Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.03.2005. In der Lettre erzählt der Historiker Philippe Videlier die Geschichte des Völkermords an den Armeniern. In Outlook India hat die Schauspielerin Seema Rahmani ihre eigenen Ansichten über die Besetzungscouch. Im New Yorker erschauert Adam Gopnik vor der Größe der Herausforderung, einen Blumenkohl zu karamelisieren. In Literaturen diskutieren vier Autoren über den Fremden-Hype in der deutschen Literaturszene. In Polityka denkt Adam Krzeminski darüber nach, warum es keine gemeinsame europäische Erzählung vom Zweiten Weltkrieg gibt. Im Espresso regt sich Umberto Eco über das Medienparlament Berlusconis auf. Die London Review of Books verzweifelt an Labour. Al Ahram begeistert sich für eine Aufführung von Biljana Srbljanovics "Family Stories". Der Nouvel Obs entdeckt das neue Klassenbewusstsein. In Magyar Hirlap wundert sich der Publizist Tibor Varkonyi über die Nettigkeit, mit der Wladimir Putin in Paris empfangen wurde.

Lettre International (Deutschland), 01.04.2005

In der neuen Lettre erzählt der Historiker Philippe Videlier die Geschichte des Völkermords an den Armeniern. Sie beginnt mit dem Sultan Abd-ül Hamid, "dessen Gesicht niemand anblicken durfte. 'Er hat kein schönes Äußeres, in moralischer Hinsicht ist er noch hässlicher', versicherte einer der Männer des Tages, ein kultivierter Revolutionär, den seine Freunde 'den Philosophen' nannten, weil er Platon, die Kabbala und selbst die Leitgedanken des Sozialismus kannte." Und geht weiter mit den "Jungtürken", die nach dem Sturz des grausamen Sultans die Macht übernahmen. "Die Jungtürken hatten den Namen 'Komitee für Einheit und Fortschritt' angenommen, der zu positiven Erwartungen berechtigte. Die Bewegung hatte zivile Führer und ruhmreiche militärische Vertreter. Aus Paris kamen Ahmed Riza, der Direktor des Meschweret, der in der rue Monge im Quartier Latin gewohnt hatte, und Doktor Nazim, ein Absolvent der Medizinischen Fakultät, den man gern als den 'Missionar der liberalen Ideen in Kleinasien' vorstellte." Es waren dann aber diese Herren, die den Völkermord an den Armeniern befahlen. Videlier vergisst in seiner Geschichte auch nicht, die Reaktionen der ausländischen Presse und Diplomaten zu notieren.

Außerdem in diesem mal wieder überreichen Heft: Der Ethnologe Abdellah Hammoudi beschreibt seine Erlebnisse auf der Pilgerreise nach Mekka. Eliot Weinberger hat Zitate aus Zeitungen und Fernsehen zu einer eindrucksvollen Geschichte des Irakkriegs zusammengestellt: "Was ich hörte vom Irak". Dokumentiert ist ein langes Gespräch, das Norman Manea mit Saul Bellow führte. Und Oliver Sacks berichtet über neurologische Anomalien, Bewegung, Denken und Zeit.

Outlook India (Indien), 04.04.2005

Eine Sonderausgabe: Indiens Aufstieg 1995-2005. Viel Wirtschaft, viel Finanzen, und Shankar Acharyas Einführung ins Thema. Zwischendrin: Sandipan Debs mahnende Bestandsaufnahme der indischen Konsumgesellschaft und Paromita Shastris Bericht über die große Masse der Armen, die von den Wirtschaftsreformen der letzten Dekade herzlich wenig hatten: "Es gibt Dinge in Indien, die ändern sich nie. Als ich an einer vielen Ampeln der Hauptstadt zum Stehen komme, auf einer Straße, die viel glatter ist als 1995, in einem Fahrzeug mit dem neuesten globalen Qualitätszertifikat, umgeben von Luft, die viel sauberer ist als vor einem Jahrzehnt, und gut angezogene Menschen, die auf Laptops schreiben oder in Mobiltelefone sprechen - da klopft eine dünne, kleine Hand an mein geschlossenes Fenster. Der kleine Junge möchte eine Rupie."

Die Schauspielerin, Drehbuchautorin und Dichterin Seema Rahmani hat einigen "bekannten Bollywood-Gentlemen" bei einer Unterhaltung über die sogenannte "Casting-Couch" zugehört. Und während sich ein paar in der Runde wissend gaben, stritt einer von ihnen ab, das Schauspielerinnen von Regisseuren oder Produzenten zum Sex genötigt werden: "Die Casting-Couch existiert für Flittchen", so seine Gewissheit - "nicht für Schauspielerinnen". Rahmani wundert sich: "Wenn das so ist, dann muss ich mich als jemand, der mit der Casting-Couch konfrontiert worden ist, fragen, was genau eine Schauspielerin von einem Flittchen unterscheidet."

Und: Girish Karnad, einer von Indiens bedeutendsten Dramatikern, führt nach über 35 Jahren, wieder bei einem seiner Stücke Regie - Sugata Srinivasaraju hat ihn getroffen.
Archiv: Outlook India

New Yorker (USA), 04.04.2005

Adam Gopnik schreibt ausführlich über einige neue gastronomische (aber nicht Koch-) Bücher. Es gebe unterschiedliche Arten, über das Essen zu schreiben, bemerkt er eingangs. Eine davon besteht darin, die Leser erst einmal zum Lachen zu bringen. Sie wird etwa auch in einem Buch über den Dreisternekoch Bernard Loiseau praktiziert, dessen Selbstmord vor zwei Jahren große Erschütterung in der Fachwelt hervorrief: "Wenn wir in Rudolph Chelminskis 'The Perfectionist: Life and Death in Haute Cuisine' über das Leben des Dreisternekrochs lesen, wie Loiseau unablässig nach einem Weg suchte, den Blumenkohl von einem deprimierenden Gemüse in eine glanzvolle Beilage zu verwandeln, indem er ihn karamelisierte, dann lächeln wir zuerst, und dies wird auch von uns erwartet. Es geht ja nur um die Karamelisierung von Blumenkohl. Wenn die Suche dann aber Kraft und Dringlichkeit gewinnt und wir erfahren, wie Loiseau blanchierte, passierte und pürierte, dann erschauern wir vor der Größe der Herausforderung."

Weitere Artikel: Der Harvard-Professor und Arzt Atul Gawande erzählt in einem Artikel mit dem beunruhigenden Titel "Piecework" "how doctors make their money". Joyce Carol Oates bespricht Thriller von Peter Abrahams. Peter Schjedahl sieht sich eine Jean-Michel-Basquiat-Retrospektive im Brooklyn Museum an. Masha Lipman schreibt über Vladimir Sorokins Schwierigkeiten mit der russischen Zensur. Und Hendrik Herzberg denkt über das "Terri Schiavo Dilemma" nach.
Archiv: New Yorker

Literaturen (Deutschland), 01.04.2005

Aus dem Schwerpunkt, der sich mit dem Begriff des Fremden befasst, ist das Literaturen-Gespräch zu lesen, in dem "vier nicht ganz deutsche Autoren" - Terezia Mora, Imran Ayata, Wladimir Kaminer und Navid Kermani - über den Fremden-Hype in der zeitgenössischen Literaturszene und das Fremde in der Literatur diskutieren. Gleichzeitig sehen sie nicht ein, warum gerade sie als Spezialisten für das Fremde herangezogen werden sollten, schließlich fange das Fremde, wie Navid Kermani bemerkt, schon beim weiblichen Körper an (was Terezia Mora übrigens auch findet). Es sei geradezu ärgerlich, dass bisweilen noch immer eine Art von Norm hochgehalten werde, die zwangsläufig alles abweichende als fremd bezeichne, und das in einem Land, das Kafka als nationales Literaturgut für sich beansprucht. Mora erzählt dazu eine Anekdote: "Wir alle sind um 1970 herum geboren. Für uns war der Mauerfall tatsächlich auch biografisch die historische Zäsur. Seither leben wir alle in einer anderen Welt. Als ich diese These neulich an einem Tisch mit einem West-Autor von mir gab, da schnippte der die Asche von seiner Zigarette und sagte: Ich nicht. Demzufolge wäre westdeutsch der Normalzustand: Nur der Kern-Wessi muss sich nicht rechtfertigen. Was der Kern-Wessi schreibt, ist demnach die Norm, alles andere kommt halt so dazu. Das regt mich auf."

Sichtlich irritiert vom bombastischen Erfolg der Verschwörungs-Bestseller eines Dan Brown versucht Ulrich Baron zu verstehen, wie das besondere Erfolgsrezept der Trivialität aussieht: "Die Welt des Dan Brown ist voller Geheimnisse, Codes, Symbole, Mysterien, Verschwörungen, und das ist auch fast schon alles, denn wenn man diese Zutaten abzieht, dann bleibt kaum noch Welt übrig. Diese Bücher sind spielerische Appelle an einige der niedrigsten Instinkte, denen Homo sapiens sein Überleben und seinen evolutionären Erfolg verdankt: Neugier und Misstrauen."

Weitere Artikel: Im Kriminal verlangt Franz Schuh die gerade mal 120 Seiten lange Kriminalnovelle "Die entartete Seezunge" von Janwillem van de Weterings gehörigen Respekt ab. Zwar wird in Italien nicht so viel gelesen, stellt Henning Klüver fest, doch die Italiener haben die weitaus schöneren Buchmessen (zum Beispiel das Festival "Ad alta voce" in Venedig und Bologna) und können, wie Klüver findet, auf eine hochkarätige Buchsaison zurückblicken. Und schließlich: Was liest Peter Stamm? Er liest immer gezielter, und eigentlich nur noch im Hinblick auf seine eigene Schreibarbeit.
Archiv: Literaturen

Point (Frankreich), 24.03.2005

Große Angst geht um vor dem französischen Referendum zur europäischen Verfassung. Bernard Henri Levy wendet sich in seiner Kolumne gegen die "Demagogie" der Verfassungsgegner: "Es stimmt nicht, dass die Verfassung zu einem Rückschritt der Demokratie führen wird, im Gegenteil: Sie kommt voran, nicht weit genug, aber in entscheidender Weise, denn das europäische Parlament, das ein Scheinparlament war, wird legislative Macht erhalten. Die Demokratie wird auch vorankommen, weil die nationalen Parlamente ihr Kontrollrecht besser werden ausüben können. Sie wird vorankommen, weil der Präsident der Kommission, der bisher ernannt wurde, nun gewählt wird; und sie wird vorankommen, weil die Verantwortlichkeit für die europäische Währung, die bisher allein bei der Zentralbank lag, nun einer stärkeren Wirtschaftsregierung anvertraut wird."
Archiv: Point

Espresso (Italien), 31.03.2005

Warum verkündet Silvio Berlusconi seine Entscheidungen nicht im Parlament, sondern im Fernsehen? Weil ihn in seinem selbstgeschaffenen Medienparlament kein Widerspruch und erst recht keine Debatte erwartet, poltert Umberto Eco in einer schön polemischen Bustina di Minerva. "Dieses Vorgehensweise ist ein typisches Beispiel des Teleshoppings: Wer eine Haarlotion verkauft, kann um halb neun zwei Fotos eines Kunden zeigen, der vorher völlig kahl war und danach wieder einen dichten Haarwuchs aufweist, um dann um halb elf zu behaupten, sein Produkt sei natürlich seriös, es verspreche ja nicht, verschwundene Haare wieder sprießen zu lassen, sondern es sei wunderbar darin, die noch verbliebenen Haare vor dem Ausfallen zu bewahren. Inzwischen haben die Zuschauer gewechselt, oder wenn es die gleichen gebleiben sind, haben sie schon vergessen, was vor zwei Stunden gesagt wurde, und sie behalten nur den Eindruck, dass der Verkäufer mit bodenständigen Argumenten und nicht mit falschen Hoffnungen wirbt."

Der Kulturteil beschäftigt sich mit dem italienischen Buchmarkt. In Italien wird auch beim Literatureinkauf immer mehr gespart, weshalb Taschenbücher der Renner des Jahres 2004 waren, erfährt Tatiana Battini aus der Statistik. Außerdem ist die Belletristik auf dem Vormarsch. Bester Italiener ist Giorgio Faletti mit "Niente di vero tranne gli occhi", Dan Brown sahnt wie überall ab mit seinem "Il codice Da Vinci", bei den Sachbüchern führt die berühmt-berüchtigte Oriana Fallaci mit "La forza della ragione". Monica Capuani feiert hingegen Chico Buarque und seinen Roman "Budapest".

Im Titel erfährt Gigi Riva von einer etwas paranoiden Alessandra Mussolini, wie diese sich an ihren ehemaligen Parteifreunden der Alleanza Nazionale rächen will. Mussolini wittert eine Verschwörung, seit ein Gericht ihre ultrarechte Partei Soziale Alternative wegen angeblicher Unterschriftenfälschung kurzzeitig von den Regionalwahlen in Latium ausgeschlossen hatte.
Archiv: Espresso

London Review of Books (UK), 31.03.2005

Bald sind Wahlen in England. Labour wird dann acht Jahre regiert haben und aller Voraussicht nach weitere vier Jahre regieren. Für John Lanchester ist dies der Moment, sich seine bodenlose Enttäuschung einzugestehen: "Das ist eine Labour Regierung? Das ist es, worauf wir in 18 Jahren Tory-Herrschaft gehofft haben? Krieg, Studiengebühren, Hausarrest, totale Unterwerfung unter die amerikanische Außenpolitik, das kühl überlegte, manipulative Spiel mit der Angst, die Einführung von Personalausweisen, die Aussetzung von habeas corpus - und das waren die guten Jungs. Was ist passiert?" Lanchaster sucht eine Erklärung in Stephen Pollards Biografie über David Blunkett (mehr), einem Mann, der von 1980-87 Anführer der "Sozialistischen Republik von Süd-Yorkshire" war und einige Jahre später zum "rechtesten, autoritärsten Innenminister" in Lanchasters Erinnerung wurde. Doch leider, "Pollard erzählt uns was passiert ist, aber nicht, warum es passiert ist".

Weitere Artikel: Jenny Diski staunt über Piers Morgans Erinnerungen an seine Zeit als Chefredakteur der englischen Boulevardzeitung Daily Mirror. Was für ein unglaublicher Langweiler! Seine ganze Geschichte handelt davon, wie er von Leuten wie Elton John, Prinzessin Diana, Georgeh Micheael, Anthea Turner, Richard Branson etc. "ernst" genommen wurde. Sein Lieblingsmogul ist natürlich Rupert Murdoch. Morgan (mehr hier und hier) beschreibt die enervierende Art, mit der Murdoch "wie ein Geist" irgendwo erschien und seine Untergebenen zu Tode erschreckte - vor allem, wenn es sie auf dem Klo traf. "Ich meine, was zur Hölle sagt man, wenn der mächtigste Tycoon der Welt neben dir steht und dein Reißverschluss ist offen?" zitiert die Rezensentin Morgan. Diskis Vorschlag: "Ihr Penis ist so viel größer als meiner, Mr. Murdoch, sir, und ich würde Ihre Scheiße als Zahnpasta benutzen."

Weitere Artikel: Rory Stewart vergleicht einige Neuerscheinungen über den Irakkrieg mit seinen eigenen Erfahrungen dort. In den Short Cuts bedauert Thomas Jones den armen Michael Jackson: Jetzt ist es zu spät für ihn, jung zu sterben und eine Legende zu werden. Peter Campbell hat die Caravaggio-Ausstellung in der National Gallery besucht.

Gazeta Wyborcza (Polen), 26.03.2005

"Sie wundern sich, dass Russland weiterhin an seiner alten Vision der Jahre 1939-1945 und den kompromittierten moralischen Rechtfertigungen des Hitler-Stalin-Paktes, des Überfalls auf Polen und der Aggression gegen die baltischen Staaten fest hält? Für fast alle Russen ist der Sieg im Zweiten Weltkrieg das glorreichste Ereignis des 20. Jahrhunderts. Russland ist enttäuscht von den Veränderungen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion eingetreten sind. Also flüchtet man in die glorreiche Vergangenheit, in die Zeiten als man noch ein Imperium war", erklärt der russische Historiker Jurij Afansajew. Vor allem die Veteranen fühlten sich missachtet, und für sie sei dieser 9. Mai immer noch ihr Fest, an dem ihnen durch immer dieselben Aufmärsche und das stolze Ordenrasseln Respekt gezollt werde. "Deshalb sind weder die einfachen Menschen noch die Regierung an einer Neubewertung der Geschichte interessiert".

Die britische Schriftstellerin Ewa Hoffman rezensiert zwei Londoner Ausstellungen: "Conquering England: Ireland in Victorian London" in der National Portrait Gallery und "Turks. A Journey of a Thousand Years, 600-1600" in der Royal Academy of Arts. Während die letztere eine Art von offiziellen Stellen unterstützte Werbeschau für die europäische Zugehörigkeit der Türkei ist, meint Hoffman, wo nur die schönen Teppiche von Bedeutung sind, will die erstere einen bis dato weniger bekannten Aspekt der britisch-irischen Beziehungen zeigen: einerseits Protektionismus und Vorurteile, andererseits eine bedeutende kulturelle und politische Präsenz von Iren in London. "Beide Ausstellungen verbinden auf eine faszinierende Art und Weise Politik und Kunst. Sie bewegen sich irgendwo zwischen Kunstausstellung und Geschichtsunterricht, indem sie Kunstobjekte in ihrem sozialen Kontext platzieren. Sie verwenden Geschichte, um gewisse aktuelle Fragen anzusprechen: nationale Identität, den Charakter von Imperien und die Geschichte von Kolonien."

Zu lesen ist außerdem Andrzej Stasiuks Essay über den Ersten Weltkrieg an der Ostfront. Der Text erschien im Januar in der NZZ. (Englische Version hier.)
Archiv: Gazeta Wyborcza

Polityka (Polen), 23.03.2005

"Jede Nation, die am Zweiten Weltkrieg beteiligt war, hat ihren eigenen Krieg erlebt", schreibt in einem lesenswerten Essay der Publizist Adam Krzeminski. "Eine gemeinsame, europäische Erzählung vom Zweiten Weltkrieg ist nicht möglich. Jede Nation hat etwas anderes erlebt, pflegte und dekonstruierte ihre eigenen Kriegsmythen. Zuerst dominierten die Narrationen der Siegermächte, die nicht nur gesiegt und die Friedensbedingungen diktiert haben, sondern auch ihre Interpretation des Krieges anderen Nationen aufgezwungen und mit Hilfe von Massenmedien verbreitet haben." Auch mit Blick auf die - bereits zu Ende gegangene - Ausstellung "Mythen der Nationen" bemerkt Krzeminski, dass die Europäer noch eine Zeit lang ihre divergierenden und teilweise gegensätzlichen Erinnerungen an den Weltkrieg pflegen werden. "Sie werden aber nicht mehr im Verborgenen gepflegt, sondern im Dialog mit den Nachbarn, begleitet von der jeweiligen nationalen Entmystifizierung."
Archiv: Polityka
Stichwörter: Krzeminski, Adam

Al Ahram Weekly (Ägypten), 24.03.2005

Injy El-Kashef hat Rachid Taha getroffen, Musiker, internationaler Star und "ein Mann mit einem beinahe clownshaften Sinn für Humor". Taha ist bekannt für seine künstlerischen Grenzüberschreitungen: "Eine Vorliebe für musikalische Experimente und ein tief verwurzeltes Gefühl kultureller Dualität führten Rachid Taha vom Rock’n’Roll zum Punk zum Techno und wieder zurück, wobei er immer auf die Assistenz arabischer Musiker gebaut hat, die seine westlichen Rhythmen mit der Klarheit der östlichen Melodien anreichern." Und wo ist der Musiker selber zu Hause? "Ich bin jeden Tag Franzose und immer Algerier", antwortet Taha - und lächelt.

Nehad Selaiha ist ziemlich begeistert - und mitgenommen - aus der Kairoer Aufführung der "Family Stories" der jungen Dramatikerin Biljana Srbljanovic gekommen: klaustrophobische Sitzordnung, quietschbuntes Bühnenbild, düsterer Humor a la Ionesco, Brecht'sche Entfremdung, und alles im Dienste einer brachial-satirischen Vorführung von elterlichen Sünden und kindlichen Bosheiten. Sie fühlte sich daran erinnert, schwanger zu sein und jenes "bösartige, unerklärliche und hartnäckige Gefühl der Schuld zu spüren, dass Elternschaft mit sich bringt."

Weitere Artikel: Yasmine Fathi zeigt, was einem Gebäude so alles passieren kann, wenn es der Schauplatz und der Titelgeber eines Bestseller-Romanes ist - zum Beispiel Alaa El-Aswanis "The Yaqoubin Building". Fatemah Farag freut sich über das von Deborah Manley und Sahar Abdel-Hakim herausgegebene Buch "Traveling through Egypt: From 450 BC to the Twentieth Century", das man ruhig auch gegenwärtig bei einer Reise durch Ägypten mit sich führen könne - als Reisebegleiter voller Geschichten und Perspektiven. Geneive Abdo und Steven Simon schildern die isolierte gesellschaftliche Stellung von amerikanischen Muslimen: Fast die Hälfte der US-Amerikaner spricht sich dafür aus, ihre Bürgerrechte einzuschränken.
Archiv: Al Ahram Weekly

Nouvel Observateur (Frankreich), 24.03.2005

Nach Jahrzehnten lacanistischer Introspektion entdecken die französischen Schriftsteller das Elend der Arbeiterklasse wieder ganz neu. Im neuen Heft des Nouvel Obs befragen sich zwei Schriftsteller gegenseitig zu ihren Büchern, Francois Bon, Autor von "Daewoo" über die Schließung eines Autowerks in Lothringen und Gerard Mordillat, Autor des Romans "Les vivants et les morts", der ebenfalls von einer Werksschließung handelt. Mordillat erklärt, wie bei seiner Heldin namens Dallas ein neues Klassenbewusstsein entsteht: "Eines Tages stellt sie fest, dass sie keine Windel mehr für ihren Sohn hat und auch kein Geld, um eine zu kaufen, und da begreift sie, dass Entscheidungen, die in New York, Frankfurt und London durch die Finanzmächte getroffen werden, direkte Auswirkungen auf sie selbst, auf ihr intimstes Privatleben haben. Da entsteht ihre Revolte, angesichts ihres nackten und dreckigen Babys."

Im Nouvel Obs finden sich auch Spekulationen über die Zukunft Edwy Plenels, des ehemaligen Chefredakteurs von Le Monde. Angeblich soll er eine Stiftung gründen, "um das Gewicht von Le Monde in der intellektuellen Debatte zu verstärken".

Express (Frankreich), 24.03.2005

Ganz anders als in Deutschland, wo die Presse weiterhin entschlossen schläft, sorgt das Google-Projekt der Digitalisierung ganzer Biblioheken in Frankreich weiterhin für Debatten. L'Express präsentiert ein kleines Dossier zumThema. Die Frage ist jetzt nicht mehr so sehr, ob durch die Digitalisierung amerikanischer Bibliotheken ein angelsächsisches Weltbild propagiert wird, sondern ob private Unternehmen derart die Hand auf das Weltkulturerbe legen können sollen: "Lädt die Tatsache, dass diese Unternehmen durch Werbung finanziert sind, nicht zu Missbrauch ein? Ist das Versprechen, dass diese Unternehmen, die Autorenrechte respektieren und Raubkkopien verhindern, glaubhaft?" Jacques Chirac will nun ein öffentliches, europäisch finanziertes Projekt der Digitalisierung präsentieren, meldet der Express.
Archiv: Express

Economist (UK), 25.03.2005

Fast als Dichter würdigt der Economist den verstorbenen amerikanischen Diplomaten George Kennan, der mit seiner Einschätzung des Moskauer Regimes als Sicherheitsrisiko entscheidend zur Verschärfung des Kalten Krieges beigetragen hat. "In seinem späteren Leben hatte George Kennan das Gefühl, seine Worte seien missverstanden worden. Schlimmer noch, sie hätten 'unbeabsichtigt einen großen Felsen von einem hohen Berghang losgetreten'. Und das, obwohl er seine Worte immer umsichtig wählte und aus seinen Telegrammen und Memos sowie aus seinen 22 Büchern eine Kunst zu machen pflegte. Dean Acheson, für den Kennan arbeitete, als dieser Außenminister war, drückte es einmal so aus: 'Das Problem mit George ist, dass er so wunderschön schreibt, dass er einen von allem überzeugen kann.' Dann fand er noch andere Worte: George erinnere ihn an das alte Pferd seines Vaters, das, wenn es hölzerne Brücken überquerte, beim Klang seiner eigenen Schritte erschrak."

Weitere Artikel widmen sich der spannungsreichen Beziehung zwischen China und Japan, kritisieren die Art, wie im Fall der Komapatientin Terry Schiavo die amerikanische Regierung in die Rechtsprechung eingreift, warnen vor einer Art statistischer Parallelwelt, die die Glaubwürdigkeit der nationalen Statistiken gefährde, und versteht das drohende Nein der Franzosen zur EU-Verfassung als ein Nein zu einer "falschen Art von Europa", will heißen zu einem liberalen Europa.

Passend zu Ostern hat der Economist "Holy Fire", Victoria Clarks unterhaltsames und informatives Buch über das christliche Jerusalem gelesen, vemisst darin aber echte Einfühlung in das Mysterium der Pilgerfahrt. Und schließlich wird gemeldet , dass der "Codex Sinaiticus", eine in der British Library befindliche Abschrift der Bibel, digitalisiert werden soll.
Archiv: Economist

Filmkultura (Ungarn), 24.03.2005

Andras Jeles, einer der spannendsten Regisseure des zeitgenössischen ungarischen Films, erzählt eine Geschichte aus dem Alten Testament aus der Perspektive des gefallenen Engels. Seine Schauspieler stehen im Gegenlicht, nur ihre Konturen sind sichtbar, wie in einem modernen, dreidimensionalen Schattentheater (Szenenfotos hier und hier und hier). In Filmkultura, der Zeitschrift des Ungarischen Filmarchivs, findet Szilvia Molnar, dass der Film "Josef und seine Brüder" unseren trägen und bequemen, weil mit Bildern verwöhnten Augen eine ganz neue Wahrnehmung beibringt: "Die ins Gegenlicht gestellten Gestalten sind sichtbar und unsichtbar zugleich. Es ist sichtbar, ob sie Frauen, Männer oder Kinder sind, aber ihre Persönlichkeit bleibt verborgen. ... So wird ein jedes Detail von den Augen verschluckt, der Zuschauer ergänzt die Bilder des Schattentheaters und schreibt so den Film fort. Die Augen müssen arbeiten, wie beim Betrachten abstrakter Malerei ... Die Bilder sind nicht abgeschlossen, ein jeder denkt sie durch seine eigene Vorstellungskraft weiter."
Archiv: Filmkultura

Magyar Hirlap (Ungarn), 22.03.2005

Die ungarischen Politiker interessieren sich nur um sich selbst, das Schicksal des Landes ist ihnen egal, klagt Julianna R. Szekely, Kolumnistin der liberalen ungarischen Tageszeitung Magyar Hirlap. Sie blickt neidisch auf Westeuropa, wo "ein gut recherchierter Zeitungsartikel über einen begründeten Korruptionsverdacht meistens das Ende einer politischen Laufbahn bedeutet ... Aber auch in Westeuropa dauerte es zwei-, dreihundert Jahre lang, um viele Schafweiden wurden willkürlich Zäune gezogen, viele Pistolenkugeln flogen, viel Blut wurde vergossen, bis sich endlich die Einstellung durchsetzte, dass nur moralisches Verhalten langfristig lohnt. Unsere fünfzehn Jahre sind sehr kurz. Fünfzehn Jahre sind mit historischen Maßstäben so lang, wie eine Schiffsreise in einer Jack-London-Novelle, in der ein hungernder Landstreicher an Bord geholt wurde. Er nahm plötzlich beträchtlich zu, aber nicht weil er so viel ass, sondern weil er, von seinen Erinnerungen an die schweren Zeiten gequält, immer mehr Lebensmittel unter seinen Mantel verstopfte. Bis der Schiff den nächsten Hafen anlief, hat er sich das jedoch abgewöhnt."

Der Publizist Tibor Varkonyi wundert sich über die übertriebene Nettigkeit, mit der Wladimir Putin in Paris von Jaques Chirac, Gerhard Schröder und Jose Luis Rodriguez Zapatero empfangen wurde, obwohl Putin in der internationalen Presse heftig kritisiert wird und seine Popularität sogar im eigenen Land wackelt: "Die Hymnen über seinen Ruhm und seine Ehre erklingen immer seltener, die Maler porträtieren ihn auch nicht mehr so oft freiwillig wie früher. Es wird gemunkelt, dass auch er höchstpersönlich ein anderer Mensch geworden ist. Wenn die Gerüchte nicht übertreiben, ist Putin inzwischen sogar von seiner Lieblingsbeschäftigung gelangweilt, Staatsminister und Gouverneure nach Lust und Laune zu feuern ... Und doch schrieb Le Figaro, noch bevor Putins Flieger in Paris landete, dass Jaques Chirac einen Freund erwarte, Liberation sprach von einem bevorstehenden 'wolkenfreien Gipfeltreffen'. Und die Prophezeiungen bewahrheiteten sich Wort für Wort."
Archiv: Magyar Hirlap

New York Times (USA), 27.03.2005

Lawrence H. Summers, Präsident der nicht nur ruhmreichen Eliteuniversität Harvard, ist nicht gerade für sein diplomatisches Feingefühl bekannt, bemerkt Rachel Donadio süffisant. Seine Äußerungen zu Frauen in den Naturwissenschaften oder der Zwist mit einigen Professorenstars wie dem nun nach Princeton gewechselten Theologen Cornel West hält sie aber für eher nebensächlich. Es geht um mehr. "Diese Auseinandersetzungen sind trotz ihrer Heftigkeit nur Scharmützel in einer viel größeren Schlacht, die sich in Harvard und darüber hinaus abzeichnet. In mancherlei Hinsicht erinnert sie an die Campus-Unruhen der Sechziger. Allerdings sind die Protestierenden diesmal nicht die Studenten, sondern die Dozenten, die mehr oder weniger in den Werten und dem Glauben der Sechziger verankert sind und nun mit einem Präsidenten aneinandergeraten, der Harvard den heutigen politischen und ökonomischen Realitäten anpassen will." Vielen in der traditionell linksliberalen Universität ist Summers eindeutig zu staatsnah, zu "mainstream", wie Donadio einen Kommentator zitiert. "Summers hat die Zukunft der Vereinigten Staaten im Krieg gegen den Terrorismus ausdrücklich mit dem Erfolg von Harvard verknüpft."

Aus den Besprechungen: Pete Hamill genießt Kenneth D. Ackermans "exzellente" Biografie des politischen Strippenziehers William M. 'Boss' Tweed, der die Kunst der Korruption mit einer im 19. Jahrhundert noch unbekannten Dreistigkeit betrieb (erstes Kapitel). Dazu gibt es den dezent pikanten Nachruf von 1878 als Faksimile-pdf. Liesl Schillinger verweist zunächst auf den deutschen Neonazi-Aussteiger Ingo Hasselbach (mehr) und dessen Bewunderung für Ignatz Bubis, um zu zeigen, wie plausibel Francine Proses neuer Roman "A Changed Man" doch sei. Prose lässt einen amerikanischen Neonazi-Aussteiger sich mit einem jüdischen Menschenrechtler anfreunden (erstes Kapitel).

New York Times Magazine: Auf dem Land, in den am schnellsten wachsenden Gemeinden, den explodierenden Exurbs, ersetzt die Megachurch das Dorfzentrum, beobachtet Jonathan Mahler in einer großartigen Reportage aus Surprise, Arizona. Die Radiant-Gottesmall hat mit hiesigen Gotteshäusern nicht mehr viel zu tun. Zum einen kommen 5000 Menschen in die Wochenendmessen, die eher Glaubensevents sind. "Tatsächlich ist bei Radiant alles daraufhin entworfen, die Leute von anderen Wochenendzielen abzuhalten. Das Foyer besitzt fünf 50-Inch-Plasmafernseher, einen Buchladen und ein Cafe mit einem von Starbucks ausgebildeten Personal, das Espresso zubereitet. (Für diejenigen, die es eilig haben, gibt es einen Drive-Through-Schalter für Milchkaffee außerhalb des Hauptgebäudes.) Krispy Kreme Doughnuts gibt es bei jeder Messe. (Das jährliche Budget für Krispy Kreme liegt bei 16.000 Dollar.) Für Kinder stehen XBoxen bereit (alleine zehn für Fünft- und Sechstklässler). 'Das wollen die', sagt McFarland. 'Man kann entweder dagegen ankämpfen oder anerkennen, dass sie ein Werkzeug für Gott sind.'"

Siebzehn Jahre nach dem Ende des blutigen Kriegs mit dem Nachbarn Irak können sich die iranischen Machthaber endlich die Hände reiben, warnt der ehemalige Sicherheitsberater Richard A. Clarke. "Aus iranischer Perspektive war der Zweck des Krieges, die größte Bevölkerungsgruppe, die Schiiten, im Irak an die Macht zu bringen, Saddam Hussein zu stürzen, die heiligen Stätten der Schiiten zu schützen und möglicherweise die riesigen irakischen Ölvorkommen zu kontrollieren. Nun hat der Iran drei dieser vier Kriegsziele erreicht, dank 13.000 amerikanischer Gefallener und Abermilliarden amerikanischer Steuergelder."
Archiv: New York Times