Magazinrundschau

Dubravka Ugresic: Denkmal für den polnischen Klempner

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
31.07.2007. Die New York Times trifft Mertz, den ersten auf soziales Verhalten programmierten Humanoiden. Das Tygodnik Powszechny trauert um Warschaus internationalsten Ort, den Jarmark Europa, der einem neuen Fußballstadion weichen soll. Die Gazeta Wyborcza begrüßt die unvollkommenen Retter Europas. In Nepszabadsag besichtigt Gaspar M. Tamas das ausgeweidete Osteuropa. In Elet es Irodalom betrachtet Gabor Schein das postkoloniale Osteuropa. The New Republic schildert, wie sich Washingtoner Politzirkel von der türkischen Regierung bezahlen lassen. Im Nouvel Obs hält Marshall Sahlins den Irakkrieg für die irrationalste Dummheit seit dem Einmarsch der Athener in Sizilien. Im Espresso findet Jeremy Rifkin Spuren seiner ältesten Vorfahren im Rift Valley im Nordosten Afrikas. Die Weltwoche bringt ein großes Interview mit dem Menschensammler Walter Kempowski. Und im Magazin lernt Ian McEwan die Fesseln Burka-verhüllter Frauen zu lieben.

New Yorker (USA), 06.08.2007

Wie haben Anfang des 21. Jahrhunderts eigentlich Redaktionen auszusehen?, fragt sich Paul Goldberger und sah sich die entsprechenden Räume im von Renzo Piano gebauten New-York-Times-Gebäude und in der Bloomberg-Zentrale um. "Während die Times-Redaktion ein biederer, in einem architektonisch bedeutenden Gebäude versteckter Raum ist, ist die von Bloomberg das Gegenteil: eine glanzvolle Arbeitsumgebung in einem edlen, aber konventionellen Wolkenkratzer von Cesar Pelli. Zusammen mit Studios Architecture und der Design-Firma Pentagram hat Bloomberg einen Arbeitsraum geschaffen, der vor zehn Jahren nicht möglich gewesen wäre. Niemand, weder der Vorstand noch der CEO, haben ein privates Büro. Stattdessen sitzen viertausend Mitarbeiter in einheitlichen Reihen an identischen weißen Tischen mit eigens für Bloomberg gebauten Flachbildschirmen. Wenn auch der etwas größere Tisch des CEO Lex Fenwick ein wenig abseits steht, sitzt er doch nur wenige Fuß von den jungen Angestellten entfernt, die Kundenanfragen und Beschwerden handhaben."

Weiteres: Michael Specter berichtet über den "verlorenen Krieg" gegen Spam-Mails. Jeffrey Toobin schreibt über den noch immer ungeklärten Mord an dem Assistant U.S. Attorney Tom Wales 2001, der sich für eine Kontrolle des Schusswaffenverkaufs einsetzte. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "So It Is in Life" von Daniil Charms und Lyrik von D. Nurkse und Jorie Graham.

Louis Menand rezensiert zwei Bücher über das Schreiben von Biografien: "Shoot the Widow", die Erinnerungen von Meryle Secrest, der Biografin unter anderem von Frank Lloyd Wright und Leonard Bernstein, sowie "Biography: A Brief History" von Nigel Hamilton. Benjamin Kunkel porträtiert Robert Walser anlässlich dessen erst kürzlich übersetztem Roman "Der Gehülfe" ("The Assistant"). Und David Denby sah im Kino den dritten Teil des Bourne-Zyklus mit Matt Damon "The Bourne Ultimatum" und Charles Fergusons Dokumentarfilm "No End in Sight" über die amerikanische Besetzung des Irak.

Nur im Print: Berichte über den rätselhaften Rückgang an Bienen in Nordamerika und ein ziemlich hartes Golfturnier.
Archiv: New Yorker

London Review of Books (UK), 02.08.2007

James Meek bespricht ein Buch des Journalisten Jeremy Scahill über die rechtslastige amerikanische Söldnerarmee "Blackwater", die der schwerreiche Erik Prince 1998 gründete, weil ihm das amerikanische Militär zu lasch war. Sympathien für Prince entwickeln weder der Autor noch sein Rezensent: "Der Gründer und Eigner von Blackwater, der 38-jährige Erbe Erik Prince ist vor dem Gesetz kein Verbrecher. Es macht ihn nicht zum Verbrecher, dass er eine Privaterziehung genossen hat, ein tiefgläubiger römischer Katholik, ein früheres Mitglied der Spezialeinheit der US Navy und der Vater von sechs Kindern ist. Es macht ihn nicht zum Verbrecher, dass er erklärt hat: 'Das Ziel unserer Unternehmung ist, für die nationale Sicherheit das zu erreichen, was FedEx für die Post gelungen ist.' Es macht ihn nicht zum Verbrecher, dass er Teil der rechten republikanischen DeVos-Prince-Dynastie Michigans ist, die radikale evangelikale Christen finanziert, die gegen Homosexualität, Abtreibung und Stammzellforschung kämpfen."

Weitere Artikel: Michael Dobson, Professor für Shakespeare-Studien am Birkbeck College, ist sehr angetan von Nigel Cliffs Darstellung der "Astor Place Riots" - jener Ausschreitungen im New York des Jahres 1849, die sich an der Frage entzündeten, ob der Amerikaner Edwin Forrest oder der Brite William Charles Macready der bessere Macbeth-Darsteller war. John Foot erzählt die Geschichte der Entführung des mit Verfolgtenstatus in Italien lebenden ägyptischen Dissidenten Abu Omar, mutmaßlich durch italienische Geheimdienste. Nach massiven politischen Widerständen ist der Prozess verschoben worden - womöglich, befürchtet Foot, auf den St. Nimmerleinstag. Peter Campbell hat sich in der Tate Britain eine kleine Retrospektive mit Werken der Künstlerin Prunella Clough angesehen. Thomas Jones informiert über Leben, Werk und Methoden des US-Vizepräsidenten Dick Cheney, gestützt auf eine Serie in der Washington Post (hier alle vier Post-Artikel in der Übersicht).

Tygodnik Powszechny (Polen), 30.07.2007

Einer der internationalsten Orte Warschaus, wenn nicht Polens, steht vor dem Aus: Der "Jarmark Europa", ein Riesenbasar im Inneren des 10-Jahres-Stadion (hier der Film und die Serie dazu), soll schon bald einem Stadionneubau für die Fußball-EM 2012 weichen. "Noch drei Monate lang wird hier Musik aus der ganzen Welt erklingen und auf dem Feld Cricket gespielt. Ja, Cricket! - Das Spiel kam aus dem Britischen Imperium über Indien hierher, und wurde zu einer inoffiziellen Visitenkarte der Händler; ein interkultureller Sport, eine Schau, die all den Emotionen und Widersprüchen Raum lässt", schreibt Weronika Milczewska. "Der Jarmark steht für die Geburt Polens als Einwandererland".

Der polnische Maler Wilhelm Sasnal gilt als einer der aufregendsten der jungen polnischen Kunst. Der Durchbruch des "Provinzlers" steht für Adam Mazur auch für "das Verlassen des lokalen Kontextes durch mitteleuropäische Künstler, hin zu Produktionen, die weder durch Inhalt noch durch Form von der kosmopolitischen Kunst des Westens abweichen. Dabei geht es nicht um - für periphere Kulturen typische - zeitversetzte Nachahmungen, sondern um die Zugehörigkeit der Begabtesten zur Avantgarde, die die Sprache der zeitgenössichen Kunst mitbestimmen". Aber auch im Inland stehen die Zeichen günstig - durch das Förderprogramm für regionale Zentren zeitgenössischer Kunst und das ehrgeizige Projekt des zentralen Museums für Moderne Kunst.

Positives gibt es auch aus der Theaterszene zu berichten: Anna R. Burzynska freut sich, dass die Provinztheater in Legnica, Walbrzych oder Olsztyn nicht bloß den Weg des geringsten Widerstands gegangen sind - Aufführungen von Schullektüren vormittags, Farcen für die Reicheren abends -, sondern die Vielfalt der kleinen Formen entdeckt haben. "Dadurch beweisen die Direktoren, dass sie Theater für das lokale Publikum, und nicht angereiste Kritiker machen. Durch Einbeziehung von Amateuren, Lesungen, Werkstättenschauen und anderes fördern sie die natürlichsten Formen derBegegnung im Theater, wo es nicht um Effekt geht, sondern die schiere Möglichkeit der Arbeit und des Dialogs."

Gazeta Wyborcza (Polen), 28.07.2007

Die Zeiten der "Politikzaren" sind vorbei - in Europa regieren heute mit Angela Merkel, Nicolas Sarkozy und Gordon Brown "ganz und gar antipompöse Politiker", befindet sichtlich erfreut der Politologe Pawel Swieboda. "Es sind unvollkommene Politiker, die so-wie-wir sein wollen; gradlinig, ohne Hang zu Pomp und Kumpanei... Sie betreiben postideologische, konsensuale Politik; Parteien sind dabei wie Unternehmen, die durch Qualität überzeugen wollen und Staaten werden im Zentrum regiert, ohne Ausschläge nach links oder rechts." Bei allem Pragmatismus der neuen Politikergeneration gelte aber: "Merkel, Brown und Sarkozy haben eine Mission - sie wollen, wie einst Mose, ihre Gesellschaften ins gelobte Land der neuen globalen Ordnung führen, in der Wohlfahrt und Sicherheit zugleich zu haben sind. Möglicherweise werden sie das Ziel, wie Moses, nicht mehr selbst erleben. Aber sie wollen Europa und die Welt retten."

Die Schriftstellerin Dubravka Ugresic belebt den europäischen Denkmalstreit mit einem Vorschlag. Da in Mostar ein Bruce-Lee-Denkmal errichtet wurde, das serbische Dorf Zitiste mit einem Rocky-Denkmal antworten will und in Cacak ein Samantha-Fox-Denkmal geplant ist, schlägt sie vor, in zahlreichen europäischen Städten ein Denkmal des unbekannten polnischen Klempners zu bauen: "Weil der polnische Klempner zum ersten Opfer der europäischen Einigung, insbesondere Erweiterung wurde. Da aber alle angst- und hasserfüllt von ihm reden, soll er nur auf einem Sockel stehen."

Nawojka Cieslinska-Lobkowicz erinnert daran, dass vor 70 Jahren in München die Ausstellung "Entartete Kunst" eröffnet wurde, die seinerzeit einen Besucherrekord aufstellte. Zeitgleich wurde das monumentale "Haus der deutschen Kunst" eingeweiht, dessen Schau urdeutscher Bilder aber wenig Interesse auf sich zog. "Vereinzelte Versuche, den Nazismus mit einem 'germanischen Modernismus' zu verbinden, wie sie in den Zwanzigern und frühern Dreißigern Goebbels unternahm, wurden von der NSDAP vereitelt. Für die Partei war eine aggressive antimodernistische Agitation seit den 20 Jahren ein Mittel des politischen Kampfes."
Archiv: Gazeta Wyborcza

The Nation (USA), 13.08.2007

Schlimme Zeiten fürs Zeitungs-Geschäft, wenn nun schon Rupert Murdoch als Hoffnungsträger erscheint, meint Eric Alterman. Der nun wohl tatsächlich erfolgende Verkauf des Wall Street Journal-Eigners Dow Jones an Murdoch verheißt aus seiner Perspektive deshalb wirklich nichts Gutes: "Das Magazin New Republic argumentiert, dass Murdochs Übernahme von Dow Jones in einem 'entscheidenden Moment für Liberale' geschieht, 'die endlich ihre maßlose Feindseligkeit aufgeben und einen Kreuzzug für die Zeitungen beginnen sollten'. Es ist allerdings von den Liberalen recht viel verlangt, einen 'Kreuzzug' für ein Unternehmen zu beginnen, dessen Meinungsseiten sie in der Regel als Feiglinge, Verräter und Verbrecher beschimpfen. Liberale täten nichts lieber, als für die Sache der Medien zu kämpfen, wenn es um die Aufdeckung von Korruption und Mut gegenüber den Mächtigen ginge. Dafür bräuchten wir freilich Meiden, die diese Verantwortung ernst nehmen. Nach allem, was Murdochs Medien beim Whitewater-Skandal, bei Clintons Impeachment-Verfahren, der 2000er Wahl, Florida und fast jeder größeren Bush-Unternehmung geleistet haben, kommen sie dafür kaum in Frage.
Archiv: The Nation

Prospect (UK), 01.08.2007

Die Titelgeschichte dreht sich um den Niedergang der CD - und die damit einhergehende neue Bedeutung des Live-Konzerts als Geldbringer: "Es ist schwer zu belegen, dass die mit steigenden Preisen verbundene wachsende Beliebtheit von Live-Musik direkt mit dem Überfluss und der Verramschung von CDs zu tun hat. Es scheint aber kein Zufall, dass die Fans einerseits immer weniger für das, was sie zuhause hören, zahlen wollen, andererseits aber unerhörte Summen für Konzerte ausgeben. Die Ticket-Preise vor allem für die großen Namen sind explodiert. In den 80er Jahren war die Eintrittskarte für das Konzert eines Superstars etwa so teuer wie eine CD. Im letzten Sommer dagegen hätte man das Gesamtwerk von Madonna für weniger als die Hälfte des Preises kaufen können, den man für ein Ticket ihres Wembley-Konzerts zahlen musste."

Weitere Artikel: Kurz vor dessen Tod am 24. Juli hat Jules Evans noch Albert Ellis besucht und gesprochen, den überaus einflussreichen Mitbegründer der psychologischen Verhaltenstherapie. Der Philosoph Roger Scruton erklärt, dass die neuen Atheisten wie Richard Dawkins ("The God Delusion") und Christopher Hitchens die eigentliche Leistung der Religion ignorieren, nämlich die Befriedigung des menschlichen Bedürfnisses nach dem Heiligen. Abgedruckt wird ein Briefwechsel, in dem der Journalist Andrew Marr und die Autorin Joan Smith darüber streiten, ob die britische Reaktion auf Dianas Tod eine gute, weil emotional gesunde Sache war oder nur ein ungutes Spektakel.
Archiv: Prospect

Espresso (Italien), 27.07.2007

Autor Jeremy Rifkin durfte beim Genographic Project mitmachen, einer Studie von National Geographic und IBM, bei der die genetischen Spuren der Menschheit zurückverfolgt werden. "Mein ältester männlicher Vorfahre lebte vor ungefähr 50.000 Jahren im Nordosten Afrikas im Rift Valley, das heute in Äthiopien, Kenia oder Tansania liegen würde. Zu dieser Zeit lebten nur etwa zehntausend Menschen auf der Erde - alle in Afrika. Die Vorfahren auf der väterlichen Seite wanderten in den Mittleren Osten und dann nach Zentralasien, um schließlich über die Jahrtausende hinweg schließlich in Europa zu landen. Am interessantesten ist aber, dass ich meinen weiblichen und männlichen Urahnen mit jedem Menschen auf der Welt teile. Wir stammen alle von einem ursprünglichen Adam und einer Eva ab, die uns wirklich zu Mitgliedern einer einzigen menschlichen Familie werden lassen. Diese erstaunliche genetische Tatssache verändert die menschliche Perspektive grundlegend."

Außerdem wütet der unermüdliche Andrzej Stasiuk wieder einmal gegen die Kaczynski-Brüder (siehe Magazinrundschau vom 24. April und vom 16. Mai).
Archiv: Espresso

Outlook India (Indien), 06.08.2007

Mit zwei Abkürzungen muss sich abfinden, wer Outlook India in dieser Woche studieren will: SRK und BPO.

SRK ist hier bekannter. Es steht für Shah Rukh Khan, den ersten international berühmten Bollywood-Star, dessen Schmonzetten hierzulande auch in den Privatsendern laufen. Anupama Chopra hat eine laut Meghnad Desai lesenswerte Biografie über ihn vorgelegt. Indien schäme sich ja inzwischen nicht mal mehr seiner Cricketspieler, schreibt Desai, aber "SRK ist doch inzwischen unser Größter, der Mann der Globalisierungsära, als Indien zum New Kid on the Block wurde. Nachdem wir die Welt jahrhundertelang mit unserer moralischen Arroganz und dazugehöriger Inkompetenz nervten, sind wir Inder inzwischen eine Erfolgsgeschichte: bites, Bollywood und beauty queens."

Und was heißt BPO? "Business Process Outsourcing". Mit dieser schönen Tätigkeit stieg Indien in der Globalisierung jüngst auf. Outlook India bringt ein selbstkritisches Gespräch einiger Protagonisten, die sich fragen, ob Indien nun die zweite Phase schafft, die Entwicklung eigener Ideen nach der Übernahme von Tätigkeiten in einem bloßen Outsourcing-Prozess. "Wir brauchen einen starken Heimatmarkt, und den haben wir noch nicht", sagt Arjun Malhotra von der Firma Headstrong. "Aber da dieser Markt wächst, werden sich neue Gelegenheiten ergeben, und nach und nach können wir Produkte entwickeln, die vom indischen Markt aus exportierbar sind."
Archiv: Outlook India

Nepszabadsag (Ungarn), 30.07.2007

Die neoliberale Politik der Transformation hat die Volkswirtschaften in Ostmitteleuropa zerstört und die Region zum Spielfeld westeuropäischer Konzerne gemacht, schreibt der Philosoph Gaspar M. Tamas: "Die osteuropäischen Volkswirtschaften sind ausgeweidet, Landwirtschaft und Großindustrie zerstört. Die Wettbewerbsfähigkeit wurde als ein Wettkampf aufgefasst, welches Land die meisten multinationalen Unternehmen, die neuen Großgrundbesitzer unserer Zeit, mit den niedrigsten Steuern, den billigsten Krediten, den niedrigsten Löhnen und der längsten Arbeitszeit anlocken kann. Die gesamte Region ist durch Liberalisierung und Deregulierung gegenüber den finanzstärkeren Konkurrenten aus dem Westen wehrlos geworden. Jetzt blicken wir auf ein Trümmerfeld: In der Gesellschaft sind Enklaven entstanden, die von Langzeitarbeitslosigkeit über mehrere Generationen hinweg und von höchster Not geprägt sind." Statt zu protestieren, reagieren die Menschen mit "pathologischen Fluchtreaktionen", konstatiert Tamas: Sie zerstören ihre Gesundheit, weigern sich, Kinder zu bekommen, nehmen enorme Kredite aus, arbeiten schwarz oder wandern aus.

Der US-Abgeordnete und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschuss des Kongresses Tom Lantos hat in einer Rede vor dem Kongress behauptet, die USA hätten nach 1989 die Ostmitteleuropäer vernachlässigt und sie dem Einfluss Russlands überlassen, was Populismus, Antisemitismus und Antiamerikanismus in der Region gefördert habe. Endre Aczel entdeckt in diesen Worten die Logik des Kalten Kriegs: "Die Amerikaner interessieren sich nicht dafür, ob die Wende in Ostmitteleuropa gelungen ist, sondern nur dafür, zu welchem Lager sich die Ostmitteleuropäer bekennen. Die Ostmitteleuropäer sollen Ja zum US-Raketenabwehrsystem sagen und Nein zu Gazprom, nur darum geht es. Wir werden immer noch in Schemata gedrängt, die aus den Zeiten stammen, als wir noch Satellitenstaaten der Sowjetunion waren."
Archiv: Nepszabadsag

Elet es Irodalom (Ungarn), 27.07.2007

Ostmitteleuropa befindet sich heute in einem postkolonialen Zustand, schreibt der Schriftsteller Gabor Schein. Ungarn habe, von einigen Unterbrechungen abgesehen, seine gesamte Geschichte von 1541 bis 1989 als Kolonie oder Halb-Kolonie verbracht. Und wie die ehemaligen Kolonien der Dritten Welt von der Unabhängigkeit enttäuscht wurden, blieben auch die Hoffnungen Ostmitteleuropas nach 1989 unerfüllt, "dass sie souverän regiert werden können, ihre Wirtschaft schnell wächst, ihre Kultur wieder aufblüht und dass sie wirtschaftlich weniger ausgeliefert sein werden. Die Folge waren eine nostalgische Sehnsucht nach Kolonial-Regime und nach den charismatischen Anführern der Wende, Unsicherheit und Ungeduld, Politikverdrossenheit, Unzufriedenheit mit der Bürokratie, dem Militär und der Presse, aber vor allem die ernüchternde Erkenntnis, dass die Welt viel komplexer ist, als man während der mit einer sehr einfachen Formel funktionierenden Kolonialzeit dachte."

In Ungarn dürfen geheime Akten aus der Zeit des Kommunismus heute immer noch nur vom Geheimdienst selbst eingesehen werden. In Sachen Vergangenheitsaufarbeitung hinkt Ungarn allen anderen osteuropäischen Ländern um Jahre hinterher. Ab sofort sorgt eine neue Expertenkommission dafür, dass nicht nur die Namen von Spitzeln und ihren Opfern, sondern auch von höheren Beamten endlich öffentlich werden, schreibt der ehemalige Dissident, Mitbegründer der ungarischen Charta-77 und Leiter der Kommission Janos Kenedi. Die Einberufung des Ausschusses sei eine Reaktion "auf gesellschaftliche Deformierungsprozesse in einem Rechtsstaat. Der Fundamentalismus des Datenschutzes verdrängte den Anspruch auf Zugang zu Informationen im einschlägigen Gesetzestext von 1992 weg. Wenn diese Praxis fortgesetzt wird, könnte sie den demokratischen Rechtsstaat gefährden, weil die Presse nur heftige Worte und Vermutungen über die neueste Geschichte und die Gegenwart anstellt, statt Fakten zu veröffentlichen."

DU (Schweiz), 01.08.2007

Das aktuelle Heft widmet sich dem bedeutendsten Schweizer Filmfestival: "Locarno zum Beispiel". Am Einzelfall wird aber das Ganze des Kinos zum Thema, daher auch der Untertitel: "Das Kino und sein Ort". Online sind drei Texte freigeschaltet. Einer davon stammt vom langjährigen Du-Kolumnisten, dem Filmregisseur Jörg Kalt ("Crash Test Dummies") - der sich am 1. Juli das Leben genommen hat.

Hier ein Auszug aus Kalts Locarno-Text, in dem es ziemlich grundsätzlich um Festivals geht: "Festivals, und das wissen vor allem Regisseure, deren Filme im Kino schlecht besucht werden, sind wichtig. Primär fürs eigene Wohlbefinden, Festivalpublikum ist meist sanft in seiner Kritik, relativ pflegeleicht und oft dankbar betrunken. Je größer das Festival desto vorteilhafter für den Film, einfache Regel. Verkäufe ins Ausland werden abgeschlossen, man lernt Gleichgesinnte kennen, redet über Wong Kar-wai oder Wim Wenders und sitzt den ganzen Tag im Kino. Das ist, kurz gesagt und unter uns, unglaublich langweilig."

In einem weiteren Text denkt der Schriftsteller und Filmemacher Michael Roes in zwanzig Punkten über das Verhältnis von Poesie und Film nach.

Im Heft der Nachdruck einer Kolumne von Jörg Kalt aus dem Jahr 2002, im Editorial ein kurzer Nachruf: "Seine 'Noch nicht gedrehten Filme' sind Kabinettstücke des Schwarzen Humors, seine gedrehten, nebenbei, unbedingt zu empfehlen."
Archiv: DU

New Republic (USA), 26.07.2007

Michael Crowley ist empört, wie sich einige Washingtoner Zirkel von der türkischen Regierung kaufen lassen, um den Völkermord an den Armeniern herunterzuspielen: "In den vergangenen Jahren haben sich Abgeordnete, Lobbyisten und ausländische Emissäre in einem harten Kampf um eine Kongress-Resolution verfangen, die offiziell die Massakrierung von bis zu 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich als Genozid betrachtet. Die türkische Regierung verficht ihr Ziel mit dem Eifer eines Atatürks - wobei sie ebenso eine Multimillionen-Dollar-Brigade von früheren Abgeordneten und schmierigen Strippenziehern rekrutiert hat wie eine Gruppe von amerikanischen Juden, die überraschenderweise willig sind, die Rede vom Genozid kleinzuhalten." Die Lobby-Firma des früheren Oppostionsführers Richard Gephardt etwa kassiere 100,000 Dollar im Monat für ihre Dienste und bringe dafür Papiere in Umlauf, in denen der Genozid geleugnet wird.
Archiv: New Republic

Economist (UK), 27.07.2007

Das Wort "Globalisierung" mag neu sein, das Phänomen ist es nicht. Das ist jedenfalls das Argument, das Nayan Chanda, Mitglied des Yale Center for the Study of Globalization, in seinem Buch "Bound Together: How Traders, Preachers, Adventurers, and Warriors Shaped Globalisation" entfaltet: "Oft lässt er Figuren aus der Vergangenheit in ihren eigenen Worten für sich sprechen. 'Die Verbreitung und Nutzung von Eisenbahnen, Dampfschiffen und Telegrafen lösen Nationalitäten auf und bringen geografisch weit voneinander entfernte Völker einander wirtschaftlich und politisch nahe. Sie machen die Welt zu einer Einheit und das Kapital hat, wie Wasser, eine einebnende Kraft.' Das könnte, von der Ausdrucksweise abgesehen, eine Pressemitteilung der Weltbank von heute Morgen sein. In Wahrheit stammt es von David Livingstone, der in den 1850ern über seine Erfahrungen in Afrika nachdachte."

Weitere Artikel: In Botswana wird gerade Alexander McCall Smiths Kriminalroman "The No. 1 Ladies' Detective Agency" verfilmt - der Economist informiert über die Umstände und die Lage in dem afrikanischen Staat. In Spanien gibt es derzeit einen Wettbewerb um einen Text für die seit dem Übergang zur Demokratie textlose Nationalhymne. Im September soll die Entscheidung fallen - und die wird unweigerlich, prophezeit der Economist, für heftigen Streit sorgen. In der Titelgeschichte geht es darum, wie die Staaten des Westens auf schrumpfende Bevölkerungszahlen reagieren könne.

Besprochen werden eine ganze Reihe neuer Kriminalromane, der "Simpsons"-Film ("wunderbar klug und witzig"), Roger Deakins' Buch "Wildwood. A Journey Through Trees" sowie eine Londoner Ausstellung mit islamischer Kunst aus der Sammlung Aga Khan.
Archiv: Economist

Foglio (Italien), 28.07.2007

Fabio Dal Boni trommelt gegen die zunehmende Ausbreitung privater Kliniken, die dem Magnaten Carlo De Benedetti ebenso gehören wie die Konkurrentblätter. Dal Boni sieht hier vereinte Kräfte am Werk: "Bei jedem Unfall und jedem Ausfall wird das öffentliche Gesundheitsystem an den Pranger gestellt und mit dem System anderer Länder verglichen, vor allem mit dem amerikanischen, wo man für den Service zahle und er funktioniere (natürlich nur für diejenigen, die privat versichert sind). Nun fällt einem auf, und vielleicht ist es ein purer Zufall, dass sich hier Hospital auf Zeitung reimt. Denn Carlo De Benedetti besitzt den Espresso, die Repubblica, sechzehn lokale Tageszeitungen, ein paar Radiosendcer (Deejay und Capital), einen Musiksender (All Music-Rete A), Blogs und Internetportale." (Zufall ist wohl auch, dass Il Foglio auf einmal das öffentliche Gesundheitssystem für sich entdeckt.)

Cristina Giudici porträtiert Lietta Manganelli, die Tochter des italienischen Schriftstellers Giorgio Manganelli, die von Anfang an ein eher schwieriges Verhältnis zu ihrem vom Leid der Existenz geplagten und wenig liebevollen Vater hatte. "Als sie fünf Jahre alt war, gab ihre schöne und außergewöhnlich schwermütige Mutter Fausta - die der Vater trotzdem als sein schönes Märchen bezeichnete - sie bei ihrer Tante in Parma ab, 'Ich komme in fünfzehn Tagen, um Dich zu holen', erzählte sie ihr, nachdem sie sich schon von ihrem Mann getrennt hatte. 'Sie kam fünfzehn Jahre später', witzelt Lietta."

Weiteres: Siegmund Ginzberg erzählt hier und hier die Geschichte des russischen Geheimdienstes, dessen Vorgänger Okhrana schon im 19,. Jahrhundert in London und Paris operierte. Rothaarige haben mit schrecklich vielen Vorurteilen zu kämpfen, konstatiert Guilda Giarneri, um gleich darauf einige Emanzipationsbewegungen Betroffener vorzustellen.
Archiv: Foglio
Stichwörter: Mutter, Gesundheitssystem

Weltwoche (Schweiz), 26.07.2007

In einem ausführlichen Interview mit Peer Teuwsen blickt der schwerkranke Schriftsteller Walter Kempowski auf sein Leben zurück, auf Krieg und Gefängnis, und natürlich auf sein Tagebucharchiv, seine Sammlung von Menschen: "Ich kann mir nichts darunter vorstellen, wenn man sagt, drei oder vier Millionen Menschen seien vergast worden. Aber wenn ich höre, wie ein SS-Mann in Dachau den armen Pastor Schneider gequält hat, Dinge, die längst vergessen sind, die aber zu Buche stehen - dann kann man sich ein Bild machen von den ungeheuerlichen Grausamkeiten. Allein die Idee, ein ganzes Volk auszurotten, der reine Wahnsinn. Und ich selbst saß zu dieser Zeit in der Wohnstube auf dem Teppich und spielte mit kleinen Autos." Und er beklagt auch, dass er in Deutschland nicht "konservativ und liberal" sein darf: "Man darf ja auch heute nicht seine Meinung sagen in Deutschland. Versuchen Sie das doch mal! Ein Schritt vom Wege, und Sie sind erledigt. Ein fröhliches Dahinplappern ist verboten. Selbst Ihnen gegenüber, verehrter Herr Teuwsen, muss ich mich vorsehen. Das ist doch erbärmlich. Ist das in der Schweiz auch so schlimm?"

Weiteres: "Frauen sind linker, ökologischer und staatsgläubiger als Männer", bilanziert Philipp Gut 36 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts in der Schweiz. Und zum anstehenden Nationalfeiertag am 1. August erzählt Peter Hartmann eine Geschichte der Urschweiz, nämlich die vom Untergang des Freistaat Gersau.
Archiv: Weltwoche

Das Magazin (Schweiz), 30.07.2007

Ian McEwans neuer Roman "Am Strand" handelt von einer missglückten Hochzeitsnacht eines Paars in den frühen Sechzigern. Finn Canonica unterhält sich mit dem Autor und bekennden 68-er in einem längeren Gespräch zu Sex einst und jetzt fragt ihn auch, ob er sich eine repressivere Gesellschaft zurückwünscht. Seine Antwort: "Ich war mal mit einem saudischen Freund in Saudiarabien unterwegs. Er sah eine Frau in einer Burka die Treppe hochsteigen und sagte spontan: 'Oh Mann, hast du diese Fesseln gesehen?' Trotzdem sehne ich mich kein bisschen nach diesen Zeiten, auch wenn sie für einen Romancier spannend sind."
Archiv: Das Magazin
Stichwörter: Burka, McEwan, Ian, Canonica, Finn

Nouvel Observateur (Frankreich), 26.07.2007

In der Sommerserie, in der sich Intellektuelle aller Gewerke über ihr Selbstverständnis und ihre Arbeit äußern, spricht der amerikanische Anthropologe Marshall Sahlins im Interview über seine Arbeit mit Claude Levi-Strauss, Polynesische Kulturen und die Frage, was man von Thukydides hätte lernen können: "Indem Thukydides Herodots mythos durch den logos ersetzte, hat sich Thukydides des Titels 'Vater der Geschichte' bemächtigt und ist zum Liebling der Pragmatiker der internationalen Beziehungen und anderer westlicher Adepten der Realpolitik geworden. Wahrscheinlich wird sein Ansehen auch bei den Theoretikern der Rationalität und des persönlichen Interesses intakt bleiben, auch wenn der von Bush im Irak geführte Krieg zweifellos die irrationalste Dummheit seit dem Einmarsch der Athener in Sizilien ist. Doch die einleuchtendste Parallele zum Irak bietet uns der anarchische Bürgerkrieg (stasis), der Kerkyra verwüstete. Dabei haben sich die Spartaner und Athener in den inneren Konflikt zwischen den ortsansässigen Oligarchen und dem demos um die Herrschaft über die Stadt verstrickt. Sowohl in Kerkyra als auch im Irak wurden, seit die staatlichen Institutionen jegliche Legitimität verloren haben und Gewalt zum bevorzugten Mittel aller Parteien geworden ist, die heiligen Werte des Rechts, der Moral und der Religion in Blut ertränkt und auf ein Nichts reduziert."

New York Times (USA), 29.07.2007

Robin Marantz Henig hat sich für einen großen Report in der Humanoid Robotics Group des MIT umgetan und die neueste Generation der Humanoiden kennengelernt, die angeblich auf erste soziale Verhaltensweisen programmiert sind: Zum Beispiel Mertz. "Er hat Kamerasensoren hinter seinen Augen, die darauf programmiert sind, Gesichter zu erkennen; als er meins entdeckte, sollte er mich direkt ansehen, um eine Konversation in Gang zu bringen. Aber Mertz hatte an diesem Tag eine Schraube locker, und eine seiner Designerinnen, eine dunkelhaarige Frau namens Lijin Aryananda versuchte herauszufinden, was mit ihm nicht stimmte. Mertz wurde zappelig, Aryananda frustriert und ich begann mich zu fühlen, als würde ich hinter den Vorhang des Wizards of Oz spähen. Mertz besteht aus einem Metallkopf auf einem biegsamen Nacken. Er hat eine kindliche computergenerierte Stimme und expressive Brauen über seinen Pingpong-Ball-Augen - Züge, die einen Menschen freundlich gegenüber dem Roboter stimmen und die Unterhaltung angenehm machen sollen. Aber wenn etwas mit dem Code nicht stimmt, fängt Mertz an zu brabbeln wie Chatty Cathy auf Speed."

Außerdem erzählt Ayub Nuri von seiner Zeit als Helfer westlicher Journalisten in Bagdad. "Die Aufständischen hassten Fixer. Sie nannten uns Kollaborateure. Dreimal brachen sie in meine Wohnung in Bagdad ein, aber glücklicherwesie war ich nie da. Viele meiner Kollegen erhielten Briefe von bewaffneten Gruppen, in denen sie aufgefordert wurden, zu kündigen, andernfalls würden sie umgebracht. Manchmal wurden Fixer auch ohne Warnung ermordet. Vor zwei Wochen wurde Khalid W. Hassan, ein 23-jähriger Übersetzer und Reporter der New York Times in Bagdad auf dem Weg zu seinem Büro angehalten und erschossen."

In der Book Review kommt Samantha Power nach Lektüre einiger neuerer Bücher zu Islamismus und Terror zu dem Schluss: "Die Herausforderung besteht darin, die Bedrohung nicht herunterzuspielen, nur weil George Bush sie hochgespielt hat. Nach Lesley Chamberlains philosophischen Geschichte Russlands "Motherland" bemerkt Mark Lilla, dass die russischen Denker ihrem Land keinen Gefallen getan haben, als sie statt auf die Aufklärung auf den deutschen Idealismus setzten. Und David Orr rühmt die überfällige Übersetzung von Zbigniew Herberts Gesammelten Gedichten ins Englische.
Archiv: New York Times