Magazinrundschau

Wischi-Waschi-Liberale wie ich

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
11.01.2011. Vanity Fair schildert die konfliktuelle Komplizenschaft zwischen Julian Assange und Alan Rusbridger vom Guardian. In Le Point beklagt BHL die kulturelle Verarmung der arabischen Länder durch den Exodus der Christen. Im Merkur erklärt der israelische Philosoph Yoram Hazony, warum die Europäer Israel fallen lassen. Wired erklärt, wie Künstliche Intelligenz entsteht: einfach Datenhaufen zu Code verdauen. Literaturen feiert den Journalisten Heinrich von Kleist. Himal feiert den Dichter Faiz Ahmed Faiz. The Atlantic beobachtet die neue Nation der Superreichen.

Vanity Fair (USA), 01.02.2011

Sarah Ellison hat die Nachfolgeschichte zu Raffi Khatchadourians großartigem Assange-Porträt im New Yorker geschrieben. Ellison beschreibt die prekäre Zusammenarbeit von Wikileaks mit dem Guardian. Beide haben einiges gemeinsam: sie sind inhaltlich maßstabsetzend und gleichzeitig erschreckend defizitär. Doch ihre Auffassung von Journalismus könnte nicht unterschiedlicher sein: Der Guardian glaubt, dass Fakten vermittelt werden müssen. Assange glaubt an ungefilterte Fakten. "Es kann eine Annäherung geben - bis zu einem gewissen Punkt. Unter [dem Guardian-Chefredakteur Alan] Rusbridger hat der Guardian eine Strategie der Gegenseitigkeit verfolgt, das heißt, er nutzt die Qualität seines Teams, aber öffnet sich auch für das, was die weit offene online-Welt zu bieten hat. Darum ist Rusbridger bereit, mit 'einer Bande konspirativer Anarchisten' zusammenzuarbeiten. Auch Assange hat eine bescheidene Entwicklung durchlaufen. Ursprünglich bestand er darauf, dass keins seiner Dokumente redigiert wird. Er hat seinen Standpunkt etwas revidiert bei den Iraq War Logs und noch mehr bei den Depeschen. ... Aber weiter geht die Annäherung nicht. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass eine der Parteien ihre Grundeinstellung aufgegeben hat, dies je wird oder könnte. Der Konflikt ist so alt wie die Zivilisation selbst - zwischen denen, die schätzen was Institutionen ihnen anbieten, und denen, die allem misstrauen, wofür Institutionen stehen."

Außerdem: William D. Cohan schildert die Hintergründe in dem Rechtsstreit Peter Daou und James Boyce gegen Ariana Huffington (der große Ähnlichkeit mit der Klage der Winklevoss-Zwillinge gegen Mark Zuckerberg aufweist).
Archiv: Vanity Fair

Point (Frankreich), 06.01.2011

Der Papst hat recht, wenn er sagt, dass die Christen zur Zeit die am meisten verfolgte religiöse Gruppe seien, schreibt Bernard-Henri Levy in seiner Kolumne. Und er erinnert daran, dass die Christen in den heute islamischen Länder zuerst da waren. Zwar wäre die Vertreibung auch zu kritisieren, wenn es anders wäre, "aber es setzt noch eins drauf. Es kommt eine, sagen wir metaphysische Dimension dazu. Es war ein irreparables Verbrechen, als sich die arabische Welt ihrer Juden und ihrer Erinnerung entledigte. Dass sie sich nun ihrer Christen entledigt, dass sie den letzten katholischen Gemeinden, die noch imstande sind, in Jesu eigener Sprache zu beten, das antut, was sie den Nachfahren der Stämme Israels angetan hat, wird nicht nur für sie, sondern für die ganze Welt einen herben Verlust bedeuten, einen erneuten geistigen und moralischen Zusammenbruch, eine neue Katastrophe für Zivilisation und Kultur."
Archiv: Point

Merkur (Deutschland), 06.01.2011

Der israelische Philosoph Yoram Hazony versucht, in einem sehr grundsätzlichen Artikel zu erklären, warum Israel in europäischen Augen so dramatisch an Legitimation verloren hat: Europäer und Israelis haben genau umgekehrte Konsequenzen aus dem Zweiten Weltkrieg und Auschwitz gezogen: Die Europäer wollen den Nationalstaat relativieren, die Israelis wollen ihn stärken: "Paradigma A: Auschwitz bedeutet das unsagbare Entsetzen jüdischer Frauen und Männer, die nackt und mit leeren Händen dastehen und zusehen müssen, wie ihre Kinder sterben, weil es ihnen an einer Waffe fehlt, mit der sie sie beschützen könnten. Paradigma B: Auschwitz bedeutet den unsagbaren Schrecken, den deutsche Soldaten verbreiten, die Gewalt gegen andere anwenden und von nichts anderem legitimiert werden als den Ansichten ihrer Regierung über ihre nationalen Rechte und Interessen." Unvereinbare Auffassungen, die auf Israel angewendet noch weiter auseinanderklaffen. "Paradigma A: Israel bedeutet jüdische Frauen und Männer, die mit dem Gewehr in der Hand über ihre Kinder und alle anderen jüdischen Kinder wachen und sie beschützen. Israel ist das Gegenteil von Auschwitz. Paradigma B: Israel bedeutet den unsagbaren Schrecken, den jüdische Soldaten verbreiten, die Gewalt gegen andere anwenden und von nichts anderem legitimiert werden als den Ansichten ihrer Regierung über ihre nationalen Rechte und Interessen. Israel ist Auschwitz."

In der Ökonomiekolumne zeichnet Karen Horn nach, wie sich schon vor Sarrazin Wirtschaftswissenschaftler die Zähne an Evolution und Genetik ausgebissen haben, zum Beispiel der Liberale Friedrich von Hayek.
Archiv: Merkur

Common Review (USA), 10.01.2011

Der Dramatiker Richard Byrne widmet der kroatischen Schriftstellerin Dubravka Ugresic, die für ihren Antinationalismus als Hexe beschimpft wurde und ins Exil in die Niederlande ging, ein ausführliches und sehr freundliches Porträt: "Ugresic äußerte schnell und offen ihre Sympathien für ein multiethnisches und geeintes Jugoslawien, als sich Kroatiens Konflikt mit Serbien 1991 und 1992 zuspitzte. Sie nahm die Stafette auf, die (bis zu seinem Tod 1989) der jugoslawische Schriftsteller Danilo Kis getragen hatte, der in seinem Buch 'Die Anatomiestunde' von 1978 Nationalismus als 'individuelle und kollektive Paranoia' attackierte, als 'die Ideologie der Banalität' als Kitsch. Als Ugresic sich einer nationalistischen Welle gegenübersah, die Kis' schlimmster Albtraum gewesen wäre (einem Albtraum, dem Kis nur durch seinen frühen Tod mit 54 Jahren entging), ging sie zum Angriff über mit den Waffen des Spotts, geschmiedet von Kis und geschliffen von ihrem eigenen bissigen Witz."
Archiv: Common Review

Elet es Irodalom (Ungarn), 07.01.2011

Nach der Verabschiedung des neuen ungarischen Mediengesetzes erwägen nun mehrere Medien eine "Server-Flucht" oder sonstige Formen der virtuellen Emigration. Der Medienwissenschaftler Peter György ist skeptisch: "Dem Internet kommt in jener Struktur der Öffentlichkeit, die als Gegengewicht zum Mediengesetz aufrecht erhalten werden soll, eine große Bedeutung zu, doch Vorstellungen, wonach die Existenz in den globalen Netzwerken und ein Betrieb über ausländische Server die Lösung sei, halte ich für technologischen Utopismus. [...] Ich will der Regierungspartei Fidesz nicht den Gefallen tun, mich in meiner Heimat, in meinem Haus nicht zu Hause zu fühlen."
Stichwörter: Emigration, Fidesz

Wired (USA), 01.01.2011

Steven Levy beschreibt die neuesten Entwicklungen in der Künstlichen Intelligenz: Man hat sich inzwischen von der Idee verabschiedet, das menschliche Gehirn nachzubauen und entwickelt statt dessen bestimmte Teilfunktionen. "AI-Forscher begannen, ein Fundament für neue Techniken zu entwickeln, die ausdrücklich nicht der menschlichen Intelligenz nachmodelliert waren. Indem sie auf Wahrscheinlichkeit basierende Algorithmen nutzten, um aus riesigen Datenmengen Bedeutung abzuleiten, entdeckten die Forscher, dass es gar nicht nötig war, einem Computer beizubringen, wie man eine Aufgabe bewältigt; sie mussten ihm nur zeigen, was Menschen taten und dann die Maschine selbst herausfinden lassen, wie sie dieses Verhalten unter ähnlichen Bedingungen nachahmen könnte. Die Forscher benutzten genetische Algorithmen, die willkürlich generierte Brocken von Code durchkämmen, die ertragreichsten abschöpfen und sie verbinden, um neuen Code zu erzeugen. Während der Prozess wiederholt wird, werden die so entstandenen Programme erstaunlich effektiv, oft vergleichbar mit dem Ausstoß der erfahrensten Kodierer."

Evgeny Morozov erklärt, wie geschickt Russland und China inzwischen das Netz regulieren: Nicht durch plumpe Zensur, sondern indem sie das Surfen für Nutzer mit unerwünschtem Verhalten so unbequem wie möglich machen. "Millionen von Menschen veröffentlichen bereits intime soziale Daten bei Facebook, LinkedIn, Delicious oder ihren russischen und chinesischen Alternativen - mehr braucht die Regierung nicht. Du pflegst eine Online-Freundschaft mit einem regierungskritischen Blogger? Kein Zugang für dich. Du verbringst die meiste Zeit damit, bei Yahoo Finanzen zu surfen? Freier Zugang für dich."

Außerdem: Neal Pollack erzählt, wie Sean Parker erklärte, warum der schwedische Musik-Streaming-Dienst Spotify, sobald er in den USA Fuß gefasst hat, ein äußerst profitables Geschäft sein wird: "'Man wird abhängig', sagte Parker auf einer Tech-Konferenz über Spotify. 'Am Ende hat man eine Musikbibliothek aufgebaut, die 100 mal größer ist als alles was du jemals hattest und an diesem Punkt hast du keine Wahl mehr - wir haben dich an den Eiern. Wenn du diesen Inhalt auf deinen Ipod laden willst, must du dafür zahlen. Wenn du ihn auf dein Iphone laden willst, musst du abonnieren.'"
Archiv: Wired

Salon.eu.sk (Slowakei), 30.12.2010

Der Autor und Journalist Andrei Dynko beschreibt in einem E-Mail- Interview die Proteste gegen Weißrusslands Autokraten Aleksandr Lukaschenko: "Es herrschte eine großartige Atmosphäre. Viele Menschen waren gekommen, auch wenn es für viele offenbar eine einmalige Aktion war und sie die Proteste wohl nicht fortsetzen werden. Auf der anderen Seite schien es zum ersten Mal seit vielen Jahren so, als hätten die Menschen ihre Angst besiegt. Das war etwas Neues. Die Opposition wurde zum ersten Mal sichtbar und kam mit den Menschen von der Straße ins Gespräch. Trotzdem, wenn Repression folgt, kehrt die Skepsis zurück. Das Wichtigste ist jetzt, die Menschen aus der Haft zu bekommen und die Freiheit des Internets zu sichern."
Archiv: Salon.eu.sk

3 quarks daily (USA), 11.01.2011

3 quarks daily hat auf eine Reihe von Artikeln zur Ermordung des pakistanischen Politikers Salmaan Taseer verlinkt. Taseer war Gouverneur des Punjab und ein scharfer Kritiker des Blasphemiegesetzes, das zuletzt benutzt wurde, um die Christin Asia Bibi zum Tode zu verurteilen, weil sie den Propheten Mohammed beleidigt haben soll (mehr hier). Taseers Sohn Aatish Taseer erzählt im britischen Telegraph, wie tausende Pakistanis den Mörder auf dem Weg zum Gefängnis feierten und ihn mit Rosenblättern überschütteten. "Ich sollte noch sagen, dass am Freitag keine Moschee im Land sich gegen den Mord ausgesprochen hat. 2.500 Anwälte meldeten sich, um den Mörder kostenlos zu verteidigen. Und der Regierungschef des Punjab, der nicht am Begräbnis teilnahm, hat noch nicht persönlich meiner Familie kondoliert, die in ihrem belagerten Haus in Lahore sitzen."

Es ist der "Tod der Toleranz", schreibt Gulmina Bilal Ahmad in der pakistanischen Zeitung Daily Times. Sie sieht Pakistan zweigeteilt: in die Mehrheit, die die Ermordung Taseers im Namen des Islams billigt, und eine Minderheit aus "Wischi-Waschi-Liberalen wie ich selbst, die zwar säkulare und tolerante Ansichten haben, aber diese nur in bestimmten [privaten] Situationen artikulieren und praktizieren".

"Cheer on my friends!", ruft bitter Khurram Husain in der pakistanischen Express Tribune der den Mörder bejubelnden Menge zu: "Cheer on the assassin! Smile and clap your hands, chant odes to the ghazi"s bravery! Go ahead, applaud the darkness that is coming your way, because once it has taken you into its embrace, there"ll be no cheer left in your life."
Archiv: 3 quarks daily
Stichwörter: Bibi, Asia, Blasphemiegesetze

Himal (Nepal), 01.01.2011

Zum 100. Geburtstag des 1984 verstorbenen inoffiziellen poetus laureatus von Pakistan widmet das Magazin Himal dem Dichter Faiz Ahmed Faiz eine ganze Ausgabe. Einen Überblick über Leben und Werk des im Westen wenig bekannten Autors gibt Ali Mahdee Hashmi. Faiz, der zeitlebens Kommunist blieb, saß immer wieder im Gefängnis. "1941 heiratete er Alys, ein Mitglied der britischen Kommunistischen Partei. Sie war nach Britisch-Indien gekommen, um ihre Schwester Christabel zu besuchen, die einen Lehrer geheiratet hatte und auf den Subkontinent gezogen war. Christabels Ehemann M D Taseer [Vater des gerade ermordeten Salmaan Taseer, der im Gefängnis Gedichte von Aziz zitierte, Anm. Perlentaucher] war einer der Mitbegründer der Progressive Writer's Association und hatte in England am Entwurf des originalen Manifests mitgearbeitet. In einem seiner ersten Briefe, den er Alys aus dem Gefängnis schrieb, sprach Faiz darüber, wie er über seinen Kampf für soziale Gerechtigkeit dachte: 'Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, es sei falsch und unfair zu erlauben, dass unsere Nächsten und Geliebten für etwas leiden müssen, dass man verehrt. So gesehen ist Idealismus oder das Festhalten an bestimmten Prinzipien auch eine Form von Egoismus.'"

In weiteren Artikeln geht es unter anderem um die im Vergleich zur Urdu-Lyrik etwas enttäuschende englischsprachige Prosa des Autors und um den Versuch, die Gedichte ins Englische zu übersetzen (hier einige Beispiele).
Archiv: Himal
Stichwörter: England

The Atlantic (USA), 01.02.2011

Als Reporterin hat Chrystia Freeland seit Jahren mit den neuen Superreichen zu tun. In ihrem Porträt dieser Kaste erläutert sie, warum die Reichen von heute die Wurzeln zu den Gesellschaften, aus denen sie kommen, zunehmend kappen: "Ihre Mitglieder arbeiten hart, sind bestens ausgebildet, ein meritokratischer Jet-Set, in dem man fest davon überzeugt ist, der verdiente Gewinner eines harten, weltweiten ökonomischen Wettbewerbs zu sein - und viele davon haben eine sehr ambivalente Haltung zu jenen von uns, die nicht so spektakulär erfolgreich sind. Was aber vielleicht am bemerkenswertesten ist: Sie entwickeln sich gerade zu einer transglobalen Gemeinschaft, in der die Mitglieder untereinander mehr gemeinsam haben als mit ihren Landsleuten zuhause. Ob sie ihren Hauptwohnsitz nun in New York oder Hongkong, Moskau oder Mumbai haben: Die Superreichen von heute sind zunehmend eine Nation für sich."

Komplett auf dem Holzweg ist ein Feminismus, der glaubt, die brutale männliche Dominanz beim Sex ließe sich domestizieren. Davon ist Natasha Vargas-Cooper überzeugt. Nach ihren Streifzügen durch die hardcore-pornografischen Seiten des Netzes sieht sie sich darin doppelt und dreifach bestätigt: "Es ist eine zum großen Teil finstere Präsentation dessen, was Frauen alles tun, um Männer zu befriedigen: junge Ehefrauen, die auf der Familiencouch an sich herumfingern, alte Ehefrauen, die sich den Freunden des Ehemanns anbieten, alternde Mütter im schäbigen Korsett, die ihre hängenden Hinterteile in die Kamera halten. In der Pornografie von heute sehen Porno-Stars nicht mehr aus wie Porno-Stars. Das Bild von Jenna Jameson, der berühmtesten professionellen Pornodarstellerin in den USA (auch eine Bestsellerautorin) - mit ihren absurd riesigen Brüsten, viel zu langen Blondhaaren und der künstlich gebräunten Haut - ist ersetzt worden durch das neue Gesicht der Pornografie: eine bleiche ungezogene 19-Jährige mit Körbchengröße A und schlechter Frisur, das Gesicht nur erhellt durch den blauen Dämmer ihres Mac."
Archiv: The Atlantic

Magyar Narancs (Ungarn), 16.12.2010

Im vergangenen halben Jahr hat sich Ungarn dermaßen verändert, dass man es kaum wiedererkennt, findet die liberale Wochenzeitung Magyar Narancs: Die Demokratie ist vorerst gescheitert. Doch dieser Zustand wird sich nur dann festigen können, wenn die Freunde der Freiheit zerstritten bleiben: "Dazu müssen sie vor allem sich selbst ändern, vielleicht auch klüger werden und erkennen, dass sie nicht einander, sondern die Diktatur hassen müssen; ihre bisherigen Ansichten überprüfen und Irrtümer eingestehen, wenigstens sich selbst. [...] Wir glaubten, es bedürfe keiner besonderen geistigen und emotionalen Anstrengung, um die Freiheit zu schützen; dass unter ihren Fittichen jeder frei seine Triebe ausleben könne. Dass jeder den anderen frei niedertrampeln und hassen darf. Die jetzige Situation könnte einen Anlass bieten, unsere schlechten Gewohnheiten zu überdenken und in Ruhe zu besprechen, was die Grundwerte der Wende von 1989/90 sind. Wenn das passiert, erweist Viktor Orban dem Land gerade jetzt einen riesigen Dienst; auch wenn er sich den ein wenig anders vorstellt."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Orban, Viktor

Economist (UK), 06.01.2011

Der britische Zeitungsmarkt ist der aktuell wohl am heftigsten umkämpfte, meint der Economist, darum aber auch der innovativste der Welt. Mit völlig entgegengesetzten Strategien versuchen die Verlage, im Netz und im Print das Geld zu verdienen, das ihnen seit der Revolution verloren ging, die das Internet für ihr Geschäft bedeutet. Eine Strategie ist, wie Rupert Murdoch eine Zahlmauer zu errichten. Das schreckt die meisten Leser ab, nicht jedoch Murdochs News Corporation: "Online-Werbung gilt dort als unzuverlässige Einnahmequelle. Zwar wachsen die Ausgaben dafür insgesamt, jedoch wächst die Zahl der verfügbaren Werbeplätze noch viel schneller; in der Konsequenz sind die Preise so niedrig, dass sich ein Leser, der nur einmal oder zweimal im Monat vorbeischaut, kaum lohnt. Was das Unternehmen stattdessen versucht, ist, den regelmäßigen Lesern das Geld direkt abzuknöpfen, ... über Unterhaltungsangebote von iPad-Apps, über Theater-Tickets bis zu Urlauben in Italien. Rund 250.000 Leute kaufen beim Times Wein-Club."
Archiv: Economist
Stichwörter: Apps, Geld, Murdoch, Rupert, Urlaub

Rue89 (Frankreich), 08.01.2011

In einem Interview mit Rue89 (hier und hier) wiederholt Stephane Hessel, dessen Pamphlet "Empört euch" für Furore sorgt, seine Kritik an Israel, rät den Palästinensern aber zu einer Strategie der Gewaltlosigkeit: "Wenn sie gewalttätig sind, und das sind sie von Zeit zu Zeit gewesen, hat ihnen das nicht viel gebracht. Wenn sie nicht gewalttätig sind, kommen Menschen aus der ganzen Welt, um ihnen zu helfen. Was Mahmoud Abbas vielleicht bewirkt, ist auf jeden Fall mehr als die Hamas bis jetzt bewirkt hat. Die Gewalt des Schwachen gegenüber dem Starken ist keine wirksame Politik. Die Gewaltlosigkeit des Schwachen gegenüber dem Starken dagegen schon." Kritische Reaktionen auf Hessels Israel-Kritik sind hier und hier zu lesen.
Archiv: Rue89

New Republic (USA), 07.01.2011

Für Evgeny Morozov könnte die Gängelung von Wikileaks durch Amazon, PayPal, Visa und Mastercard auch sein Gutes haben: "Unabhängig davon, was mit Julian Assange passiert, hat Wikileaks das Potenzial eine weltweite Kampagne zu katalysieren, die für das Internet das tut, was die Grünen in den 70er Jahren für die Umwelt taten: eine dringend nötige Debatte darüber starten, wie zerstörerisch sich Konzern-Interessen auf ein öffentliches Gut auswirken, eine Diskussion, die zu einer breiten politischen Bewegung führen könnte. Ironischerweise waren es nicht die Aktionen Assanges, sondern die Reaktionen der amerikanischen Firmen auf die Veröffentlichung der Depeschen, die Tausenden von Geeks eine triftige alternative Vision für die Zukunft des Internet gegeben hat."

Filmtheoretiker David Thomson bespricht sehr beeindruckt Claire Denis' Film "White Material", den deutsche Kinogänger wohl nicht zu Gesicht bekommen werden: "Als ich 'White Material' sah, glaubte ich mich in Afrika und ich hatte Angst. Ich glaubte an die unverheilten Wunden der jüngsten Vergangenheit so als würde ich V.S. Naipauls 'Guerillas' lesen. In jenem Roman und in diesem Film spürt man eine Gemeinheit, die sich aus dem in der Geschichte gesammelten Groll ebenso speist wie aus der vom Boden steigenden Hitze und dem Gestank der unbegrabenen Toten."

Und David Hajdu ist hin und weg von Kanye Wests neuem Video, das seiner Meinung nach Glamour, Gewalt und Sex auf furchterregende Weise verbindet: "'Monster', ein Track von Wests neuem Album 'My Beautiful Dark Twisted Fantasy', das ich in die Liste der zehn besten Alben von 2010 aufgenommen hat, ist musikalisch gesehen, ein verstörend unwiderstehliches Meta-Statement von Wests monströsem Ego."
Archiv: New Republic

Literaturen (Deutschland), 01.01.2011

Auf dem Titel im 200. Jahr nach seinem Suizid am Wannsee: Heinrich von Kleist. Von den Artikeln zum Thema ist einer online, nämlich Jens Biskys Porträt des Journalisten Heinrich von Kleist, der freilich auch in seinen erfolglosen Berliner Abendblättern den großartigen Autor nicht verleugnen konnte und wollte: "Im Polizeibericht erfuhr er etwa, dass ein Mann vom Blitz erschlagen worden war. Er erkundigte sich nach Einzelheiten und schrieb dann diese knappe, meisterhafte Szene für die Ausgabe vom 2. Oktober: 'Dem Capitain v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauenzien, sagte der, auf der neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beide ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnnte sich wohl unter einen Andern stellen. Der Capitain Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte sich wirklich unter einen andern: worauf der & Brietz unmittelbar darauf vom Blitz getroffen und getödtet ward.' Dieses journalistische Meisterstück zeigt wieder alle Kennzeichen der Anekdote: Kürze und Zuspitzung sowie das Zusammentreffen von äußerem Zufall und moralischer Entscheidung."

Weitere Artikel: Frauke Meyer-Gosau trifft den amerikanischen Star-Literaten Michael Cunningham in Venedig, wo auch sein neuer Roman "In die Nacht hinein" spielt. Über die drei größten Feinde des Schriftstellers - Kühlschrank, Bett, Internet - schreibt Kristof Magnusson.
Archiv: Literaturen

New Yorker (USA), 17.01.2011

In einem sehr lesenswerten Artikel untersucht Jill Lepore die Wirkungsgeschichte und Wirkungsmacht der amerikanischen Verfassung, um die immer wieder ein regelrechter Kult getrieben wird. So auch im Augenblick: "Ich habe die verrückte Vorstellung, dass die Verfassung tatsächlich etwas bedeutet lautet ein Autoaufkleber. Das alte Pergament dient als Kürzel für alles Alte, Echte, Dauerhafte, Amerikanische und Wahre - es ist ein Talisman, der gegen die Unsicherheiten und Abstraktionen einer bedeutungslosen, wandelbaren, papierlosen Zeit hochgehalten wird ... Originalismus ist populär. Vier von zehn Amerikanern befürworten sie. Nun sind nicht alle Tea-Party-Anhänger Originalisten, aber die Bewegung ist angemessen beschrieben als eine populistische Bewegung, die zum Originalismus tendiert. Dessen populistische Anziehungskraft deckt sich teilweise mit der des Geschichtstourismus: Beide kippen die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart und ermitteln Werte in einem imaginären 18. Jahrhundert, in dem 'das Volk' und 'die Elite' ein perfektes Zweckbündnis eingehen." (Hier mokiert sich Jon Stewart über die Republikaner, die zur Eröffnung des 112. Kongresses die Verfassung verlesen ließen.)

Außerdem: David Brooks erklärt, wie neue Wissenschaftszweige versuchen, die menschliche Natur und das menschliche Alltagsleben zu verstehen und die Lücke zu schließen, die durch die Atrophie von Theologie und Philosophie entstanden ist. Und Anthony Lane sah im Kino Elia Suleimans halbbiografische Komödie "The Time That Remains" und den in die vier Jahreszeiten unterteilten Film "Another Year? von Mike Leigh.
Archiv: New Yorker

Telerama (Frankreich), 09.01.2011

Wer kann die Finanzwelt, diese durchgedrehte Maschinerie stoppen, die unsere westlichen Gesellschaften kaputt macht? Nur durch die Auflehnung jedes Einzelnen, glaubt der Soziologe Alain Touraine, der große Gegenspieler Pierre Bourdieus, in einem Gespräch über die von ihm diagnostizierte "post-soziale Gesellschaft". "Die Globalisierung hat das Soziale zum Verschwinden gebracht. Was ist das Soziale? Eine Art und Weise, materielle Ressourcen zu nutzen, um daraus Institutionen zu schaffen - Schulen, Krankenhäuser etc. Diese zerstörten Institutionen werden durch Mitgefühl und humanitäre Intervention ersetzt, die den Problemen aber nicht gewachsen sind."

Zu lesen ist auch ein Artikel über Regisseure und Schriftsteller, die den Finanzcrash derzeit in aktuellen Arbeiten thematisieren, unter anderem Ariane Mnouchkine in ihrem Theaterprojekt Naufrages du Fol Espoir.
Archiv: Telerama

New York Times (USA), 07.01.2011

Mit sichtlicher Faszination hat Stephen Burn den in Frankreich gefeierten, soeben auch in deutscher Übersetzung erschienenen, äußerst ambitionierten Roman "Zone" von Mathias Enard gelesen. Das formale Hauptcharakteristikum - es gibt nur einen Satz und einen Punkt im ganzen Roman - ist für den Rezensenten sehr viel mehr als ein Gimmick: "Tief in der Chemie des Romans bricht dieser offene Satz auch Zeitgrenzen nieder. Ein abgeschlossener Satz ist ein Baustein - eine Möglichkeit, Zeit im Raum zu kartieren -, der isoliert werden kann, so dass die Bewegung von einer vergangenen in eine gegenwärtige Zeit möglich wird. Indem Enard keine einzelnen Sätze erlaubt, lässt er den Leser frei flottierend in der Flüssigkeit des Bewusstseins seines Protagonisten Mirkovic treiben; ein Ort, an dem antike und klassische Geschichte die jüngeren Ereignisse ständig unterbrechen. In diesem Reich der ewigen Zeit löst sich Mirkovic als einheitliches Subjekt auf und erlangt im Verlauf seiner einsamen Eisenbahnfahrt mythische Dimensionen: Er wird Dante, der durch die Kreise der Hölle zu einer vita nuova reist; Hermes, der die Toten über den Styx geleitet; Vorbote der Offenbarung des Johannes, der die Namen der Toten statt des Buchs des Lebens mit sich führt."
Archiv: New York Times