Magazinrundschau
Miklos Tamas Gaspar: Für die Diktatur gibt es keine Entschuldigung
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
20.11.2007. In der Gazeta Wyborcza hält der Philosoph Michael Sandel nichts von weltanschaulicher Neutralität. In Bookforum widmet sich John Banville der Pulp-Literatur. Im Express aktualisiert Garri Kasparow die völlig veraltete Liste des Westens von russischen Oligarchen. Il Foglio sieht die Mitgift-Morde an Ehefrauen von Informatikern in Bangalore steigen. Outlook India erklärt, warum sich so viele Frauen im Londoner Vorort Southall vor den Zug werfen. In Elet es Irodalom macht sich der Philosoph Miklos Tamas Gaspar Gedanken über die posthume Wirkung der Securitate. Die New York Times untersucht den schlaf-industriellen Komplex.
Gazeta Wyborcza (Polen), 17.11.2007

Was ist den jugoslawischen Gastarbeitern geblieben? fragt Dubravka Ugresic. Und antwortet selbst: "Nichts. Geld, das sinnlos ausgegeben wurde für protzige Grabmäler, Häuser, die im Bürgerkrieg zerstört wurden und Autos. Das war das einzige, womit sie ihr gedemütigtes Ego beruhigen konnten. Sie waren Diener in Ländern, die sie nie als eigene akzeptiert haben, und sie waren Diener im ehemaligen Jugoslawien, wo sie als erste nationalistischen Anführern aus Serbien. Bosnien und Kroatien nachliefen."
Außerdem: Juliusz Kurkiewicz zeichnet ein längeres Porträt des Journalisten und Schriftstellers Bruce Chatwin ("Wer war er? Diejenigen, die ihn kannten, wissen es bis heute nicht.") Und: die Debatte um den kulturellen Nachlass des Realsozialismus hat nach der Architektur die Neonwerbung erreicht: Eine polnische Fotografin aus London hat daraus eine Ausstellung gemacht (hier ein paar Bilder), die ausgerechnet im Warschauer Kulturpalast gezeigt wird. "Das entstehende Museum für Moderne Kunst hatte sich jetzt bereit erklärt, die Neonreklame in ihr Programm zu integrieren. Es soll eine Freilichtausstellung entstehen, und ihre Geschichte erforscht werden", kündigt die Gazeta Wyborcza an.
New Statesman (UK), 19.11.2007

Ein gewisser Neid erfüllt Kira Cochrane, wenn sie nach Schweden sieht: "Die Schweden scheinen ohne jede Anstrengung in praktisch allem, das erstrebenswert ist, auf den ersten Platz zu rutschen, stimmt's? Sie sind gesund - sie haben eine der längsten Lebenserwartungen in der Welt. Sie sind freundlich - sie wurden gerade als das beste Land in Europa genannt, wenn es darum geht, Immigranten zu begrüßen und ihnen zu helfen, sich niederzulassen. Sie sind intelligent - sie haben den höchsten pro-Kopf-Anteil an Nobelpreisträgern. Sie gaben uns Abba, die karaokefreundlichste Popgruppe aller Zeiten.... Und als ob das nicht genug wäre, wurden sie jetzt zum zweiten Mal als das Land ausgezeichnet, das am meisten für die Gleichberechtigung getan hat."
Weiteres: Besprochen werden die neue CD von Burial (hier ein paar Hörproben) und Thomas Schüttes Skulptur am Trafalgar Square.
Outlook India (Indien), 26.11.2007

Außerdem hat Outlook einen Schwerpunkt zum Thema Technik, in dem es etwa um die Konvergenztendenzen der neuesten Geräte, um Nanotechnologie und die Notwendigkeit einer grünen Revolution in Indien geht.
Bookforum (USA), 19.11.2007

Weitere Artikel: Colm Toibin, der selbst einen gefeierten Roman über Henry James geschrieben hat, bespricht den zweiten Band - "The Mature Master" - von Sheldon M. Novicks Biografie des Autors. Der Literaturwissenschaftler Peter Brooks hat die soeben erschienenen ersten zwei Bände mit Henry James' Briefen gelesen.
Express (Frankreich), 19.11.2007

Foglio (Italien), 17.11.2007
Carlo Buldrini besucht nach langer Zeit hier und hier wieder einmal Bangalore und ist erstaunt, was aus dem einstigen Garten Indiens geworden ist. Beschaulich ist es längst nicht mehr. Die Ansprüche steigen. "Jeden Tag werden drei oder vier junge Frauen mit Verbrennungen am ganzen Körper ins Victoria Krankenhaus des Bangalore Medical College eingeliefert. Viele sterben. In den Polizeiberichten heißt es: 'Explosion des gasbetriebene Herds'. Die Sozialarbeiter sprechen hingegen von 'Mitgift-Morden'. In den Monaten in denen ich in Bangalore war, gab es 81 dieser Vorfälle. Die Kultur des globalen Konsums hat auf die Stadt übergegriffen und hat die Summe der Mitgift enorm in die Höhe getrieben. Informatiker sind dank ihres hohen Einkommens nun ganz oben auf der Liste der begehrten Männer."
New Yorker (USA), 26.11.2007

Anthony Lane sah im Kino Todd Haynes' von Bob Dylan inspirierten Film "I'm Not There" und Frank Darabonts Stephen-King-Verfilmung "The Mist". Über letzteren spottet er: "Der Satz 'Da ist was im Dunst' ist eine direkte Übernahme des Satzes 'Da ist was im Nebel', der vor 27 Jahren in John Carpenter's 'The Fog' gesprochen wurde. Er zeigt uns, dass diese Filme keine Meditationen über die Tragödie der menschlichen Selbstüberschätzung sind. Sie sind Wetterberichte. Ist das nicht schaurig genug?"
Weiteres: Nora Ephron glossiert einen Fall restlos verwirrender Vermischung von Filmhandlungen und literarischer Vorlage. James Wood bespricht eine Neuübersetzung von Tolstois "Krieg und Frieden" ("War and Peace", Knopf). Gary Giddins porträtiert die brasilianische Bossa-Nova-Sängerin Rosa Passos, die als "weibliches Pendant von Joao Gilberto" gilt. Nancy Franklin stellt die neue TV-Serie "Gossip Girls" über reiche Privatschüler an der Upper Eastside vor. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Alvaro Rousselots Journey" von Roberto Bolano und Lyrik von Adam Zagajewski und Louise Glück.
Nur im Print: eine Reportage über die Motorisierung Chinas und ein Porträt des Viertels "Little Colombia" alias Jackson Heights in Queens.
Elet es Irodalom (Ungarn), 16.11.2007

"Peter Marosi kenne ich noch aus der Redaktion der Zeitschrift Utunk in Kolozsvar (Cluj/Klauseburg), aber auch als Schachpartner meines Vaters", erinnert sich der Philosoph Miklos Tamas Gaspar an den Kritiker und Literaturwissenschaftler aus Siebenbürgen, dessen Vergangenheit als Spitzel für die rumänische Securitate kürzlich bekannt wurde. "Ob ich jetzt anders über ihn denke? Seltsamerweise kaum. Wer wusste denn nicht, wie das System war? Das System stalinistischen Ursprungs, das immer, heute noch, unsere Verachtung verdient. Es gibt keinen Grund zur Milde, zur Vergebung, zur Relativierung aus der historischen Perspektive. Das System machte fehlbare Menschen zu moralischen Leichen, und wischt nun - mit unserem rauhen Urteil - seine Stiefel noch einmal an ihnen ab, es ist sogar als Gespenst riesig." Dennoch will er Transparenz: "Sämtliche Daten aus der Zeit der Diktatur müssen veröffentlicht werden. Für die Diktatur gibt es keine Entschuldigung. Auch die Erbärmlichkeit der Demokratie ist keine Entschuldigung."
Espresso (Italien), 16.11.2007

New York Review of Books (USA), 06.12.2007
Die chinesische Umweltaktivistin Dai Qing schildert, wie die chinesischen Behörden den Raubbau an den Wasserresourcen des Landes vor den Olympischen Spielen noch einmal kräftig gesteigert haben. Obwohl das Wasser knapp und für die Bauern bereits rationiert ist, werden in Peking künstliche Seen, Hunderte von Golfplätzen und gewaltige Springbrunnen angelegt: "Um den dramatischen Wasser-Mangel auszugleichen, pumpt Peking derzeit 80 Prozent seines Wasserbedarfs aus dem Grundwasser. Aber es tut dies in weitaus schnellerem Maße, als sich die Vorkommen wieder auffüllen könnten, wodurch unter der Hauptstadt der Grundwasserspiegel abstürzte und der Boden in einem 2.000 Quadratkilometer weiten Trichter absackte. Zum Ausgleich wird nun Wasser von den zunehmend verärgerten Nachbarprovinzen Hebei und Shanxi nach Peking gepumpt. Chinas Neureiche und das von der Bürokratie aus Partei und Staat kontrollierte Finanzkapital dehnen sich in alarmierendem Maße auf die Weltmärkte aus. Sie haben einen bisher unbekannten Reichtum geschaffen, doch ist dieser nur durch den gierigen Verbrauch natürlicher Ressourcen zustande gekommen."
Frederick C. Crews erzählt von einem Coup der Pharmaindustrie: Der Konzern GlaxoSmithKline ließ gegen ein offenbar stattliches Honorar den Football-Spieler Ricky Williams in Oprah Winfreys Talkshow bekennen, dass er ein Leben lang "unter Schüchternheit" gelitten habe. Dabei, so lernen wir, handelt es sich nicht um einen verbreiteten Wesenszug, sondern eine Krankkeit - genannt Social anxiety disorder. "Medikamentehersteller erzielen ihre enormen Profite mit einer kleine Anzahl von marktführenden Produkten, für die immer wieder neue Anwendungen gesucht werden. Wenn diese nicht in Experimenten oder durch Zufall auftauchen, können sie durch das 'Condition-Branding' heraufbeschwört werden - das heißt, bringt die Massen dazu zu glauben, dass ein üblicher, wenn auch unangenehmer Zustand tatsächlich eine Störung ist, die mit Medikamenten behandelt werden muss. Poetischer nennt man dies 'künstlichen Rasen auslegen'."
Weiteres: William Pfaff kann sich noch immer keinen rechten Reim auf Nicolas Sarkozy machen: "Seine Interesse gilt der Macht an sich, nicht weil er eine persönliche Vorstellung hätte, was er mit ihr anfangen soll." Besprochen werden Philip Roth' neuer Roman "Exit Ghost", David Shulmans Bekenntnis zum Frieden in Nahost "Dark Hope", Robert Reichs Buch über den undemokratischen "Supercapitalism" unserer Tage sowie Jack Goldsmith' Studie "The Terror Presidency", die beschreibt, wie die Regierung Bush mit Hilfe des Juristen David Addington die Folter zu legalisieren versucht.
Frederick C. Crews erzählt von einem Coup der Pharmaindustrie: Der Konzern GlaxoSmithKline ließ gegen ein offenbar stattliches Honorar den Football-Spieler Ricky Williams in Oprah Winfreys Talkshow bekennen, dass er ein Leben lang "unter Schüchternheit" gelitten habe. Dabei, so lernen wir, handelt es sich nicht um einen verbreiteten Wesenszug, sondern eine Krankkeit - genannt Social anxiety disorder. "Medikamentehersteller erzielen ihre enormen Profite mit einer kleine Anzahl von marktführenden Produkten, für die immer wieder neue Anwendungen gesucht werden. Wenn diese nicht in Experimenten oder durch Zufall auftauchen, können sie durch das 'Condition-Branding' heraufbeschwört werden - das heißt, bringt die Massen dazu zu glauben, dass ein üblicher, wenn auch unangenehmer Zustand tatsächlich eine Störung ist, die mit Medikamenten behandelt werden muss. Poetischer nennt man dies 'künstlichen Rasen auslegen'."
Weiteres: William Pfaff kann sich noch immer keinen rechten Reim auf Nicolas Sarkozy machen: "Seine Interesse gilt der Macht an sich, nicht weil er eine persönliche Vorstellung hätte, was er mit ihr anfangen soll." Besprochen werden Philip Roth' neuer Roman "Exit Ghost", David Shulmans Bekenntnis zum Frieden in Nahost "Dark Hope", Robert Reichs Buch über den undemokratischen "Supercapitalism" unserer Tage sowie Jack Goldsmith' Studie "The Terror Presidency", die beschreibt, wie die Regierung Bush mit Hilfe des Juristen David Addington die Folter zu legalisieren versucht.
Weltwoche (Schweiz), 15.11.2007

Weitere Artikel: Georg Kreis verteidigt entschieden das Schweizer Antirassismusgesetz. Urs Gehriger versucht abzuschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass die Krise in Pakistan mit Atombomben in den Händen von Islamisten enden könnte. Thomas Gottschalk gratuliert seinem Jugendidol Gunter Sachs zum 75. Geburtstag. Markus Somm kommentiert einen Bericht des World Economic Forum, aus dem hervorgeht, "dass die Schweiz in Sachen Gleichstellung von Mann und Frau eines der rückständigsten Länder des Westens" ist.
Economist (UK), 17.11.2007

Weitere Artikel: Vorgestellt wird der Clover (Foto), eine neue Kaffeemaschine, die gerade Riesenerfolge feiert, obwohl sie "sowohl langsamer als auch sehr viel teurer ist als andere Maschinen". Ein ausführlicher Nachruf ist Norman Mailer gewidmet. Besprochen werden unter anderem Aliza Marcus' Geschichte der PKK "Blood and Belief", der dritte Band von John Richardsons Picasso-Biografie und Sean Penns jüngster Film "Into the Wild".
Babelia (Spanien), 19.11.2007
"Glauben Sie an den Teufel?" Cecilia Dreymüller interviewt Alexander Kluge anlässlich des Erscheinens der spanischen Ausgabe seines Buches "Die Lücke, die der Teufel lässt": "Ich glaube, dass der Mensch Teufel erzeugt, wenn er sich über seine Taten nicht vollständig Rechenschaft ablegt. Wenn wir unser Wissen teilweise ausblenden, kommt vom Horizont her etwas auf uns zu, was wir als Teufel bezeichnen können. Ein alter Weggefährte, der die Erfahrungen der Menschheit in seinem Spiegel sammelt. Ich glaube aber auch, dass man einen Ausweg aufzeigen muss: Wenn die Welt so schrecklich ist wie in Verdun oder Auschwitz, möchte ich begreifen, wie das Böse konstruiert wird, aber auch, wie es sich dekonstruieren lässt."
Von der Kochkunst lernen, heißt siegen lernen - Vicente Verdu stellt zehn Grundregeln auf, die ein würdiges Fortleben des Romans im 21. Jahrhundert ermöglichen sollen: "Schluss mit einer Literatur, die den Leser am Kragen packt und keuchend und schlaflos zur ultimativen Offenbarung auf der letzten Seite schleift. Ein Roman, der den Namen zeitgenössisch verdient, folgt dem Vorbild der Slow Food-Bewegung und nimmt Rücksicht auf die vielfältige, zur Interaktion fähige Sensibilität seiner Rezipienten, verführt durch Formschönheit und ästhetische Effizienz."
Von der Kochkunst lernen, heißt siegen lernen - Vicente Verdu stellt zehn Grundregeln auf, die ein würdiges Fortleben des Romans im 21. Jahrhundert ermöglichen sollen: "Schluss mit einer Literatur, die den Leser am Kragen packt und keuchend und schlaflos zur ultimativen Offenbarung auf der letzten Seite schleift. Ein Roman, der den Namen zeitgenössisch verdient, folgt dem Vorbild der Slow Food-Bewegung und nimmt Rücksicht auf die vielfältige, zur Interaktion fähige Sensibilität seiner Rezipienten, verführt durch Formschönheit und ästhetische Effizienz."
New York Times (USA), 19.11.2007
