Magazinrundschau

Die Bücher gehen auf ihre eigene Reise

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
07.02.2023. Im New Yorker erklärt Salman Rushdie, welche Reaktion er sich wünschen würde, wenn ein Außerirdischer seine gesammelten Werke liest. New Eastern Europe erklärt, wie der russische Neo-Imperialismus in der Literatur funktionierte. Wired zeichnet den Weg des Messengers Telegram zu einem Hauptinstrument des Putinismus nach. Hlidaci pes erinnert sich mit Grausen an den Alkoholismus in Zeiten des Kommunismus. The Point lotet mit Olufemi Taiwo die Dialektik des Postkolonialismus aus.

New Yorker (USA), 20.02.2023

David Remnick erzählt noch einmal die Geschichte des indisch-britischen Schriftstellers Salman Rushdie, der sich nach der Messerattacke am 11. August langsam erholt hat. Rushdie war 1989 vom Ayatollah Khomeini mit einer Fatwa für sein Buch "Die satanischen Verse" belegt worden, das Khomenei nach Aussage seines eigenen Sohnes nie gelesen hat. Seitdem ist ein Preisgeld auf seinen Kopf ausgesetzt. Nach elf Jahre des Versteckspiels ging Rushdie nach New York und lebte sein Leben: Er ist gerade zum fünften Mal verheiratet, schrieb Buch auf Buch, unterrichtete, reiste, traf Leser und tanzte die Nacht durch im Moomba. Klingt gut, aber einfach war das nicht. Die Fatwa mit ihrem Todesurteil schwebte über seinem Kopf und mehrere seiner Übersetzer wurden attackiert, einer sogar getötet: "Seit 1989 musste Rushdie nicht nur die Drohungen gegen seine Person abwehren, sondern auch die ständigen Verunglimpfungen seiner Person in der Presse und darüber hinaus. 'Es gab einen Moment, in dem ein 'Ich' im Umlauf war, das erfunden wurde, um zu zeigen, was für ein schlechter Mensch ich war', sagte er. 'Böse. Arrogant. Schrecklicher Schriftsteller. Niemand hätte ihn gelesen, wenn es nicht einen Angriff auf sein Buch gegeben hätte. Et cetera. Ich musste mich gegen dieses falsche Selbst wehren. Meine Mutter pflegte zu sagen, dass ihre Art, mit Unglücklichsein umzugehen, darin bestand, es zu vergessen. Sie sagte: Manche Leute haben ein Gedächtnis. Ich habe ein Vergessnis.' Rushdie fuhr fort: 'Ich dachte nur: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie dieses Ereignis mich als Künstler zerstören kann.' Er könnte sich ganz vom Schreiben zurückziehen. Er könnte 'Rachebücher' schreiben, die ihn zu einem Geschöpf der Umstände machen würden. Oder er könnte 'Angstbücher' schreiben, Romane, die 'vor Dingen zurückschrecken, weil man sich Sorgen macht, wie die Leute darauf reagieren werden'. Aber er wollte nicht, dass die Fatwa zu einem entscheidenden Ereignis in seinem literarischen Werdegang wird: 'Wenn jemand von einem anderen Planeten kommt, der noch nie etwas von dem gehört hat, was mir passiert ist, und einfach die Bücher im Regal stehen hat und sie chronologisch liest, dieser Außerirdische würde glaube ich nicht denken: Diesem Schriftsteller ist 1989 etwas Schreckliches passiert. Die Bücher gehen auf ihre eigene Reise. Und das war wirklich ein Akt des Willens'. Einige Menschen in Rushdies Umfeld und darüber hinaus sind überzeugt, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Selbstzensur, die Angst, Anstoß zu erregen, zu oft zur Tagesordnung geworden ist. Sein Freund Hanif Kureishi sagte: 'Niemand hätte heute den Mut, 'Die Satanischen Verse' zu schreiben, geschweige denn, sie zu veröffentlichen.'" Die Schwedische Akademie, die den Literaturnobelpreis vergibt, erinnert Remnick, "lehnte es ab, eine Erklärung zur Unterstützung von Rushdie abzugeben. Dieses Schweigen wurde jahrzehntelang nicht gebrochen".

Weiteres: Joan Acocella würdigt den Monolog der Frau von Bath, die in Chaucers "Canterbury Tales" ihre höchst fortschrittlichen Ansichten über die Ehe darlegt. Rebecca Mead besucht die britische Aristokratin Lady Glenconner. Leslie Jamison analysiert das plötzlich so populäre Hochstaplersyndrom. Lawrence Wright macht sich in einem Brief aus Texas Gedanken über die plötzliche Popularität Austins, das sich zu einer Tech-Megalopolis entwickle. James Wood liest Gwendoline Riley. Carrie Battan hört The Fierce. Und Anthony Lane sah im Kino M. Night Shyamalans Thriller "Knock at the Cabin".
Archiv: New Yorker

New Eastern Europe (Polen), 01.02.2023

Viel zu lange hat der Westen die Rolle der Sprache und Literatur im Konflikt mit Russland vernachlässigt und so dem russischen Neo-Imperialismus in die Hände gespielt, schreibt Tomasz Kamusella in New Eastern Europe (von Eurozine ins Netz gestellt): "Wie konnte der Westen nicht bemerken, dass Moskau Kultur und Sprache als Waffe instrumentalisiert? Während der langen Jahrzehnte des Kalten Krieges, spendete die 'große russische Literatur' Trost, es gab sogar die Hoffnung, dass ein freies Russland der Zukunft möglich wäre, das es trotz allem zu einem 'normalen europäischen Land' werden würde. Gleichzeitig haben westliche Sowjetologen und Literaturwissenschaftler die sowjetische Praxis, die Literatur anderer sowjetischer Sprachen erst nach dem Erscheinen einer russischen Übersetzung zu veröffentlichen, nicht angezweifelt. Nur dann wurde eine Übersetzung dieses nicht-russischen sowjetischen Romans oder Gedichtbandes in eine westliche Sprache erlaubt. Aber sie musste ausschließlich von der genehmigten russischen Übersetzung ausgehen, nicht vom ukrainischen, aserbaidschanischen oder georgischen Original. Diese Praxis ließ die nicht-russische Literatur der Sowjetunion im Gegensatz zur großen russischen Literatur minderwertig erscheinen. Bis heute ist im Westen der Glaube weit verbreitet, dass das Ukrainische, mit 40 Millionen Sprechern, oder das Usbekische mit 35 Millionen Sprechern, 'kleine Sprachen' sind. Deshalb kann ein ukrainischer oder usbekischer Roman nur in eine westliche Sprache - zum Beispiel Schwedisch mit 10 Millionen Sprechern - übersetzt werden, nachdem sie in einer gut besprochenen russischen Übersetzung erschienen ist. Die Sowjetunion zerfiel vor drei Jahrzehnten, aber der sowjetische Kultur- und Sprachimperialismus besteht immer noch. Der Kreml beansprucht das 'Recht' auf die post-sowjetischen Länder als Teil der 'russischen Welt', weil sie 'keine nennenswerte Kultur' neben der russischen Sprache haben. Russische Ideologen behaupten, dass post-sowjetische nicht-russische Literaturen armselig und derivativ sind, gerade mal ein blasser Schatten der großen russischen Literatur."

Wired (USA), 02.02.2023

Als der Messengerdienst Telegram vor einigen Jahren öffentlichkeitswirksam an den Start ging, war es dem russischen Gründer Pavel Durov noch wichtig, einen digitalen Kommunikationsweg anzubieten, der insbesondere den russischen Behörden nicht zugänglich war. Die gängige Ansicht, dass dieser Dienst per se abhörsicher sei, war zwar immer schon eher ein pr-trächtiger Mythos als realer Fakt. Aber zumindest mit bestimmten Einstellungen sollte der Schutz der Privatsphäre sehr, sehr hoch sein. Dennoch berichten zahlreiche russische Aktivisten von mehr und mehr Hinweisen darauf, dass Putins Ermittler wohl mitlesen. Ob die Geheimpolizei tatsächlich tief in den Gräten der Software sitzt oder ob sie sich einfach nur Spionagesoftware auf die Telefone der Aktivisten gepackt hat, lässt Irene Suosalo in ihrer Reportage zwar offen. Aber lesenswert ist sie alleine schon deshalb für das, was sie über den Wandel des Verhältnisses von Telegram zur russischen Obrigkeit und der Verfilzung damit zu berichten hat: Noch 2018 gab es seitens der Behörden rigorose Blockier-Versuche, weil Telegram die Herausgabe privater Daten verweigerte. 2020 aber platzte einen Milliardendeal, der den Service in wirtschaftliche Bedrängnis brachte. Nur wenige Wochen später "schlugen zwei Abgeordnete der Pro-Kremlin-Partei im russischen Parlament vor, das Telegram-Verbot aufzuheben, weil der Dienst ein wichtiges Kommunikationstool für die Regierung in Zeiten der Krise sein könnte. Durov postete auf Telegram seine Unterstützung für diesen Antrag, weil die Präsenz seiner Firma in Russland die technologische Innovation des Landes, aber auch die 'nationale Sicherheit' stärken könne. Auch behauptete er, dass sein Team die 'Methoden, um extremistische Propaganda aufzuspüren und zu entfernen' seit 2018 verbessert habe. ... Namentlich nicht genannte Quellen aus der Regierung erzählten der russischen Nachrichtenagenture Interfax, dass Telegram zugestimmt hatte, mit den Sicherheitsbehörden in bestimmten Fällen zu kooperieren. ... Einer Quelle aus der Regierung zufolge, die mit dem Deal vertraut ist, war auch die russische Staatsbank VTB, die mit dem Kremlin eng verbandelt ist, an den Verhandlungen beteiligt. Im Januar 2021 kam ein Bericht heraus, demzufolge Telegram VTB angeheuert hat, um den Wert der Firma zu schätzen: etwa 124 Milliarden Dollar im Jahr 2022. Telegram kündigte auch an, dass sie fünfjährige Anleihen anbieten würden. VTB wäre dabei behilflich, sie an Investoren zu verkaufen. Im März 2021 hatte Telegram von diesen Unterstützern mehr als eine Milliarde eingeholt. ... 'Telegram ist heute das zentrale Rückgrat für die russische Desinformationsmaschinerie', sagt Jānis Sārts, Leiter des NATO Strategic Communications Centre of Excellence. 'Und es ist auch ihr Werkzeug, um all die Straßenblockaden zu umfahren, die westliche Plattformen errichtet haben.'"
Archiv: Wired

The Point (USA), 06.02.2023

Andy Lamey gibt einen interessanten Überblick über einige postkoloniale Ideen von Gerechtigkeit. "Woke" Theorien laufen ja bekanntlich ebenfalls unter dem Label "Social Justice Theories". Lamey beginnt mit John Rawls, dessen Theorie der Gerechtigkeit noch ganz ohne einen Gedanken an den Kolonialismus auskommt und benennt dann die Positionen Charles Mills' (recht postkolonial) und Ngugi wa Thiongos (sehr postkolonial). Besonders hat es ihm aber der in Cornell lehrende Olufemi Taiwo (korrekte Schreibweise Olúfẹ́mi Táíwò) angetan, dem der schwarze Pessimismus und ein theoretischer Reinheitsfuror postkolonialer Denkweisen beträchtlich auf die Nerven gehen. Wenn Ngugi wa Thiongo, der ja auch in Amerika lehrt, stolz proklamiert, nur noch in seiner Muttersprache publizieren zu wollen, antwortet Taiwo mit einigen dialektischen Tücken. Olufemis Beispiel ist dabei laut Lamey seine eigene Muttersprache Yoruba: "Auf umgangssprachlicher Ebene steht Yorùbá dem Englischen in nichts nach. In bestimmten akademischen Bereichen ist das Fachvokabular jedoch noch unterentwickelt. Die erste vollständig in Yorùbá verfasste Doktorarbeit wurde zum Beispiel erst 1991 verteidigt. Die Arbeit auf bestimmten Gebieten erfordert zwangsläufig die Verwendung internationaler Begriffe und Konzepte. Eine dekolonisierte Wissenschaft birgt daher die Gefahr in sich, dass sie sich mit dem anstrengenden Projekt der Äquivalenzherstellung belastet, das darin besteht, 'übermäßig viel Zeit mit der Suche nach äquivalenten Begriffen in unseren autochthonen Sprachen zu verbringen, um zu zeigen, dass Yoruba schon lange kann, was Englisch kann'. Das Ergebnis ist, wie Táíwò betont, dass 'unsere Sprachen und ihre Möglichkeiten durch die von den externen Sprachen gesetzten Grenzen definiert werden'. Was als Versuch beginnt, sich dem westlichen Einfluss zu entziehen, endet damit, ihn wieder einzuschreiben."
Archiv: The Point

Quillette (USA), 06.02.2023

Dissidenten aus postkolonialen Ländern wie Olufemi Taiwo (siehe oben) mögen sich doch glaubhafter mit der Kritik an postkolonialen Theorien auseinandersetzen, als christliche Ethikprofossoren aus Oxford wie Nigel Biggar, dessen Buch "Colonialism - A Moral Reckoning" behauptet, es sei doch nicht alles schlecht gewesen am britischen Empire. John Lloyd stimmt ihm weitgehend zu. In einem Punkt mag man ihm sogar folgen: "Sich mit einer Version des Empire zu begnügen, die nur eine korrupte und arrogante Klasse bei der äußerst brutalen Ausplünderung eines Viertels der Welt zeigt, bedeutet, die von ihr auch geförderte und bewahrte liberale Demokratie auf eine bloße Fassade zu reduzieren, die Gewalt, Korruption, Habgier und Heuchelei verdeckt."
Archiv: Quillette

Hlidaci pes (Tschechien), 04.02.2023

Trinken in Zeiten des Sozialismus - Barbora Šťastná berichtet in einem interessanten Artikel davon, wie allgegenwärtig Alkohol in der Jahren der kommunistischen "Normalisierung" in der Tschechoslowakei war: Von den 60er- zu den 80er-Jahren habe sich die Anzahl der Alkoholiker verdreifacht. Die Atmosphäre allgemeinen Misstrauens und die Unmöglichkeit, bestimmte Ambitionen zu realisieren, machten, dass Trunkenheit zu einer willkommenen und gesellschaftlich relativ anerkannten Ausflucht aus der grauen Realität wurde. Auch in der Arbeit, auf Versammlungen, auf dem Bau. "In einer Gruppensitzung erzählte mir ein Arbeiter, wenn die Männer montags zur Baustelle kämen und kein ideales Wetter sei, setzten sie sich hin und fingen an zu trinken", berichtet Vladimír Řehan, damaliger Leiter eines Entzugssanatoriums. "Manchmal tranken sie eine ganze Woche. Der Bauleiter musste ihnen dann fiktive Leistungen ausweisen." Auch die heimische Schwarzbrennerei von Schnaps war weit verbreitet. Božena Beňová erinnert sich, in ihrer Kindheit in der Ostslowakei war Schnapstrinken ein so eingefahrener gesellschaftlicher Zwang, dass ihre Eltern in die Methodistenkirche eintraten, in der Alkohol verboten war: "In Zemplín wurde schlimm gesoffen, nach dem Gottesdienst ging man geradewegs in die Wirtschaft, und wer nicht wie die anderen trank, hatte keine Chance. Der Beitritt zu unserer Kirche war eine gewisse Lösung, dem Druck zu entkommen." Das kommunistische Regime sah Alkoholismus als großes Problem an, das anfangs freilich als "Erbe des Kapitalismus" deklariert wurde. Man versuchte, dem Problem unter anderem mit Preiserhöhungen für Luxusspirituosen zu begegnen. (Die Bierpreise zu erhöhen kam nicht in Betracht.) In der Gegend von Ostrava warb das Regime, um Hochprozentiges zu bekämpfen, sogar eigens für Wein und errichtete Weinanbaubetriebe, um die Gesundheit der Bergarbeiter wenigstens etwas zu bessern. Im medizinischen Bereich war Behandlung von Alkoholsucht oft eine Domäne politisch missliebiger Ärzte, da niemand anders diese Arbeit machen wollte. Eine wichtige Persönlichkeit sei der Arzt Jaroslav Skála gewesen, der schon früh einen Club nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker gründete - da sein Programm auch spirituelle Elemente enthielt, war es den Kommunisten ein Dorn im Auge. Um ihn sammelte sich über die Jahre ein Kreis von Ärzten und Therapeuten aus dem Dissidentenmilieu, die Alkoholiker behandelten und sich von der gängigen Aversionstherapie abwandten. Psychotherapeutische Übungen, bei denen Menschen von persönlichsten Dingen berichteten, wurden dann natürlich auch für die Staatssicherkeit interessant, die in den siebzger Jahren offenbar gezielt auch Psychiaterspitzel einschleuste.
Archiv: Hlidaci pes

Qantara (Deutschland), 26.01.2023

Ayse Karabat erzählt in Qantara die Geschichte von H.K.G. - unter diesen Initialen ist sie in der türkischen Presse bekannt - die mit sechs Jahren mit einem 29-jährigen Mitglied der Gemeinde ihres Vaters verheiratet wurde und seit sie erwachsen ist gegen das türkische Justizsystem kämpft, das nichts gegen diese Zwangsehe und die damit einhergehenden Vergewaltigungen unternahm. "Obwohl Kinderehen strafbar sind, gibt es sie in der türkischen Gesellschaft weiterhin. Laut einer Studie mit dem Titel 'Child, Early and Forced Marriage in Turkey: Data Analysis of Turkey Demographic and Health Surveys 1993-2018' (Kinderehen, Früh- und Zwangsheirat in der Türkei: Datenanalyse der demografischen und gesundheitlichen Erhebungen in der Türkei zwischen 1993 und 2018) wurde jede fünfte türkische Frau, die heute zwischen 18 und 45 Jahre alt ist, vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. Durchgeführt wurde die Studie von UNFPA Türkiye und dem Institut für Bevölkerungsstudien der Hacettepe Universität. H.K.G. besuchte nie eine Schule und war daher nicht im offiziellen Bildungssystem registriert, obwohl alle Kinder ab dem Alter von sechs Jahren für zwölf Jahre lang schulpflichtig sind. ... Laut der Vorsitzenden von Eğitim Sen, Nejla Kurul, gehen in der Türkei 1,5 Millionen Mädchen nicht zur Schule. Kurul ist davon überzeugt, dass H.K.G. den Lehrkräften von ihrem Missbrauch erzählt hätte, wenn sie zur Schule gegangen wäre."
Archiv: Qantara
Stichwörter: Türkei, Zwangsehe, Vergewaltigung

Elet es Irodalom (Ungarn), 03.02.2023

Seit Wochen ist in Ungarn eine Diskussion im Gange, in der es um die Ansiedlung von chinesischen Lithium-Batteriefabriken als Zulieferer der E-Auto-Herstellung geht. Sowohl für die Regierung als auch für die Opposition ist unerwartet eine ernstzunehmende Protestwelle entstanden, in deren Mittelpunkt neben Existenzängsten auch der Umweltschutz steht. Ungarn soll nach Vorstellung der Regierung eine Hochburg der Herstellung von Batterien werden, was in der Manier der letzten zwölf Jahre mittels Verordnungen durchgesetzt werden soll. In den betroffenen Regionen sinken die Grundstückpreise, Anwohner fürchten um ihre Gesundheit und immer wieder ist zu hören, dass die Einnahmen privatisiert und die Kosten aber vergemeinschaftet würden. Der Publizist János Széky sieht in der geplanten Ansiedlung eine weitere Tendenz zur zunehmenden Unterdrückung der Mittelschicht: "Die zwanghafte Erhöhung des Gewichts der Industrie, gegen alle heutigen Tendenzen, das Austrocknen der hiesigen technischen Entwicklungen und Innovationen, um diese entbehrlich zu machen, das systematische Schrumpfen des Anteils der Wirtschaft, der nicht durch den Staat kontrolliert wird, hat eine fatale Folge: die autonome Mittelschicht, mit einem schönen alten Wort: die Bürgerschaft wird noch schwächer als das bis jetzt ohnehin schon der Fall war. Eine der Konsequenzen der Operation ist, dass der Preis der Autonomie erhöht wird. Es kostet nicht wenig Geld und Hinwendung, wenn man anstatt der kostenlosen und fertig repräsentierten Regierungspropaganda, wahre Informationen über das Land und die Welt erhalten möchte. Es wird schwieriger und kostspieliger, die Kinder entsprechend zu unterrichten, damit diese durch eine wettbewerbsfähige Bildung weiterhin zur Mittelschicht gehören können, denn die Regierung verschlechtert systematisch die Lage der Universitäten und greift nun auch die säkularen Gymnasien an. Andererseits gibt die Macht mit dem Schrumpfen der freien Wirtschaft zu verstehen: Wenn du deinen immer kostspieligeren Status in der Mittelschicht halten möchtest, wäre es empfehlenswert, uns zu dienen, und wenn du nicht meckerst, sorgen wir für dich, sogar mit einem Elektroauto, so dass die Umwelt geschützt wird. Das Ziel ist es, eine auf Dummheit, Gemeinheit und auf Untertanengeist basierende Gesellschaft zu schaffen. Und wenn in Ungarn keine Bürger mehr bleiben, dann wird dies auch gelingen."

New York Magazine (USA), 07.02.2023

Hollywood und die Streaming-Dienste haben bemerkt, wie viel Geld sich mit Dokumentationen machen lässt und dem Genre einen ungeahnten Boom beschert. Doch für Reeves Wiedeman ist das kein Grund zur Freude. Denn die damit verbundene Gewinnerwartungen bedeuten für die Branche vor allem: True Crime, Celebrities-Biografien und strikte Vorgaben für Schnitt und Struktur. Aus dem Genre, das bisher sein Selbstverständnis aus Engagement und Aufklärung bezog, ist ein kommerzielles Produkt für ein Multimillionen-Publikum geworden, das ziemlich nah ans Reality-TV gerückt sei: "Dies hat der Welt des Dokumentarfilms eine Identitätskrise beschert. Was ist überhaupt noch ein Dokumentarfilm? Es gibt mehr Geld als je zuvor, aber es ist mit Erwartungen verknpüft, die es nicht gab, als die Branche in Bezug auf Ethik und Geschmack dem öffentlichen Rundfunk näher stand als Hollywood. Die Menschen, die sich bereit erklären, ihre Geschichten zu erzählen, verlangen jetzt Kontrolle oder Geld, so dass die Dokumentarfilmer jetzt zwischen der Verbindlichkeit gegenüber ihren Protagonisten, den Anforderungen des Algorithmus und ihrem Wunsch, gute Arbeit zu leisten, navigieren müssen. Für das Publikum ist es fast unmöglich geworden, künstlerische oder journalistische Werke von glorifiziertem Reality-TV oder Public-Relations-Übungen zu unterscheiden: Ein HBO-Max-Abonnent kann durch die Registerkarte Dokumentarfilme scrollen und zwei Filme über Lizzo finden, die sie selbst produziert hat, 41 Filme und Serien, die als True Crime firmieren, einen Oscar-nominierten Film über den russischen Dissidenten Alexej Nawalny und 'Wahl Street', 'einen Einblick in das Leben des Weltstars Mark Wahlberg, der mit den Anforderungen seiner privaten und beruflichen Welt jongliert und sich abmüht, sein expandierendes Geschäftsimperium auszubauen'." Gegen diesen Trend haben sich, wie Wiedeman berichtet, einige Filmemacher zur Documentary Accountability Working Group zusammengeschlossen, die Richtlinien fürs ethische Filmemachen erarbeitet.

Prospect (UK), 25.01.2023

Isabel Hilton liest neue Bücher, die sich eingehend mit chinesischer Geschichtsumdeutung befassen: Wer mit Ewigkeitsanspruch regiert, hätte natürlich auch gern, dass die Geschichte folgerichtig auf einen zugeführt haben wird. Entsprechend lässt Xi Jinping gerade die Achtziger umdeuten, stellt Hilton bei der Lektüre fest: Damals gab es durchaus demokratische Bestrebungen, die Julian Gewirtz in seinem Buch "Never Turn Back: China and the Forbidden History of the 1980s" beschreibt: "Wie er in seinem sorgfältig recherchierten Buch erzählt, war die Forderung nach Demokratie in den Achtzigern nicht nur ein Ruf von der Straße oder aus den Reihen marginalisierter, dissidenter Intellektueller, die in der Öffentlichkeit stehen. Der Streit darüber, was in der Kulturrevolution geschehen war und warum und wie man eine Wiederholung verhindern könne, wurde ein Jahrzehnt lang auch in den höchsten Rängen der Partei geführt. Angeführt und am Leben gehalten wurden diese Debatten von einem Mann, der heute im Grunde genommen aus dem offiziellen Narrativ gestrichen ist, ein Mann, der China auf den Weg in den Wohlstand führte: Zhao Ziyang. ... Er machte sich stark dafür, von der Planwirtschaft abzuweichen: Er veranlasste eine Reihe von Reformen wie die Einrichtung offener wirtschaftlicher Zonen und bäuerlichen Unternehmertums - typische Programme für die Achtziger, die heute Deng Xiaoping zugeschrieben werden. Hätte er es damit bewenden lassen, stünde Zhaos Name wohl auch heute noch in Ehren. Aber er befürwortete auch Meinungs- und Pressefreiheit, eine unabhängige Rechtsprechung und die Trennung von Partei und Regierung - zum Teil auf der Grundlage, dass die wirtschaftlichen Reformen ohne eine politische Reform wohl nicht durchgeschlagen hätte. Diese Ansichten werden heute 'bürgerlicher Liberalismus' genannt und gelten explizit als tödliche Bedrohungen für die Herrschaft der kommunistischen Partei."
Archiv: Prospect

Columbia Journalism Review (USA), 30.01.2023

Das gerühmte Genre der großen amerikanischen Recherche ist auch nicht mehr, was es mal war. Mit großem Brimborium brachte die Columbia Journalism Review letzte Woche Jeff Gerth' vierteilige Untersuchung über die amerikanischen Medien und Trump, aber der Artikel ist so ausufernd und detailhuberisch, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Leider bringt Gerth die ungute Symbiose, die sich nach Donald Trumps Wahl zwischen den Medien und Trump etablierte, nicht wirklich auf den Punkt: Dazu fokussiert er viel zu sehr auf nur einen Aspekt dieses Phänomens, die Fixierung der Medien auf die russischen Verbindungen Trumps. Einerseits macht Gerth durchaus glaubhaft, dass die Medien die Behauptung von der Russland-Connection oft ohne viele Belege immer weiter trieben - nur völlig von der Hand zu weisen war sie ja letztlich auch nicht. Trump erscheint bei Gerth als eine Art Unschuldsknabe, der zunächst ein gutes Verhältnis zu den Medien suchte, aber dann von ihren feindseligen "Fake News" überschwemmt wurde. Analytisch hat Gerth' Artikel überhaupt keine Qualität, und das zynische Kalkül der Medien - allen voran New York Times und CNN -, die das Trump-Thema auspressten wie eine Zitrone, weil der Mann Quote und Werbeeinnahmen brachte, thematisiert er überhaupt nicht. Dennoch ist Gerth' Artikel lesenswert, auch weil er die Ruinenlandschaft, die die Trump-Phase hinterließ, klar benennt: "Vor der Wahl 2016 vertrauten die meisten Amerikaner den traditionellen Medien, und der Trend war positiv, wie das Edelman Trust Barometer zeigt. Der Begriff 'Fake News' wurde nur von einigen wenigen Reportern und Social Media Watchdogs verwendet. Die Idee, dass Medien 'Feinde des amerikanischen Volkes' seien, wurde vor der Trump-Wahl laut einer Nexis-Suche nur ein einziges Mal geäußert, und zwar kurz vor der Wahl in einem obskuren Podcast, nicht von Trump. Laut einer Studie des Reuters Institute for the Study of Journalism aus dem Jahr 2022 genießen Medien in den USA unter 46 befragten Nationen heute die geringste Glaubwürdigkeit - 26 Prozent. Im Jahr 2021 sahen 83 Prozent der Amerikaner 'Fake News' als Problem an, und 56 Prozent - vor allem Republikaner und Unabhängige - stimmten zu, dass die Medien 'wirklich der Feind des amerikanischen Volkes' seien, so die Rasmussen Reports."

Merkur (Deutschland), 01.02.2023

Ekkehard Knörer rekapituliert mit vielen Verweisen auf die üppige Literatur, was bisher in der großen Twitter-Saga geschah - und wie Elon Musk den Exodus zur Open-Source-Alternative Mastodon befördert hat: "Man hat noch einen Koffer bei Twitter, es gibt, sogleich heftig umstritten, einigen Crosspost-Verkehr zwischen Mastodon und der birdsite. Andere begannen dennoch rasch, ihre soziale Welt von Twitter auf Mastodon zu rekonstruieren, rasch programmierte Wiederfinde-Software war behilflich dabei. So problematisch die Metapher von Flucht, Exil, Neuanfang ist: Dass viele sie verwendeten, zeigt symptomatisch, wie sehr manche ihr soziales Netzwerk als eine Form von Heimat begreifen. Die neue Heimat, bisher in einer vergleichsweise sehr windstillen Nische, zeigte sich von den Neuen, ihren Sitten, ihren Ansprüchen, dem oft etwas rüden Twitter-Spirit keineswegs nur begeistert. So sorgte die Eröffnung einer Instanz eigens für Journalisten durch den renommierten US-Journalisten Adam Davidson (journa.host) sogleich für Debatten, der Server wurde von ein paar Instanzen als Unruhestifter schnell deföderiert. Für manche der bisherigen Benutzerinnen und Benutzer waren die Veränderungen durch die Neuen ein Kulturschock, für die alten Hasen die Wiederkehr des 'Eternal September', des Moments also, in dem die Internet-Provider 1993 die Schleusen zum bis dahin vor allem von Nerds genutzten Usenet öffneten."

Außerdem verteidigt Martin Hartmann die feministische Philophie gegen Kritik, die ihr wahlweise zu viel Praxisnähe oder abstrakte Abgehobenheit vorwirft: "Die feministische Philosophie gehört zu den spannendsten und innovativsten Strömungen der gegenwärtigen Philosophie."
Archiv: Merkur
Stichwörter: Musk, Elon