Magazinrundschau

Wir sind in Belgien eingewandert

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
15.09.2015. Atlantic, der Guardian und der New Yorker besprechen Timothy Snyders neuen Band über den Holocaust, "Black Earth". In Standpoint fragt Nick Cohen angesichts des Erfolgs von Jeremy Corbyn fassungslos: Warum liebt die Linke die klassisch reaktionäre Macht? In Foreign Policy erzählt Masha Gessen, wie 2000 neue junge Polizisten den korrupten Polizeiapparat in der Ukraine ablösen sollen. Die ungarischen und tschechischen Magazine fragen: Welche europäischen Werte vertritt Osteuropa?

The Atlantic (USA), 09.09.2015

Edward Delman unterhält sich mit dem Historiker Timothy Snyder, der auf sein umstrittenes neues Buch "Black Earth" (unser erstes Resümee) und sein Hitler-Porträt zurückkommt, das teilweise in der New York Review of Books abgedruckt war. Hitler, sagt Snyder, war eine Art perverser Ökologe: "Das planetarische Niveau ist für ihn das wichtigste. Das sagt er gleich am Beginn von "Mein Kampf". Und ich war verblüfft, dass Hitler Staaten ausdrücklich als ein zeitlich begrenztes Phänomen darstellt, dass Staatsgrenzen im Kampf um die Natur fortgewischt werden. In anderen Worten: Die Anarchie, die er schafft, war im Grunde in der Theorie von Anfang da. Er sagt von Anfang an: Was wir tun müssen, ist, die Juden zerstören, all die künstlichen Gebilde wegräumen, für die die Juden verantwortlich sind."
Archiv: The Atlantic

Guardian (UK), 12.09.2015

Der Guardian lässt eine erkleckliche Reihe von AutorInnen zur Flüchtlingskrise schreiben. Orhan Pamuk erkennt die deutsche Aufnahmebereitschaft an, hofft aber auch, dass "Deutschland diese Menschen nicht so behandeln wird wie es die Türken vor dreißig oder vierzig Jahren behandelt hat: als Gastarbeiter mit temporärem Aufenthaltsstatus". Elif Shafak erklärt in Richtung der ungarischen Kamerafrau, die Flüchtlinge getreten hat: "Apathie ist kein passives Gefühl. Es erfordert stetige Anstrengung, es ist eine aktive Kraft, die von Hass, Vorurteilen und Stereotypen genährt werden muss. ... Unterdessen ist der Nahe Osten durchsetzt von religiösem Fanatismus, Sexismus und Fremdenhass. In der Türkei steckt der Mob kurdische Gebäude in Brand, kurdische Terroristen töten türkische Soldaten und der Ultranationalismus steht wieder auf. Die ungarische Kamerafrau ist nicht allein. Es gibt Tausende wie sie." Und die syrische Autorin Samar Yazbek ahnt, dass sich der Exodus aus Syrien fortsetzen wird, solange der Konflikt ungelöst bleibt: "Das Foto des Jungen Aylan ging um die Welt, während das jener Kinder, die am Giftgas erstickten, unterdrückt und aus der Erinnerung gelöscht wurde. Doch beide Bilder gehören zusammen, und die Lösung für die Tragödie des einen liegt in der des anderen." Außerdem schreiben Pankaj Mishra, Caroline Moorehead, Ali Smith, Arundhati Roy und andere.

Verschiedene Stimmen zur Flüchtlingskrise haben außerdem Granta und 3 quarks daily gesammelt.

Mit großem Interesse liest der Historiker Richard J. Evans das neue Buch seines Kollegen Timothy Snyder "Black Earth" über die Kollaboration mit den Nazis in Europa. Hier lernt er, dass staatliche Institutionen einer entgrenzten Verfolgung entgegenwirkten: "Die meisten Juden entkamen ihrer Ermordung in Belgien und Dänemark, wo die von der Monarchien geführten Institutionen des Staates weitestgehend intakt blieben, während sie es in den Niederlanden nicht taten, aus der die Monarchin und führenden Politiker geflohen waren. Ähnlich überlebten die meisten französischen Juden trotz des Antisemitismus des Vichy-Regimes den Krieg." Was Snyder dagegen über Ökologie, Klimawandel und Nahrungsbeschaffung als Triebfedern für den Holocaust schreibt, hält Evans für ziemlichen Unsinn.
Archiv: Guardian

New Yorker (USA), 14.09.2015

Auch Adam Gopnik liest mit großem Interesse Timothy Snyders "Black Earth". Etwas unbehaglich wird ihm allerdings bei Snyders wiederholtem Versuch, die osteuropäischen Staaten vom Vorwurf des Antisemitismus zu befreien. Nach Snyder war die sowjetische Expansionspolitik Schuld daran, dass einige dieser Staaten sich den Nazis zuwandten. Das ist auch eine Art, Politik zu machen, meint Gopnik: "Snyder will den Putinisten von 2015 keine Möglichkeit geben, den ukrainischen Nationalismus mit Verweis auf die ukrainische Beteiligung am Holocaust zu diskreditieren. Er will klarstellen, dass die ukrainischen Nationalisten "ebenfalls Opfer" waren. Aber sie waren spezielle Opfer und man kann ihre Emanzipation bewundern, ohne ihre Vergangenheit zu übersehen."

Weitere Artikel: Lesen dürfen wir eine Erzählung mit dem schönen Titel "My Curls Have Blown All the Way to China" von Amos Oz. Rebecca Mead hüpft von Yacht zu Yacht und beobachtet die Superreichen beim Kauf italienischer Haute Couture in Domenico Dolces Villa auf einem Hügel in Portofino. Evan Osnos protokolliert im Detail die Geschichte einer in die USA eingewanderten pakistanischen Familie, die angeklagt wurde, islamische Terroristen zu finanzieren. Lizzie Widdicombe porträtiert das Celebrity Marketing-Genie (so was gibt"s und ist auch noch ziemlich witzig) Bethenny Frankel. John Lahr porträtiert Julianne Moore als Sphinx von nebenan. Peter Schjeldahl besucht die Ausstellung "Picasso Sculpture" im Museum of Modern Art. Und Anthony Lane sah Denis Villeneuves Film "Sicario" und beklagt die schreckliche Vergeudung von Emily Blunts Talent, das einen Ben Hecht bräuchte, um sich voll zu entfalten: "What do you do with a performer who makes a kiss look as easy as a laugh, and vice versa? What you don"t do is give her a gun, erase the bloom from her cheeks, and command her, at all costs, to keep a straight and stony face."
Archiv: New Yorker

Elet es Irodalom (Ungarn), 14.09.2015

Die Flüchtlingskrise ist auch in ungarischen Medien Thema Nummer 1. György Petőcz spricht vor allem die Versäumniss der demokratischen Opposition an. "Viele von uns spüren - mangels eines besseren Wortes - die Faschisierung der Öffentlichkeit. Jedoch erkennen nur wenige die Verantwortung der demokratischen Opposition an. (...) Sie leugnete lieber die Probleme." Laut Petőcz überließ die Opposition dem Premierminister Orban die Initiative und gab darum seiner nationalistischen Rhetorik erst Raum. "Eine sachliche Rhetorik auf Seiten der Opposition, die auf die Einhaltung humanitärer Normen gepocht hätte, hätte zugleich auch entschiedene Maßnahmen rechtfertigen können. Angela Merkel forderte menschlichen Umgang mit den Flüchtlingen ein, während die deutsche Regierung die illegale Wirtschaftsmigration radikal begrenzen will. Genau so hätte die ungarische Opposition ebenfalls argumentieren können."

Cesky rozhlas (Tschechien), 09.09.2015

"Den Stacheldraht haben wir im Kopf", glaubt der Politikexperte Jiří Pehe in der Onlineausgabe des tschechischen Rundfunks Český rozhlas angesichts von Umfragen, nach denen drei Viertel der tschechischen Bevölkerung wegen der Flüchtlingskrise für eine Aufhebung der Grenzfreiheit des Schengen-Raums wären, und stellt fest: "Jede größere Krise, die wir zusammen mit der westlichen Welt angehen müssen, zu der wir seit 1989 ja formal wieder gehören, bewirkt in uns eine fast krampfartige Reaktion dahingehend, dass viele Menschen die Rückkehr in den sicheren Nationalstaat herbeisehnen. Ein Grundzug des tschechischen Postkommunismus scheint zu sein, dass viele Menschen, die einen Großteil ihres Lebens in einem kommunistischen Regime mit seinen Ritualen, Gewissheiten und kulturellen Codes verbracht haben, sich nach der Wende von 1989 de facto in einem Niemandsland wiederfanden. Sie haben zwar die Rituale der Demokratie übernommen, aber sobald sich das Leben in Freiheit als zu kompliziert und anspruchsvoll erweist, flüchten sie sich in das mentale Stereotyp des vom Stacheldraht umsäumten Landes als einem Symbol der Sicherheit."
Archiv: Cesky rozhlas

Novinky.cz (Tschechien), 09.09.2015

Auch Petr Pithart, ehemaliger Dissident und Premierminister, geht mit seinen Landsleuten im Gespräch mit Zbyněk Vlasák hart ins Gericht: "Wir wollen uns weder an Solidaritätsaktionen noch an der Überwindung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise beteiligen. Da stellt sich die Frage, ob uns überhaupt noch an den europäischen Werten gelegen ist." Natürlich sei Europa kein spezifisches Wertepaket, "Europa bedeutet die relative Freiheit des Einzelnen und verschiedener Gemeinschaften, seine Werte nach eigenen Präferenzen zu wählen. Die Entscheidung für bestimmte Werte bedeutet allerdings immer einen Konflikt. Man gibt etwas für etwas anderes. Mehr Freiheit bedeutet weniger Gleichheit. Mehr Sicherheit bedeutet einen stärkeren Staat. Niedrigere Steueren weniger soziale Sicherheit. Mehr Solidarität gewisse Einschränkungen … Wir wählen nicht Werte, sondern ihre Rangfolge. Wir geben damit eine Richtung an. Sich für Werte einzusetzen, ist immer mit Opfern verbunden. Wenn wir keine Opfer bringen wollen, bewegen wir uns nicht von der Stelle. Ich fürchte, das ist der derzeitige Stand der Tschechischen Republik. Aber auch der Europäischen Union."
Archiv: Novinky.cz

Standpoint (UK), 14.09.2015

Nick Cohen polemisiert noch einmal kräftig gegen Jeremy Corbyn und wirft ihm Sympathien für diktatorische Kleptokratien wie Russland, Venezuela und Kuba vor. Ob sich Labour da wirklich einen linken Parteichef gewählt hat? "An der Spitze einer der größten Parteien Europas steht ein Politiker, der den Polen erklärt, ihr Land habe nicht das Recht, sich selbst gegen ein expansionistisches Russland zu verteidigen. Der Mann, den ich nun wohl als den Führer der britischen Linken bezeichnen muss, verteidigt eine klassisch reaktionäre Macht. Wer seine Augen bisher offen hielt, wird nicht verwundert sein. Die Opposition zum Westen ist die erste, letzte und einzige Position, die außenpolitisch für viele Linke von Bedeutung ist. Daher rühren die desorientierenden Allianzen mit Bewegungen, die viele Sozialisten des 20. Jahrhunderts problemlos für rechtsextrem gehalten hätten."
Archiv: Standpoint

Linkiesta (Italien), 13.09.2015

Man muss seine Geschichte kennen, wenn man seine Gegenwart gestalten will, sagt der Historiker und Kolumnist Massimo Nava in einem Dossier "Über den Wert der Geschichte". Deutschland, so Nava, handele aus seiner Geschichte - daraus erkläre sich sowohl die deutsche Griechenland-, als auch die deutsche Flüchtlingspolitik. Aber Italien? "Wir sind in Belgien eingewandert, in Deutschland, in Argentinien, aber wir scheinen uns nicht daran zu erinnern, wer wir waren, was wir wollten, was wir unseren Gastgeberländern gegeben haben. Und das größte Paradoxon: Wir halten eine internationale Großmesse wie die Expo zum Thema Hunger und Ernährung ab, und wir haben nichts über die Karawanen zu sagen, die - ausgezehrt und hungrig - bei uns in Europa ankommen."
Archiv: Linkiesta

La vie des idees (Frankreich), 11.09.2015

Rafaelle Maison, Professorin für Völkerrecht in Paris, beschäftigt sich mit den Ursachen für die "blinden Flecken" französischer Historiker, was ihre Einschätzung der Rolle Frankreichs beim Völkermord an den Tutsi in Ruanda von 1994 angeht. Sie konstatiert, dass es hier eine bemerkenswerte Schüchternheit französischer Historiker gibt, die durch objektive Hindernisse noch verstärkt wird. So sind noch nicht alle Dokumente freigegeben, und es gibt rechtliche Erwägungen, weil Personen der Zeitgeschichte sich juristisch gegen "üble Nachrede" wehren können. "Es ist natürlich unangenehm, das eine historische Arbeit strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann: Historiker haben nicht unbedingt Lust, in Strafprozessen als Zeugen auszusagen, und das ist verständlich. Bestimmte strafrechtliche Formulierungen schüchtern ein und hemmen darum die Analyse. Hier geht es vor allem um die Formulierung "Mitwirkung an einem Genozid", die schwerwiegend ist, wenn sie Mitbürger betrifft. Rechtlich Erwägungen scheinen also von vornherein bestimmte Arbeitshypothesen auszuschließen."

Foreign Policy (USA), 08.09.2015

In einer wunderbaren Reportage erzählt Masha Gessen, wie die Ukraine mit Hilfe einer wunderschönen ehemaligen stellvertretenden Innenministerin aus Georgien, Ekaterina Zguladze-Glucksmann (die zudem mit dem Pariser Autor Raphaël Glucksmann verheiratet ist) versucht, in Kiew eine neue Polizei aufzubauen - mit jungen Menschen, die sich möglichst wenig mit der alten Miliz, die für ihre Korruption und Brutalität berüchtigt ist, mischen soll. Das Problem dabei: Man kann die alte Garde nicht einfach nach Hause schicken, sie macht jetzt Innendienst. "Zguladze-Glucksmann setzt ihre ganzen Hoffnungen in die 2000 neuen Streifenpolizisten und ähnliche Gruppen, die bald in anderen Städten trainiert werden sollen: "Es ist wie eine Impfung mit einem Antivirus. Sie setzen einen Standard, der den Rest des Systems beeinflusst." Aber selbst wenn überall im Land neue Streifenpolizisten ausgebildet werden, wird die alte Miliz mit ihren landesweit 32.000 Mitgliedern zahlenmäßig doch weit überlegen sein. Ist es nicht waghalsig zu glauben, eine so kleine Truppe unerfahrener junger Polizisten könne eine Institution verändern, deren Überleben davon abhängt, dass sie sich Veränderungen widersetzt?"
Archiv: Foreign Policy