Magazinrundschau

Speziell unheimlich und lo-fi

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
08.07.2008. In der Gazeta Wyborcza fordert Adam Michnik: Finger weg von Lech Walesa! Auch Polityka verteidigt ihn gegen den Hass der Kaczynskis. In Vanity Fair liefert Christopher Hitchens ein Highlight des investigativen Journalismus und lässt sich foltern. Fahren Sie nach Indien, besuchen Sie einen Slum, ermuntert Suketu Mehta im Espresso. Elet es Irodalom staunt über die Holländer in Ungarn. Der Diskurs der Vielfalt, meint Kenan Malick im New Humanist, ende leider oft im Rassismus.

Gazeta Wyborcza (Polen), 05.07.2008

Lange hat Adam Michnik zu den neuerlichen Vorwürfen, Lech Walesa habe für den polnischen Geheimdienst gespitzelt, geschwiegen. Jetzt reicht es dem Weggefährten des "Solidarnosc"-Anführer: "Finger weg von Lech Walesa!" Trotz seiner eigenen Kritik an dem früheren Präsidenten kann Michnik nicht akzeptieren, dass mit Walesa die polnische Transformation - für die auch Michnik und die Gazeta Wyborcza stehen - in den Dreck gezogen wird. "Ich kann darüber nicht aus einem nur politischem Blickwinkel schreiben. Ich bin einfach entsetzt, ich empfinde Bitterkeit und Widerwillen. Ich hätte nie gedacht, dass Polen den 25. Jahrestag des Friedensnobelpreises für seinen Nationalhelden auf diese Weise begehen würde. Sagt nicht, ihr Enthüller, dass ihr die Wahrheit offenlegen wollt, die Andere (das Establishment?) verbergen wollen. Ihr lügt."

Außerdem freut sich Dawid Warszawski mal über ein positives Zeichen aus dem IPN, dem polnischen Institut der nationalen Erinnerung: Dort ist Bozena Szaynoks Buch über die polnisch-israelischen Beziehungen 1944-1968 erschienen. "Es ist nicht nur unentbehrlich für diejenigen, die sich für die Diplomatie der Volksrepublik Polen interessieren. Es ist auch ein Register der verspielten Chancen. Nicht nur aus historischen Gründen war Polen bis 1967 wichtig für Israel - der israelische Staat wurde zum großen Teil von polnischen Juden erbaut, die Eliten waren polnischssprachig. Für Polen, das im Ostblock gefangen war, hätte Israel wiederum ein Fenster zur Welt sein können. Der von den kommunistischen Machthabern nach dem Sechstagekrieg angestachelte Mob begleitete die des Landes verwiesenen israelischen Diplomaten mit Schlägen und Anfeindungen und schlug dieses Fenster damit endgültig zu."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Vanity Fair (USA), 01.08.2008

"Glauben Sie mir: Es ist Folter", kann jetzt auch Christopher Hitchens bestätigen, der sich von einer Spezialeinheit der US-Armee hat zeigen lassen, wie das Koreanische Handtuch - auch "Waterboarding" genannt - funktioniert. "Gemäß der offziellen Lüge wird beim Waterboarding das Gefühl des Ertrinkens simuliert. Das stimmt nicht. Man fühlt, dass man ertrinkt, weil man ertrinkt - oder ertränkt wird, wenn auch langsam und unter kontrollierten Bedingungen und unter der Gnade seiner Peiniger... Das wurde mir sehr schnell klar, als mir über die Kapuze, die noch einige Funken Licht durchließ, drei Lagen von Handtüchern gewickelt wurden. In dieser Dunkelheit, mit dem Kopf nach unten, wartete ich für einen Moment, bis ich plötzlich Wasser meine Nase hochlaufen spürte. Entschlossen zu widerstehen, um der Ehre meiner seefahrenden Vorfahren halber, hielt ich meinen Atem an. Ich atmete aus und - wie zu erwarten - wieder ein. Das Einatmen sog den durchtränkten Stoff direkt an meine Nasenflügel, als würde eine gewaltige, nasse Pfote plötzlich und vernichtend über mein Gesicht schlagen. Unfähig zu erkennen, ob ich ein- oder ausatmete, und von mehr Panik als von Wasser überströmt, gab ich das vorverabredete Zeichen und spürte die unglaubliche Erleichterung, als ich aufrecht gezogen wurde und die Handtücher weggenommen wurden. Ich möchte aber lieber nicht sagen, welch kurze Zeit das gedauert hat."

Außerdem: Bryan Burrough enthüllt in einem ausführlichen Bericht, unter welch seltsamen, wenn nicht gar skandalösen Umständen die Außenseiterbank Bear Stearns zu Fall gebracht wurde. Gail Sheehy liefert den postmortem-Bericht von Hillary Clintons Wahlkampagne.
Archiv: Vanity Fair

La vie des idees (Frankreich), 01.07.2008

Blaise Wilfert-Portal stellt das Manifest "Pour une litterature-monde" (Gallimard) vor, in dem unter der Ägide der Herausgeber Michel Le Bris und Jean Rouaud zwölf Autoren der Frage nach Rolle und Bedeutung der französischen Sprache beziehungsweise Literatur in der globalisierten Welt nachgehen. "Die Autoren führen eine Reihe von Anekdoten an, die zeigen, dass ein entscheidender Teil ihrer Rolle in der Welt der französischen Literatur darin besteht, als mehr oder weniger exotische freundliche Aushilfskräfte zu figurieren, die möglicherweise für das Widerstandsprogramm gegen die Dominanz des Englischen brauchbar sind. Worin man den Ursprüngen des Begriffs Frankophonie wiederbegegnet, der Ende des 19. Jahrhunderts von Onesime Reclus ersonnen wurde, um der französischen Republik ein neues schlagkräftiges Instrument im Konkurrenzkampf der Imperien zu verschaffen: Sprache und Literatur sollten die schwache Geburtenrate und wirtschaftlichen Expansionsgrenzen Frankreichs kompensieren und den Kampf gegen die englische oder deutsche Machtstellung ermöglichen."

The Nation (USA), 21.07.2008

Entgegen aller Zusagen und Versprechungen werden die Rechte an sechs der wichtigsten Ölfelder des Irak zu fünfundsiebzig Prozent an internationale Multis gehen. Die Logik des Ganzen ist, wie Naomi Klein erläutert, bezwingend: "Das Argument geht so: Die irakische Ölindustrie benötigt ausländische Expertise, weil in den Jahren der harten Sanktionen die Technologie völlig veraltete; durch die Invasion und fortdauernde Gewaltakte hat sich der Zustand weiter verschlechtert. Und der Irak muss dringend mehr Öl produzieren. Warum? Wiederum wegen des Kriegs. Das Land ist zerstört und die Milliarden, die für nie ausgeschriebene Verträge an westliche Firmen gingen, haben das Land nicht auf die Beine gebracht. Die neuen, wiederum nicht ausgeschriebenen Kontrakte werden mehr Geld bringen. Da der Irak aber so ein unzuverlässiger Ort geworden ist, müssen die Öl-Multis dazu überredet werden, weitere Investitionen zu riskieren. So schafft die Invasion des Irak auf wunderbare Weise das Argument für die folgende Plünderung des Landes."
Archiv: The Nation
Stichwörter: Geld, Irak, Klein, Naomi, Plünderung

Espresso (Italien), 07.07.2008

Der in Bombay geborene Autor und Journalist Suketu Mehta rät allen Indientouristen, nicht nur das Taj Mahal, sondern auch einen Slum zu besuchen. "Nur zu, tun Sie es, niemand wird Ihnen was antun. Was auch immer in Südafrika oder Brasilien passiert, in Indien ist die Armut nicht mit Straßenkriminalität, mit Übergriffen oder Entführungen verknüpft. Falls Sie es vorziehen, können Sie auch eine geführte Tour durch die Slums von Bombay oder Delhi machen, die ausnahmslos von nichtindischen Organisationen angeboten werden, für Touristen, die ein etwas wahrheitsgetreueres Abbild des Landes sehen wollen. Aber sparen Sie sich ihr Trinkgeld, das Sie dem Führer geben wollten, auf und verteilen Sie es stattdessen an die Bewohner des Slums. Einen Slum zu besuchen ist die leichteste Sache der Welt. Sie müssen nur den Portier oder das Zimmermädchen ihres Hotels fragen, ob Sie sie mal nach Hause begleiten dürfen. Dann entdecken Sie das wahre Indien, das Indien, das nicht unglaublich, sondern glaubwürdig ist."
Archiv: Espresso
Stichwörter: #ausnahmslos, Südafrika, Delhi

Believer (USA), 01.07.2008

Die Juli-August-Ausgabe ist ganz der Musik gewidmet. Brandon Stosuy gibt eine sehr informierte Einführung in die Black Metal-Szene der USA - er ist aber auch an den Entstehungsort dieser Musikrichtung gereist, nach Norwegen. Hier die wichtigen Informationen zu einer Stilbestimmung: "Ein von nicht eingeweihten Hörern oft gemachter Fehler besteht darin, nicht zwischen Death Metal und Black Metal zu unterscheiden... Wenn ich die Differenz erläutern soll, versuche ich immer erst einmal einen Blast Beat zu erklären und dann Beispiele typischen Death-Metal-Gesangs (dunkles, tiefes, gutturales Knurren) im Gegensatz zu typischem Black-Metal-Gesang (ein geisterhaftes Kreischen in hohen Tonlagen). Gut, manchmal ist es Haarspalterei... In der Frühphase klang Black Metal im übrigen noch einmal speziell unheimlich und lo-fi. Mit der Entwicklung der Szene lernten jüngere Musiker, ihre Instrumente besser zu beherrschen und die Strukturen wurden komplexer. Black Metal ist in der Regel nicht so ausgesprochen technisch wie Death Metal; und für gewöhnlich ist Black Metal auf klassischere Weise sinfonisch." (Hier die MySpace-Seite der US-Black-Metal-Band Profanatica mit Songbeispielen, hier die Seiten der einflussreichen Death-Metal-Formation Obituary.)

Außerdem: Haruki Murakami schreibt drei kurze Essay über Jazz (online ist nur der über Billie Holiday), Rick Moody verteidigt den Prog Rock, Andie Beta interviewt den Begründer des Weltmusiklabels Sublime Frequencies. Ange Mlinko geht dem obskuren Vaudeville-Charme von Bree Benton nach. Und Davy Rothbart singt ein Loblied auf Rap-CDs, die er auf der Straße kauft.
Archiv: Believer

Magyar Narancs (Ungarn), 04.07.2008

Am vergangenen Montag fand - ohne nennenswerte Ergebnisse - der dritte Verhandlungstag im Prozess um die Auflösung der faschistischen Ungarischen Garde statt - danach zog sich das Gericht in die Sommerpause zurück. Ein "A szerk." zeichnender Autor kommentiert die scheinbare Unfähigkeit des Gerichts, dem Prozess ein schnelles Ende zu setzen: "Die Verschleppung des Prozesses ins Unendliche dient vor allem der Garde, deren Taktik in der Prozessführung offensichtlich auch darauf abzielt. Je mehr Zeit vergeht, je mehr Leute sich ihnen anschließen (und seien es nur einige Hundert), je länger sie ihre Hasspredigten wiederholen dürfen, um so schwieriger wird es für das Gericht sein, ein für sie ungünstiges Urteil zu fällen. Wir behaupten nicht, dass ein Verbot der Garde die Probleme der Roma 'lösen' würde oder dass dadurch der Rassismus in Ungarn beseitigt würde. Möglicherweise werden die schwarzen Uniformen nicht von den ungarischen Straßen verschwinden. Aber wenigstens wären sie verboten, infolgedessen der sich rechtmäßig verhaltende Staatsbürger wüsste, dass dies nicht mehr zulässig ist. Und auch die so wichtigen Faktoren des Staatswesens - Bürgermeister, Kommunalpolitiker und die Polizei der Kommunen -, die der immer schwierigeren Aufgabe ausgesetzt sind, der rassistischen Gewalt Einhalt zu gebieten, hätten eine Leitlinie, an der sie sich festhalten könnten."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Kommune, Rassismus, Roma, Sommerpause

Spectator (UK), 05.07.2008

Melissa Kite trifft die neunfache Wimbledonsiegerin Martina Navratilova. "Heutzutage, sagt sie, ist sie glücklich damit, in Farbe getauchte Bälle auf eine Leinwand zu schmettern. Sie nennt die Technik 'Tennising', wie das Tennisspielen auch. Einige der Bälle sind sorgfältig gezielt, einige lässt sie auf und ab hüpfen, wie vor dem Aufschlag, um ein dichtes Muster zu erzeugen. Manche werden einfach nach Lust und Laune draufgedonnert, um 'esoterischere Stücke' zu erhalten. Die Idee kam von dem tschechischen Künstler Juraj Kralik. 'Ich war zunächst recht skeptisch, aber neugierig. Ich dachte: Wir machen das jetzt ein paar Mal und dann ist gut, aber nach acht Jahren produzieren wir immer noch und die Sache wächst und wächst.' In dieser Woche eröffnet das Duo seine erste kommerzielle Ausstellung in London."

Das Ende ist nah, ruft Theo Hobson und meint damit die gute alte anglikanische Staatskirche. "Im Lauf der letzten Jahre hat sich die Kirche von England zunehmend als Teil der globalen anglikanischen Gemeinschaft präsentiert. Das schien ein Weg zu sein, sich neu zu erfinden und ein wenig vom peinlichen Bild der Staatskirche wegzukommen. Das Ergebnis dieses Manövers ist verheerend. Es führte zum Untergang der KvE und hat eine Kirche, die als friedfertig und tolerant bekannt war, zum erschöpften Kollaps geführt. Am Vorabend der Lambeth-Konferenz (sie beginnt am 16. Juli) können wir das Ende der Kirche von England beobachten. Die Meckerfraktionen in der weltweiten anglikanischen Gemeinde haben unserer Kirche entzwei gerissen."
Archiv: Spectator
Stichwörter: England

Polityka (Polen), 08.07.2008

In einem sehr schönen und sehr ausführlichen Artikel (auf Deutsch) porträtieren Krzysztof Burnetko und Wieslaw Wladyka den großen Lech Walesa und stellen klar, dass die jetzigen IM-Vorwürfe gegen ihn persönlichen und politischen Motiven entspringen: "In einem der heikelsten Momente der polnischen Transformation rückte Walesa nicht von den Reformen ab - auch nicht von den schwierigen, die ständig mit dem damals immer weniger populären Namen Leszek Balcerowicz' identifiziert wurden. Im Endeffekt bestätigte er, dass er der Präsident der III. Republik war. Und deshalb ist er bis heute der von der IV. Republik meistgehasste Politiker der III. Republik Polen. Diese Hassgefühle werden natürlich von dem persönlichen Groll der Brüder Kaczyński gespeist, die er einst von seinem Hof verjagte, wie viele andere vorher und nachher. Aber sie rühren auch daher, dass er sich insgesamt politisch nicht austricksen und ausnutzen ließ, dass er so unabhängig und 'selbstverwaltet' war wie seine Gewerkschaft... Das Gefühl ist recht verbreitet, dass ihn ein unverdientes Unrecht trifft, dass man, indem man Wałęsa beleidigt, eine der größten polnischen Legenden, eine der größten polnischen Siege mit Schmutz bewirft."
Archiv: Polityka

Elet es Irodalom (Ungarn), 04.07.2008

Holländer sind - nach den Deutschen und Österreichern - die drittgrößte Volksgruppe, die sich in Ungarn niederlässt. Zwar können sie die Rolle des "reichen Ausländers", die ihnen ihr neues Umfeld automatisch zuteilt, selten abschütteln und bleiben oft - ob in der Stadt oder auf dem Dorf - Teil einer sozial gut abgegrenzten Subkultur, da noch wenige der Einheimischen Fremdsprachen sprechen - Tibor Berczes glaubt dennoch, dass ihre andersartige Mentalität auch ihr neues Umfeld beeinflussen kann: "Die Holländer werden in ihrer neuen Kultur damit konfrontiert - auch wenn sie dies abstreiten -, dass sie ein gemeinsames kulturelles Erbe verbindet. In Ungarn wird ihnen unter anderem bewusst, dass sie aufgrund der sozusagen organischen historischen Entwicklung der Niederlande eine andere Beziehung zur Muttersprache haben (die für sie kein Survival-kit ist, sondern alltägliches Gebrauchsutensil), wie auch zur Vergangenheit (über die sie in der Vergangenheitsform und nicht im Präsens sprechen) oder zur Nation (das Nationalgefühl lebt im Holländer lediglich in Zeiten der Fussball-EMs und -WMs auf) oder gar zu Europa. In Europa sind sie so sehr zu Hause, als wäre es eine Verlängerung Hollands. Sie machen Schluss mit Holland, indem sie sich anderswo niederlassen, reproduzieren es dort aber gleich wieder. Sie passen sich überall an, bleiben derweil aber Holländer. Damit geben sie auch ein Beispiel. Ob sie Nachfolger finden werden, wird die Zukunft zeigen."

Guardian (UK), 05.07.2008

Machen uns SMS zu Analphabeten? Kaschieren all die Abkürzungen und Logogramme nur Dyslexie und mentale Faulheit? Verheeren sie die Sprache wie Dschingis Khan einst Asien? Linguist David Crystal ("Txtng: The Gr8 Db8") gibt Entwarnung: "Kinder könnten nicht gut im Texten sein, wenn sie nicht schon ein beachtliches sprachliches Bewusstsein hätten. Bevor man mit abgekürzten Formen spielen kann, braucht man einen Sinn dafür, wie sich der Klang einer Sprache zu einem Buchstaben verhält... Einige Menschen mögen SMS nicht. Einige sind von ihnen verwirrt. Dabei sind sie nur die letzte Manifestation für die menschliche Fähigkeit, linguistisch kreativ zu sein und die Sprache unterschiedlichen Bedürfnissen anzupassen. Das führt zu keinerlei Desaster. Wir werden keine neue Generation heranwachsen sehen, die unfähig ist, vernünftiges Englisch zu schreiben. Die Sprache als solche wird nicht verfallen. Was wir in der SMS erleben ist - im Kleinen - Sprache in Evolution."

Der Schriftsteller Will Self bekennt sich zwar zur SMS, betont aber, niemals auch nur ein einziges Apostroph auszulassen. Lynne Truss ("Hier steht was alle suchen" - Eats, Shoots & Leaves) sieht dagegen im selben Artikel einige schwierige Fragen der Etikette berührt: "Ob man SMS in Gesellschaft lesen sollte, ist eines der vertracktesten Probleme. In Amerika, wo fast jeder einen Blackberry zu besitzen scheint, gibt es einen neuen Gesichtsausdruck, wie ich beobachtet habe, ein festgefrorenes Lächeln mit sich panisch bewegenden Augen, was bedeutet: 'Ich hör' Dir zu, ich seh' nur gerade, dass ich eine SMS hab, aber, ehrlich, Ich höre zu, Ich les' sie später, also, jetzt sag noch mal, was Du gerade gesagt hast, wenn ich nur mal eben diese blöde SMS lesen könnte.'"
Archiv: Guardian

Point (Frankreich), 03.07.2008

In seinen Block-notes erklärt Bernard-Henri Levy, weshalb er auf einen Sieg von Barack Obama setzt. Er sieht dafür drei Gründe: Erstens habe sich Amerika gewandelt, drittens sei er schlicht gut und zweitens "kein gewöhnlicher Schwarzer": "Nicht einmal ein 'Mischling'. Im Gegensatz zu einem Jesse Jackson oder Al Sharpton, im Gegensatz zu einer Condi Rice, die, wie erstere, Nachfahrin von Sklaven ist und daher als solche Trägerin der Erinnerung an die Rassentrennung, ist er der Sohn eines Kenianers. Ein gewaltiger Unterschied. Weil der Spiegel, den er Amerika vorhält, nicht mehr der jener finsteren Zeiten ist. Das Bild, das er widerspiegelt, ist nicht mehr das einer alten und im Grunde unerträglichen Schuld. Barack Obama kann sie beseitigen, weil er der erste Afro-Amerikaner ist, der dank seiner Geburt zu einem Schritt über die beiden Stände hinaus fähig ist, die man hier 'Bürgerkrieg' nennt - und der erste, der deshalb nicht die Karte der Verurteilung, gar der Verdammung spielen kann, sondern der Verführung und, wie er unablässig wiederholt, der Versöhnung."

Anlässlich des Erscheinens seines Essays "La tentation de l'impossible" (Gallimard) über Victor Hugo und dessen Roman "Les Miserables" spricht Mario Vargas Llosa in einem Interview über sein Interesse an Hugo und die Rolle der Literatur und des Schriftstellers in gefestigten Demokratien. "In offenen Gesellschaften, Demokratien, ist der Schriftsteller jemand geworden, der ein alternatives Leben anbietet. Die Literatur lässt einen träumen, den Alltag verlassen, stellt aber auch Fragen. Sie verunsichert Sie in ihren Gewissheiten. Ich glaube, dass es weniger Freiheit in der Welt gibt, die von den Medien erzeugt wird, als Freiheiten, welche die Literatur erschafft."
Archiv: Point

Economist (UK), 04.07.2008

Erstmals gab es in indischen Städten Schwulenparaden zum Christopher Street Day - der Economist berichtet darüber, aber auch von den Problemen, die Homosexuelle in diesem Land mit viktorianischer Sexualmoral haben: "Es gab keine halbnackten Tänzer oder rosa Wagen oder untergehakte Matrosenjungs; aber auch so war die indische Schwulenparade bahnbrechend genug. Mehrere hundert Männer und Frauen schwenkten Regenbogenflaggen, tanzten, stampften und sangen am 29. Juni auf ihrem Weg durch die Stadtzentren von Delhi, Bangalore und Kalkutta - das erste nationale Ereignis dieser Art in diesem konservativen Land. Viele, die in Delhi unter schweren Monsun-Wolken unterwegs waren, sagten, dass eines der Hauptmotive für ihre Teilnahme die Kampagne zur Abschaffung des Paragrafen 377 des indischen Strafgesetzbuchs ist, der Homosexualität als 'unnatürliche sexuelle Straftat' wie Sodomie definiert."

In weiteren Artikeln geht es um die Bedeutung von Michelle Obama für den Wahlkampf und die Erfolgsaussichten ihres Ehemanns, um das Ende der Institution College-Jahrbuch in Zeiten von Facebook und Myspace und um eine Abgabe, die lebenden und den Erben verstorbener Künstler prozentuale Anteile bei Verkäufen sichert. Besprochen werden ein Buch über Lewis Carroll alias Charles Dodgson als Mathematiker, eine Essaysammlung des indischen Autors Amit Chaudhuri, eine Geschichte des Kommunismus in seinen Witzen und eine Londoner Ausstellung des großen dänischen Innenraum-Malers Vilhelm Hammershoi.
Archiv: Economist

Folio (Schweiz), 07.07.2008

In diesem Monat hat sich Folio dem Wüstenemirat Dubai verschrieben, das von seinem Herrscher, Mohammed bin Raschid Al Maktum, so straff wie eine Großfirma geführt wird, wie Victor Koch zeigt: "Insider bangen, wie lange der Scheich-Generaldirektor- in seiner zusehends ausufernden Staatsfirma den Überblick behält und die Befehlsstrukturen anpassen kann. Zur Kontrolle des öffentlichen Geschehens hat der Herrscher sich mit modernster Technologie ein umfassendes Videoüberwachungssystem bauen lassen, das jeden beliebigen Platz in Dubai unmittelbar auf einem Monitor sichtbar machen kann. Das Herrscherhaus wacht auch genau darüber, dass strategische Besitztümer nicht in die falschen Hände geraten. Das Herrscherhaus wacht auch genau darüber, dass strategische Besitztümer nicht in die falschen Hände geraten. Die grossen Familien der Stadt werden mit Handelsmonopolen, etwa Importlizenzen für Luxuswagen, abgespeist."

Weiteres: Martin Johnson schildert nächtliche Merkwürdigkeiten und ausladende Dekadenz: "Dubai ist eine vielköpfige Hydra, die erst in der Nacht so richtig zum Leben erwacht." Der ebenfalls nach Dubai geholte Kulturmanager Michael Schindhelm macht einen Hausbesuch bei Zaki Nusseibeh, einst Dolmetscher von Scheich Zayed.
Archiv: Folio

New Statesman (UK), 03.07.2008

Bevor er Richard Brodys völlig kompetente, wenn auch zum Bedauern des Rezensenten komplett ironiefreie Godard-Werk-Biografie "Alles ist Kino" bespricht, muss Gilbert Adair, Autor und Cinephiler, eines erst einmal klar stellen: "Als der Elitist, der ich bin, möchte ich festhalten, was sich (für alle echten Cinephilen) im Grunde von selbst versteht: Wer das Werk von Jean-Luc Godard nicht kennt, der hat, nun, nicht das Recht, aber doch die Autorität verwirkt, über das Kino der Gegenwart zu urteilen. Schließlich würde keiner, der keine Ahnung von Picasso hat, auch nur eine Sekunde lang für im mindesten satisfaktionsfähig erachtet, wollte er sich über die Gegenwartskunst äußern. Und der derzeitigen überwältigenden kritischen Vorliebe für die populistischen Seiten des Mediums zum Trotz, gilt dasselbe auch fürs Kino - wenngleich diese Vorliebe ironischerweise auch von Godard und seinen ebenso Hollywood-begeisterten Freunden Francois Truffaut, Claude Chabrol, Jacques Rivette und Eric Rohmer erfunden wurde."

Lucy Beresford hat Patrick McGraths (Autor u.a. des von David Cronenberg verfilmten Romans "Spider") jüngsten Roman "Trauma" gelesen - als Vergnügen würde sie die Lektüre nicht bezeichnen, aber es ist ein faszinierendes Buch: "'Trauma' ist das ungeschönte Expose eines Lebens im Hinterland geistiger Gesundheit - es beschreibt eine Welt der Flashbacks, der Alpträume, des Alkoholmissbrauchs und der Depression."
Archiv: New Statesman

New Humanist (UK), 01.07.2008

"Durch den herrschenden Diskurs, der immer für Vielfalt plädiert, wurden zuletzt auch rassistische Einstellungen in einfach nur eine weitere Spielart kultureller Identität verwandelt", meint der Publizist Kenan Malick in einem Artikel über multikulturelle Identitätspolitik. "Während die Rechte die Grammatik der Vielfalt angenommen hat, adoptierten die Liberalen das Idiom der rassischen Identität. Will Kymlicka ist alles andere als ein Fremdenfeind. Doch sein Pluralismus verleitet ihn, die Sprache des Ausschlusses zu verwenden. 'Es ist richtig und korrekt', glaubt Kymlicka, 'dass der Charakter einer Kultur sich durch die Entscheidungen ändert, die ihre Mitglieder treffen.' Aber, meint er weiter, 'während es eine Sache ist, von einer größeren Welt zu lernen', sei es etwas ganz anderes 'von ihr verschlungen zu werden'. Was bedeutet das? Dass eine Kultur das Recht hat, Mitglieder einer anderen Kultur draußen zu halten? Dass eine Kultur das Recht hat, ihre Mitglieder davor zu bewahren, eine andere Sprache zu sprechen, fremde Lieder zu singen oder fremde Bücher zu lesen? Kymlickas Warnung vor dem 'Verschlungenwerden' sollte uns hellwach machen... Denn wenn es eine Sache politischer Prinzipien wird, dass Kulturen nicht von Außenseitern verschlungen werden dürfen, wie soll man dann noch den von der Rechten kommenden Argumenten gegen die Immigration begegnen?"
Archiv: New Humanist