irodalom. Es ist nicht weise, Politik in apokalyptischen Kategorien zu erleben, meint Polityka. In GQ erklärt der ägyptische Blogger Sandmonkey seine "Kleiner Penis Theorie" für den Nahen Osten. Nieder mit dem Patriarchat, fordern junge Ägypter in der NYT.

Vanity Fair (USA), 24.05.2011

Das durchschnittliche Einstiegsalter für Prostituierte liegt in Amerika derzeit bei 13 Jahren, berichtet Amy Fine Collins in einer epischen online-Reportage für Vanity Fair. Und die Zahl steigt kontinuierlich. Collins beschreibt am Beispiel zweier Mädchen, wie der Frauenhandel abläuft - in Details, die man liebsten gar nicht wissen wollte. Das schockierendste an der Geschichte sind die Zuhälter und Kunden, die in einem Mädchen nichts als ein Stück Fleisch sehen. Die Psychologin "Melissa Farley glaubt, dass 'wir was den Frauenhandel angeht immer noch im Mittelalter leben, denn anders als Inzest, Vergewaltigung und häusliche Gewalt generiert der Frauenhandel massive Einnahmen - 32 Milliarden Dollar im Jahr weltweit.' Wie könnte es auch anders sein, fragt Dr. Sharon Cooper, wenn Lee Iacocca auf dem Golfplatz Abschläge übt mit Snoop Dogg, einem Rapper, der sich selbst als Ex-Zuhälter bezeichnet und Oden komponiert auf verprügelte Frauen oder 'breaking bitches' [lyrics]".
Archiv: Vanity Fair

New Inquiry (USA), 18.05.2011

Was Snoop Dogg angeht, würde Malcolm Harris auf den Vorwurf von Sharon Cooper antworten: Warum wird Schriftstellern zugestanden, dass ihre Hauptpersonen literarische Erfindungen sind und nicht Spiegelbilder des Autors, Rappern wie dem Kollektiv "Odd Future Wolf Gang Kill Them All" dagegen nicht? "Der Roman der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek über Teenager im Nachkriegsösterreich, 'Die Ausgesperrten', liest sich genau wie ein Wolf Gang Song, aber niemand behauptet, sie teile die Pathologien ihrer Charaktere. In ihrem kargen Stil erzählt Jelinek die Geschichte von Rainer, einem unsicheren, aber schlauen Jugendlichen, und seinen drei Freunden, die Fremde verprügeln und ausrauben und von einer kranken, ererbten sexuellen Logik gequält werden ('Es soll weh tun, denn gut ist die Perversion, nicht was alle anderen machen.') Am Ende des Romans schlachtet Rainer seine Familie mit einer Axt und einem Gewehr ab. Es gibt bei Jelinek so wenig Erlösung wie bei Wolf Gang und auch nicht weniger Gewalt. An bestimmten Stellen kann der Leser zwischen den Autoren hin- und her switchen ohne es groß zu bemerken: 'Ich zeige dir, wo du Gott finden kannst, nicht im Himmel, nein, in mir, ich ramm es dir rein, bis es dir aus dem Mund wieder rauskommt.' Jeder Highschool-Student, der eine Kurzgeschichte mit dieser Zeile präsentieren würde, würde sich sehr schnell beim Therapeuten wiederfinden."
Archiv: New Inquiry
Stichwörter: Jelinek, Elfriede, Pathologie

Eurozine (Österreich), 25.05.2011

Heimat hat sie nicht mehr, sagt Herta Müller in einem in Bukarest geführten Gespräch mit Gabriel Liiceanu in Dilema Veche (auf englisch übersetzt auf Eurozine): "Alle Deutschen, die einst in Rumänien lebten, sind nun irgendwo anders in der Welt. Manchmal schmerzt es mich, aber dann denke ich wieder, das ich Glück hatte. Ohne Zweifel war es Glück, Rumänien verlassen zu haben. Ich weiß nicht, was ich in Rumänien noch hätte tun können. Ich weiß nicht, ob ich heute hier wäre und Bücher geschreiben hätte. Und doch bin ich manchmal traurig, dass mein Glück eine Abwendung von Unglück war."

Und noch eine weitere Übernahme aus Dilema Veche in Eurozine: Andrei Plesu unterhält sich, ebenfalls in Bukarest, mit Adam Michnik, der ein Ende der Aufarbeitung von Vergangenheit fordert. Kritik an Intellektuellen, die keinen Widerstand gegen die kommunistischen Regimes leisteten, lehnt er in einer indirekten Antwort auf Herta Müller ab: "Das ist eine bolschewistische Attitüde. In Russland gibt es eine Menge Leute, die so argumentieren. Warum wurde Solschenizyn verhaftet? Wegen seines Antikommunismus? Nein, weil er ein Trotzkist war. Und wie unterscheidet sich Trotzkismus von Kommunismus? Gar nicht. Warum sollten wir Solschenizyn also respektieren? Sacharow? Er hat die Atombombe gebaut!"
Archiv: Eurozine

Outlook India (Indien), 06.06.2011

Die Titelgeschichte gilt einer Generation neuer Bollywood-Protagonisten, die sich von Helden der Vergangenheit stark unterscheiden. Sie spielen Rollen, die näher an gewöhnlichen Menschen sind als die überlebensgroßen Figuren der früheren Superstars. Die Regisseurinnen und Regisseure, Komponisten und Kameraleute haben ganz andere Horizonte als ihre Vorgänger. Namrata Joshi fasst das Neue in ihrem großen Überblick so zusammen: "Was diese Newcomer auszeichnet, ist ihre mit einer Leidenschaft fürs Kino verbundene Professionalität. Sie kennen sich alle bestens aus im Kino. 'Sie habe Filme aus allen Weltteilen gesehen und dann eine eigene Sprache entwickelt. Sie entwickeln die Grammatik unseres Kinos weiter', meint der als Regisseur und Produzent bereits etablierte Anurag Kashyap. Bisher fasste man in der Industrie vor allem mit Hilfe von Familienverbindungen Fuß - für die meisten der Newcomer gilt das nicht mehr. Die Mehrzahl hat keinerlei Bollywood-Hintergrund, stammt aus Mittelschicht-Familien mit Bildungshintergrund und kommt aus entlegenen Ecken des Landes wie Madhepura und Hazaribagh."
Archiv: Outlook India

Polityka (Polen), 27.05.2011

Nicht die polnische Bevölkerung ist zutiefst gespalten, sondern die polnische Elite, schreibt Robert Krasowski. Die Intellektuellen kamen nach 1989 nicht aus ohne Katastrophenszenario: "Die reale Politik - also die verschiedenen Regierungen, Parteien, Abgeordnete - ignorierte diese neurotischen Visionen. Aber in der öffentlichen Debatte, also in den Diskussionen, die die Eliten untereinander führten, begannen diese Katastrophen-Visionen, den Ton anzugeben. Ausgelöst haben das Adam Michnik und Jaroslaw Kaczynski, zwei charismatischen Gestalten, die sich die Position von meinungsbildenden Köpfen erkämpft hatten. Also Positionen von Menschen, die nicht nur die Politik gestalten, sondern auch die öffentliche Meinung über die Politik. Die beiden Männer unterscheiden sich fast in allem voneinander, doch der generelle Ton ihrer Botschaften war erstaunlich ähnlich. Beide lehrten ihre Sympathisanten, die Politik in apokalyptischen Kategorien zu erleben. Beide pflanzten ihnen eine beinahe metaphysische Unruhe bezüglich des weiteren Verlaufs der Dinge ein." Und das, so Krasowksi, setzt sich bis heute fort.
Archiv: Polityka

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.05.2011

Während vor zehn Jahren "nur" der mangelnde Wahrheitsgehalt das zentrale Merkmal in den Ansprachen ungarischer Politiker war, so entbehren diese Reden mittlerweile jeglichen Sinn. Denn was keinen Sinn ergibt, kann man auch nicht verstehen, und was man nicht versteht, muss man eben glauben. Ganz besonders gilt das für den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, der beispielsweise (im Zuge der Verstaatlichung der privaten Rentenbeiträge Ende 2010, mehr dazu hier) behauptet hatte, "die ungarischen Rentner vor den Börsenhaien gerettet" zu haben. Der Zweck solcher vollkommen sinnloser Äußerungen ist, die väterlichen und gar überirdischen Kompetenzen des Führers zu unterstreichen, meint der Philosoph und Kommunikationswissenschaftler Imre Valcsicsak: "Wenn nun Viktor Orban vollkommen sinnlose Sätze sagt, hat dies eine ganze Reihe wichtiger Konsequenzen: Vor allem ist es nicht weise, seine Äußerungen zu interpretieren. Es ist nicht weise, ihn beim Wort zu nehmen oder sich damit zu beschäftigen, ob seine Behauptungen wahr sind oder nicht. Es ist auch nicht weise, gegen die Verwirklichung seiner Worte anzukämpfen. Weise ist meines Erachtens vielmehr, die eigentliche Funktion seiner Sätze zu finden und darauf hinzuweisen, was er mit diesen sinnlosen Sätzen bezweckt. Weise ist, gegen den Führerkult auf jede mögliche Art und Weise aufzutreten."

London Review of Books (UK), 02.06.2011

Der in Princeton lehrende Philosoph Mark Johnston ist auf all jene, die idolatrisch Götter verehren, nicht gut zu sprechen. Dennoch erklärt er in gleich zwei Büchern, die sein britischer Kollege Galen Strawson fasziniert vorstellt, wie man den eigenen Tod überleben und ein naturalistische Vorstellung von Gott retten kann. Das Argument ist gewöhnungsbedürftig und funktioniert essenziell ethisch: "Die Einzelheiten des Berichts sind recht kompliziert und unterschieden werden drei verschiedene Stämme: die "Überwinterer", die "Teletransporteure" und die "Menschlichen Wesen". Die Kernidee ist jedoch einfach und Johnston findet für sie "gewaltige Unterstützung in allen Großreligionen", die ihrer endemischen Idolatrie zum Trotz korrekte ethische Ideen vertreten. Das Erlangen des guten Willens ist eine Frage dessen, was im Buddhismus anatta heißt - die vollständige Auflösung des egoistischen eigenen Selbst. Der gute Wille ist "eine Disposition, die legitimen Interessen eines jeden gegenwärtigen oder zukünftigen Individuums in die eigene Handlungsperspektive zu übernehmen, so dass diese anderen Interessen ganz genauso viel zählen wie die eigenen". Wer das tut, erlangt einen wahren guten Willen und wird in allen zukünftigen Menschen mit legitimen Interessen fortleben."

Weitere Artikel: Ganz im Gegensatz außerordentlich erdverbunden und detailorientiert fällt Neal Aschersons Bericht von seinem Besuch in der schottischen Heimat nach der jüngsten Wahl und vor der vom triumphalen Wahlsieger SNP versprochenen Abstimmung über die Unabhängigkeit aus. Ross McKibbin macht sich Gedanken über die bei schwer gebeutelte britische Regierungspartei LDP - und vor allem ihren Vorsitzenden Nick Clegg. Michael Wood bespricht Band IV der Prosaausgabe der Werke von W.H. Auden. Die in der Wellcome Collection zu sehende Ausstellung "Dirt: The Filthy Reality of Everyday Life" hat Peter Campbell besucht.

El Pais Semanal (Spanien), 29.05.2011

Ignacio Cembrero interviewt den tunesischen Islamisten-Führer Rachid al-Ghannouchi, der im Januar nach 20 Jahren Exil nach Tunesien zurückgekehrt ist und bei den für den 24. Juli angesetzten Parlamentswahlen für seine Partei Nahda (mehr in der NZZ) einen Stimmenanteil von 30 Prozent erwartet: "'Ihre Gegner werfen Ihnen Doppelzüngigkeit vor, ihnen zufolge glauben Sie selbst nicht an das, was Sie sagen.' - 'Sie arbeiten nicht mit Argumenten, sondern mit Unterstellungen. Darin ähneln sie Ben Ali. Er hat sich der Polizei bedient. Unsere jetzigen Gegner bedienen sich der Medien. Ich verlange, dass man uns nach unseren Taten beurteilt. Wir sind eine gewaltfreie Bewegung und setzen uns dafür ein, dass auf den Kandidatenlisten für die Wahlen ebenso viele Männer wie Frauen stehen.' - 'Das heißt, Sie werden auch die Regelung respektieren, die seit 1956 in Tunesien für Männer und Frauen nahezu die Gleichberechtigung vorschreibt?' - 'Ja. Sehen Sie, ich habe vier Töchter, alle haben viele Jahre studiert, in Quebec, Cambridge, der Londoner Universität. Sie arbeiten und forschen in angesehenen Institutionen. Eine von ihnen, Soumaya, liefert regelmäßig Beiträge für den Guardian.' - 'Gibt es für Sie ein Vorbild?' - 'Die Türkei unter der Regierung der AKP. Mein Traum ist es, Tunesien in ein Modell für die Verbindung von Islam und Moderne zu verwandeln.'" Eine wenig beruhigende Vorstellung gleichwohl für Salah Zghidi, Führungsmitglied der tunesischen Menschenrechtsliga: "Irgendwann werden die anfangen, sich in mein Privatleben einzumischen, und mir vorwerfen, dass ich zu Hause Wein trinke und schwule Freunde habe - dann werde ich mich nach der Diktatur von Ben Ali zurücksehnen, das können Sie mir glauben."
Archiv: El Pais Semanal

Espresso (Italien), 27.05.2011

Silvio Berlusconi ist nach den Kommunalwahlen auf dem absteigenden Ast. Reicht es zum Rücktritt? Umberto Eco versucht mit beißendem Spott nachzuhelfen. Dabei nennt er ihn im ganzen Artikel nicht einmal beim Namen. Er zitiert einfach aus Jonathan Swifts "Kunst der politischen Lüge": "Wie auch der schlechteste Autor seine Leser hat, so gibt es immer welche, die auch dem größten Lügner Glauben schenken. Oft reicht es schon, dass eine Lüge nur eine Stunde klang geglaubt wird, dann hat sie ihren Dienst getan und es braucht keine zweite (...) Wenn die Leute merken, dass sie übers Ohr gehauen wurden, ist es schon zu spät (...) die Geschichte hat das gewünschte Ergebnis gebracht." Ecco selbst bringt das Beispiel eines Autohändlers, der einem Mann ein Modell erst als rasanten Flitzer anpreist. "Als er sieht, dass die Ehefrau, Schwiegermutter und die zum Gucken dazukommen, wird er sofort bemerken, dass der Wagen andererseits sehr ruhig auf der Straße liege und andererseits so spursicher sei, dass man kaum noch lenken müsse. Und außerdem: Wenn Sie ihn kaufen, gebe ich Ihnen die Fußmatten obendrauf."
Archiv: Espresso

Slate.fr (Frankreich), 30.05.2011

Recht kundig schildert Jacques Attali, ehemals Berater Mitterrands und auch nicht mehr der Jüngste, den Machtkampf zwischen Facebook und Google und kommt zu dem Schluss: "Noch ist nichts entschieden: Amazon setzt wichtige Zeichen im Cloud computing. Microsoft hat Skype gekauft. Apple konzentriert sich auf den Premiumbereich. Twitter könnte ein unabhängiger Pol der Entwicklung werden." Und alles steuert auf Attalis letzten Satz zu, die trockene Pointe des Artikels: "Europa ist in diesem Spiel natürlich abwesend."
Archiv: Slate.fr

Guardian (UK), 28.05.2011

Der britische Schriftsteller Hari Kunzru macht in einem großen Porträt noch einmal sehr deutlich, was die Verhaftung Ai Weiweis für die Kunstwelt bedeutet: "Man stelle sich die verblassten britischen Celebrities der 1990er Generation Sensation vor, oder die New Yorker Kunstmarkt-Titanen, die in 3.000-Dollar-Anzügen malen, wie sie ihr Geld und ihren Ruhm nutzen, um Korruption anzuprangern und eine Stimme der Ohnmächtigen zu werden", spottet Kunzru und meint: "Ais Internierung ist, unter anderem, ein Moment der Wahrheit für die internationale Kunstwelt, ein Äquivalent zu den moralischen Tests, bei denen Technologie-Firmen wie Cisco und Yahoo so übel durchgefallen sind, als sie die schwindelerregenden Gewinnaussichten des chinesischen Marktes vor Augen hatten. Die Spieler im Geschäft der zeitgenössischen Kunst - Galeristen, Sammler, Kuratoren, Auktionäre und Künstlerkollegen - lieben die radikale Pose so sehr wie sie davor zurückscheuen, Geld auszuschlagen. Jetzt müssen sie entscheiden, zu welchen Risiken sie bereit sind, um einen der ihren zu verteidigen."

Nach Lektüre von Simon Reynolds' "Retromania" gibt Dave Haslam die Hoffnung auf, dass den Jungen von heute noch einmal etwas Neues einfällt: "Früher war es vielleicht mal möglich zu glauben, dass Kultur und Gesellschaft evolutionär voranschreiten und sich zu einer aufregenderen Zukunft entwickeln. Doch die Hipster von heute träumen nur von vergangenen Generationen und kombinieren ihre engen Postpunk-Jeans mit der neuesten Version des 1984er 'Frankie says Relax'-T-Shirt aus der Fußgängerzone." Tja, die echten Hipster tragen heute eben Badeschlappen und gründen Facebook.

Weiteres: Großes Lob spendiert der Autor John Burnside den Erinnerungen Roger Garfitts an Englands feudales Landleben "A Horseman's World": Selten sei Wahnsinn so gut aus erster Hand geschildert worden. Und Owen Hatherley empfiehlt nachdrücklich die Reihe "Russian Film Pioneers" im British Film Institute, die einmal mehr zeige, dass das sowjetische Kino keine "grimmig-bürokratische, jargonbeladene Angelegenheit von 'boy meets tractor'" sei.

Hier der Anfang von Boris Barnets "Okraina" von 1938:


Archiv: Guardian

Telerama (Frankreich), 26.05.2011

In einem Gespräch erläutert der amerikanische Soziologe Jeremy Rifkin seinen Begriff einer globalen Empathie, die das Internet gestiftet habe. "Die Revolution des Internet hat das Zentralnervensystem von zwei Milliarden Menschen miteinander verknüpft. Dank Facebook oder Twitter sind Jugendliche auf der ganzen Welt daheim in ihren Zimmern binnen weniger Sekunden angerührt vom Erdbeben in Haiti oder dem japanischen Tsunami. Aber ist diese Empathie echt? Ich habe die Solidariät mit der jungen Iranerin Neda, die bei den Demonstrationen nach den Wahlen in ihrem Land getötet wurde, als echt empfunden. Ein paar Stunden nach ihrem Tod kannte dank YouTube die ganze Welt ihre Geschichte und konnte sich mit ihr identifizieren. Das ist sie, die globale Empathie. Aber ich gebe zu, dass das Internet die Aufmerksamkeit des Einzelnen ebenso verringern wie steigern kann: Es ist eine ununterbrochene Quelle der Stimulation, aber auch der Zerstreuung, und Empathie bedarf der Tiefgründigkeit und der Aufmerksamkeit."
Archiv: Telerama

New Republic (USA), 09.06.2011

Trotz der Ereignisse in der arabischen Welt - die Anzahl der Demokratien nimmt seit 2005 kontinuierlich ab, berichtet Joshua Kurlantzick nach Lektüre zweier Studien (hier und hier). Das liegt unter anderem daran, dass sich mehrere Länder, die auf dem Weg zu einer stabilen Demokratie zu sein schienen, in Richtung autoritäre Regimes zurückentwickelt haben. Eigentlich hatte man immer darauf gesetzt, dass die wachsende Mittelklasse dies verhindern würde. Leider ist es nicht so. "Land auf Land hat sich dasselbe Muster wiederholt: Die Mittelklasse hat tatsächlich negativ auf populistische Führer reagiert, die in den Autoritarismus zu führen schienen. Statt aber darauf hin zu arbeiten, diese Führer an den Wahlurnen zu schlagen oder Institutionen zu stärken, die sie kontrollieren können, unterstützen sie Militärputschs oder undemokratische Maßnahmen." Kurlantzick beschreibt Thailand als Beispiel.
Archiv: New Republic

Gentlemen's Quarterly (USA), 01.06.2011

In einem fast hymnischen Artikel über Al Jazeera English beobachtet Michael Paterniti den Reporter Ayman Mohyeldin bei einem Treffen mit dem Blogger Mahmoud "Sandmonkey" Salem, der während der Revolution in Ägypten auch organisatorisch eine wichtige Rolle gespielt hatte. "Mohyeldin war ein Abonnent von Sandmonkeys Tweets während der Revolution, aber dies war ihre erste persönliche Begegnung. Also saßen sie für ein paar Stunden zusammen - Sandmonkey genüsslich rauchend und Kaffee schlürfend, Mohyeldin beiläufig daran abeitend, einen weiteren potentiellen Kontakt herzustellen. Es war lustig, aber es schien Konkurrenzgefühle zu geben. Sandmonkey teste seine Theorie über den Nahen Osten, die er 'Kleiner Penis Theorie' nennt und die so lautet: Die Ägypter, Machos allesamt, beobachteten die Revolution der Tunesier und sagten sich: 'Sind wir keine Männer? Scheiße, lasst uns loslegen!' Für Mohyeldin war das nicht mehr als eine Schlagzeile oder ein Tweet. 'Natürlich sind die Dinge komplizierter', sagte er. 'Natürlich', sagte Sandmonkey, 'aber am Ende vielleicht nicht sehr.'"

Außerdem: Nathaniel Penn hat seitenlang Zitate von Beteiligten an Terrence Malicks Debütfilm "Badland" eingeholt. Und Wil S. Hylton erzählt die Geschichte eines amerikanischen Deserteurs - der eigentlich gar keiner ist - in Kanada.

New York Times (USA), 29.05.2011

bIm NYT Magazine beschreibt Robert F. Worth in einem ansteckend optimistischen Artikel den Aufbruch der Ägypter. Natürlich gibt es viele Probleme - die zusammengebrochene Wirtschaft ist eins der größten - aber die Leute, mit denen er spricht, sind alle herzerwärmend unideologisch: Da ist der junge Politiker, der lernt, dass man nicht von Kairo aus Politik für die Leute auf dem Land machen kann. Da ist der junge Muslimbruder, der mit einem säkularen Linken befreundet ist. Oder der General, der bekennt, dass er keine Ahnung hat, wie er eine Verwaltung organisieren soll: "Wir wollen zurück in unsere Kasernen." Der Riss in der Gesellschaft trennt nicht Parteien oder Gruppen, sondern die, die am Patriarchat festhalen und die, die es endlich abwerfen wollen. Islam Lofti, ein junger Muslimbruder, erklärt Worth, "seiner Ansicht nach sei die jüngere Generation unzufrieden mit der paternalistischen Kultur der Muslimbrüder. 'Es ist ein System des Gehorsams', sagt er. 'Die Menschen müssen weg davon, sich nur für Fußsoldaten oder Schachfiguren zu halten. Sowohl bei den Muslimbrüdern als auch in der ganzen ägyptischen Gesellschaft lassen wir immer andere die Entscheidungen treffen. Der Sohn lässt den Vater über seinen Beruf entscheiden. Die Frau lässt den Vater ihren Bräutigam aussuchen."

Außerdem: Frank Bruni porträtiert den Filmemacher und Drehbuchautor J.J. Abrams.

In der Book Review beobachtet Adam Kirsch, dass in den letzten Jahren eine Reihe von Historikern die Rolle der Alliierten im Zweiten Weltkrieg kritischer sieht als frühere Historiker: Besonders die Person Churchills und die Bombardierung deutscher Städte wird nicht mehr umstandslos gutgeheißen. Mit großem Vergnügen hat Stacy Schiff David McCulloughs Buch "The Greater Journey" über Amerikaner in den 1830er Jahren in Paris gelesen: "Für die meisten von McCulloughs Reisenden repräsentierte Paris ein großes Erwachen - die berauschende Schönheit des Ganzen! - aber auch eine Erziehung, eine Einladung, die Welt neu zu sehen." Anthony Julius freut sich über Adina Hoffmans und Peter Coles Buch "Sacred Trash", das die Geschichte der Kairoer Geniza, jüdische Schriftstücke aus dem Jahr 800, erzählt. Jesse Sheidlower lernt aus Joshua Kendalls Biografie, dass Noah Webster, Autor des berühmten Wörterbuchs, ein ziemlich unangenehmer Zeitgenosse war, der als Kritiker unter Pseudonym gern seine eigenen Werke lobte und die der Konkurrenz niedermachte. Trolle gab es eben schon vor dem Internet!
Archiv: New York Times