Magazinrundschau

Der Mensch muss inkonsequent sein

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
21.07.2009. In Poets & Writers erklärt der Verleger Jonathan Galassi den Vorteil digitaler Bücher. Das TLS nennt ihren Nachteil: Man kann nicht dran riechen. In der Gazeta Wyborcza überlegt Leszek Kolakowski, für welche Wahrheit er sterben würde. Im New Statesman möchte John Gray den Begriff "Fundamentalismus der Aufklärung" wieder einführen. In Le Journal du Dimanche fordert BHL die Beerdigung der Sozialistischen Partei Frankreichs. Der New Yorker kennt schon unsere nächste Steuer. Im Spectator fragt Iason Athanasiadis die Iraner: Warum diese Angst vor den Engländern? Foreign Policy verkündet den Tod des Machos.

Poets & Writers (USA), 01.07.2009

Ziemlich am Ende eines epischen Interview über Verlage, Autoren und Agenten kommt der Verleger Jonathan Galassi von Farrar, Straus and Giroux auch auf den digitalen Buchverkauf zu sprechen. In der Zukunft werden die Verlage mehr und mehr direkt verkaufen, meint er. "Eins der Dinge, die alle Verleger ängstigen, ist die Vorstellung, dass ein Buch für den Kindle 9,99 Dollar wert ist. Wenn sich dieser Preis für Bücher durchsetzt, was bedeutet das? Was, wenn ich Maureen McLanes Buch als Hardcover für 24 Dollar verkaufen will? Das ist ein Problem. Die Musikindustrie hat uns hier eine Lektion gelehrt. Die Menschen waren gewöhnt an die Vorstellung von intellektuellem Eigentum, dass ein Buch, ein Kunstwerk, einen bestimmten Betrag wert ist. Es ist gewissermaßen ein Ausdruck von Respekt. Aber wenn man es in ein Widget [eine Art digitalen Schnickschnack, Anm. PT] verwandelt, wenn jedes Buch dasselbe wert ist, dann ist das schlecht. Hier müssen Autoren, Agenten und Verleger zusammenarbeiten um ihre gegenseitigen Interessen zu schützen. Und nicht den Handel über das Geschäft entscheiden lassen." Galassi lässt aber keinen Zweifel daran, dass das Geschäft mit digitalen Büchern enorme Chancen für die Verlage bietet: "In der digitalen Welt gibt es keine Remittenden. Remittenden sind eine große Bürde für unser Geschäft. Die Verschwendung ist enorm und wenn sie endet, hilft das unserem Geschäft enorm."

Shell Fischer stellt uns Flarf vor, eine Bewegung für experimentelle Poesie. Nie gehört? Absurd. "Bis heute wurden schon sechzehn Flarf-Bücher veröffentlicht. Seit 2006 veranstaltet der Bowery Poetry Club in Manhattan jährlich ein dreitägiges Flarf-Festival, dass Poesie präsentiert ebenso wie 'flarfige' Musik, Theater und Film. Letzten September war eine Gruppe von Flarf-Dichtern eingeladen, im Walker Art Center in Minneapolis zu lesen. Im April veranstaltete das New Yorker Whitney Museum of American Art seine eigene Flarf-Lesung. Und im November wird der in Washington DC ansässige unabhängige Verlag Edge Books eine vierhundertseitige Anthologie veröffentlichen. 'Flarf: Eine Anthologie des Flarf', der die Arbeit von 25 bis 30 Dichtern enthält."
Archiv: Poets & Writers

Gazeta Wyborcza (Polen), 18.07.2009

Die Gazeta druckt ein bisher unveröffentlichtes Interview mit dem am Freitag verstorbenen Philosophen Leszek Kolakowski, der sich mit Anna Bikont unter anderem darüber unterhielt, ob es eine Wahrheit gibt, die es wert wäre, dafür zu sterben. "Vielleicht ist die einzige Wahrheit, die es wert wäre, die, dass es eine Wahrheit gibt - ohne festzulegen, worin sie besteht. Die christlichen Märtyrer sind für ihren Glauben gestorben, und auf dem Scheiterhaufen sind die Menschen gestorben, die ihren eigen Glauben bewahren wollten. Ich möchte weder das eine noch das andere verurteilen. Der tiefe Glaube an eine wertvolle Sache macht uns reicher. Selbst wenn der Glaube schreckliche Folgen für seine Anhänger hat - und wir sehen das tagtäglich - sind diese doch oft unerschütterlich davon überzeugt, dass er ihr Leben bereichert. Aber natürlich weiß man nicht, ob er auch das Leben anderer bereichert, weil gerade diese Werte etwas Unmenschliches haben können. Die Frage müsste also ein wenig anders formuliert werden. Nicht ob es eine Wahrheit wert ist, sondern ob es eine Wahrheit nicht wert ist (für sie zu sterben). Und hier sind wir schon im Dickicht der Unsicherheit. Ist es das Vaterland wert, dafür zu sterben? Ja."

Außerdem: Kolakowski war für die demokratische Opposition gegen den Kommunismus eine große Autorität, auch wenn er zuerst selbst überzeugter Marxist war, wie Tadeusz Sobolewski in einem biografischen Abriss erklärt: "Zu seinen wichtigsten Themen gehörten der Marxismus und die Religion. Der Marxismus erschien ihm in seiner Jugend als Chance, und wurde später von ihm als Falle enttarnt. Und die Religion, die Kolakowski zuerst als Falle erschien, wurde in seinen späteren Arbeiten als Chance behandelt". Dieser Wandel faszinierte auch Gesine Schwan, die in den späten 60ern ihre Dissertation über ihn schrieb: "Er war ein Verfechter der Toleranz und des Kampfs gegen den Absolutismus in jedweder Gestalt. Er schrieb, der Mensch müsse inkonsequent sein, weil dies menschlich sei." Und Adam Michnik, der seinerzeit Kolakowskis Vorlesungen an der Warschauer Universität besuchte, erinnert sich: "Damals, in Zeiten der Finsternis und des Hasses, stand er für hellen Verstand und Leben in Würde."
Archiv: Gazeta Wyborcza

Boston Review (USA), 01.07.2009

Julius Purcell erzählt in einer Reportage über den so schmerzhaften Umgang mit den Opfern des spanischen Bürgerkriegs. Letzten September hatte der spanische Richter Baltasar Garzon - der einen Haftbefehl gegen Pinochet erließ - angekündigt, dass er nach den Überresten der "Verschwundenen" des Spanischen Bürgerkriegs suchen lassen wolle und ebenso nach den Republikanern, die in der Franco-Ära der Nachkriegszeit exekutiert wurden. Sein Ziel war es, Francos Regime Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachzuweisen. Das hat in Spanien eine riesige Debatte ausgelöst. Selbst die Sozialisten äußerten nur schmallippige Zustimmung. Von den Konservativen und der Kirche ganz zu schweigen. "Während der 50er Jahre ließ das Franco-Regime so viele wie möglich von 'seinen' Massengräbern exhuminieren und begrub die Toten erneut mit allen Ehren. Diese Toten - das waren die sechzig- bis siebzigtausend Soldaten und zivilen Franquisten, die in der republikanischen Zone während des Krieges ermordet worden waren. Für die unterlegenen Republikaner wurden niemals ähnliche Anstrengungen unternommen. Und das ist die emotionale Crux der Debatte, ohne die man die Leidenschaft und den Zorn nicht verstehen kann, den die Gräber heute noch auslösen."
Archiv: Boston Review

New Statesman (UK), 20.07.2009

Der Philosoph John Gray bespricht Timothy Garton Ashs neues Buch, eine Sammlung von Feuilletons und Essays, in der auch Garton Ashs Artikel über "Islam in Europa" nachgedruckt ist, der in Perlentaucher und signandsight.com und dann in der internationalen Presse eine furiose Debatte auslöste. Garton Ash bezichtigte dort Ayaan Hirsi Ali eines "Fundamentalismus der Aufklärung". Er hat diese Vokabel nach der Debatte in einer Fußnote zu seinem Artikel zurückgezogen. Gray bedauert das: "Der größte Teil des Staatsterrors im letzten Jahrhundert war säkular, nicht religiös. Lenin und Mao waren bekennende Anhänger einer Aufklärungsideologie. Manche mögen einwenden, dass sie sie missbrauchten. Und doch ist es ein Kennzeichen fundamentalistischer Mentalität, einen reinen Glauben zu postulieren, der frei ist von jeder Komplizenschaft mit irgendeinem Verbrechen seiner Anhänger und fähig - wenn nur in seiner reinen, unverschmutzten Form angewandt - praktisch jedes Böse auszumerzen." (Und trifft das nun auf Ayaan Hirsi Ali zu? Darüber verliert Gray kein Wort. Ihm liegt daran, Aufklärung als Spiegelbild des Islamismus zu sehen.)

Sholto Byrnes bespricht mit großer Sympathie das neue Buch der Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong, "The Case for God: What Religion Really Means", in dem sie den erklärten Atheisten Richard Dawkins, Christopher Hitchens und Sam Harris Paroli bietet: "Armstrong schreibt über einen Gott, dessen Existenz nicht zu rationaler Zufriedenheit bewiesen werden kann, weder durch die ontologischen Argumente Anselms und Descartes noch durch wissenschaftliche, wie Newton noch glaubte. Schon alleine von seiner 'Existenz' zu sprechen, ist schwierig. Von Anfang an macht Armstrong klar, dass Sprache, die notwendigerweise der menschlichen Auffassungsgabe unterliegt, Gott nicht gerecht werden kann."
Archiv: New Statesman

Journal du Dimanche (Frankreich), 19.07.2009

Die sozialistische Partei Frankreichs, in der sich einige aus Zeiten des großen Korrumpators Mitterrand übrig gebliebene "Elefanten" müde bekriegen, ist für Bernard-Henri Levy mausetot. Er plädiert im Interview mit dem Journal du Dimanche für ihre Selbstauflösung und Neugründung. Als Gründe für den Niedergang der französischen Sozialisten gibt er an: "Diese Europasache, wo viele an einen Chauvinismus aus der Zeit Jules Guesdes angeknüpft haben. Dieser pawlowsche Antiliberalismus, diese Unfähigkeit, ganz wie bei der italienischen Linken, zwischen einem guten 'Liberalismus' (dem der Arbeiterautonomie, der Kämpfe für die Freiheit) und einem schlechten Liberalismus (Marktgesetz überall, sogar in der Kultur) zu unterscheiden. Oder der Hass auf Amerika, ein untrügliches Zeichen dafür, dass man in der Gegenaufklärung gelandet ist."

London Review of Books (UK), 23.07.2009

Die amerikanische Pakistan- und das heißt auch Afghanistan-Politik steuert sehenden Auges in die Katastrophe, meint der 1943 in Lahore geborene und seit den sechziger Jahren in Großbritannien lebende Publizist Tariq Ali, der sich zuletzt in Kabul aufgehalten hat. Kürzlich lobte die US-Botschafterin Anne Patterson den neuen Präsidenten, den Bhutto-Witwer Asif Ali Zardari: "Er tut alles, worum wir ihn bitten." Schön für sie, meint Ali, leider tut der Mann aber auch andere Dinge: "Zardari mag eine willfährige Kreatur Washingtons sein, aber der intensive Hass, mit dem man ihm in Pakistan begegnet, ist nicht auf seine politischen Gegner beschränkt. Verachtet wird er vor allem für seine Gier. Er hat nahtlos da weitergemacht, wo er als Investitionsminister in der Regierung seiner verstorbenen Ehefrau aufgehört hatte. Binnen Wochen nach Amtsantritt riefen seine Untergebenen bei allen wichtigen Geschäftsleuten des Landes an und forderten einen Anteil an den Profiten." Es gibt sogar, meint Ali, eine ganze Menge eigentlich nicht zu Verschwörungstheorien neigende Leute, die glauben, dass er an der Ermordung von Benazir Bhutto selbst beteiligt war. Das glaubt Ali zwar nicht, findet es aber bezeichnend, dass Zardari sogar das zugetraut wird.

Weitere Artikel: In einem Essay, der "eigentlich" die Besprechung eines Buchs von Alain Badiou über Nicolas Sarkozy ist, kommt der Allesdenker Slavoj Zizek irgendwo zwischen Sarkozy, Ahmadinedschad, den Marx Brothers, dem Animationsfilm Kung Fu Panda, Niels Bohr, einem Kastrationswitz von Putin und dem "vernünftigen Antisemitismus" des Robert Brasillach auch auf Silvio Berlusconi als Menetekel zu sprechen. Adam Shatz denkt über "laute Musik" als Folter und Waffe nach. Peter Campbell fragt sich, was es bedeutet, dass der Codex Sinaiticus jetzt teilweise im Netz lesbar ist. Mary Beard bespricht auf sehr aufschlussreiche Weise eine Biografie des denkenden Kaisers Marc Aurel, die sie unbefriedigend findet.

Frontline (Indien), 18.07.2009

Raza Naeem bespricht das 2008 auf Englisch und Deutsch erschienene Buch von Tariq Ali, "The Duel - Pakistan in the Flight Path of American Power" ("Pakistan. Ein Staat zwischen Diktatur und Korruption", Leseprobe). In Pakistan ist das Buch inoffiziell verboten worden, auf dem Schwarzmarkt findet man es aber, so Naeem. Die These des Buchs, das in Deutschland kaum beachtet wurde, ist, dass sich die pakistanische Elite praktisch seit der Unabhängigkeit Pakistans aus korruptem Selbstinteresse an die USA angeschmiegt und sich so von der eigenen Bevölkerung vollkommen entfremdet hat. "Ali zerschlägt einige Mythen über Pakistan, die im Westen Tonnen von Papieren füllen, die beweisen sollen, dass Pakistan ein gescheiterter Staat ist. Erstens ist das Duell, auf dass er sich in seinem Titel bezieht, nicht eins an der westlichen Grenze [Pakistans] zwischen den Taliban und der Regierung, sondern ein Duell zwischen den Menschen in Pakistan und der von Amerika unterstützten Elite, die schon immer das Land regiert und geplündert hat. Tatsächlich ist dieses Duell eine vertraute Geschichte in vielen Teilen der Welt - Kolumbien, Afghanistan, Israel, Ägypten, Äthiopien, Nigeria und die winzigen amerikanischen Protektorate am Golf, auf dem Balkan und im Kaukasus sind Teil dieses vornehmen Klubs. Zweitens [widerlegt es], dass Pakistan auf der Kippe einer Übernahme durch die Taliban steht und dass die einzige Partei, die dies verhindern kann, die Armee ist. Allerdings beweist die Art, wie Washington mit dem neuen Regime in Islamabad umgeht, dass diese Behauptung falsch ist."
Archiv: Frontline

New Yorker (USA), 20.07.2009

Der menschliche Appetit ist elastisch: Je mehr man kriegt, umso mehr isst man. Unter der Überschrift XXXL geht Elizabeth Kolbert anhand mehrerer neuer Studien der Frage nach, weshalb die Amerikaner so fett sind. Einen internationalen Ansatz verfolgt der Band "Globesity". Demnach wurden die Amerikaner zwar als erste Nation fetter, sind inzwischen aber von der Tschechischen Republik, Deutschland, Griechenland oder der Slowakei überholt. Die Autoren, überwiegend Ernährungswissenschaftler, betrachten Fettleibigkeit als Katastrophe – für die Betroffenen ebenso wie für nationalen Gesundheitssysteme. "Diabetes, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, verschiedene Krebsarten, Gallensteine und Osteoarthritis sind nur einige Leiden, die mit Übergewicht in Verbindung gebracht werden. Schätzungen gehen davon aus, dass die überschüssigen Pfunde der Amerikaner den Gesundheitsausgaben jährlich Zusatzkosten von neunzig Milliarden Dollar verursachen. Für globale Kosten gibt es keine zuverlässigen Schätzungen, doch Delpeuch und seine Co-Autoren schreiben: 'Fettleibigkeit erweist sich unausweichlich als eines der größten Abflusslöcher' für nationale Gesundheitsetats." Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt deshalb drei Dutzend Maßnahmen für eine bessere Ernährung und mehr Fitness – darunter eine "Fettsteuer" auf kalorienreiche Snacks.
Archiv: New Yorker

Nepszabadsag (Ungarn), 18.07.2009

Der Kritiker Sandor Zsigmond Papp freut sich auf die zahlreichen Sommerfestivals, die inzwischen womöglich zum Besten zählen, was man in Ungarn sehen und hören kann. Zum Beispiel das Sziget-Festival. "Anfangs schuf es in Ungarn – einer in sich geschlossenen Gesellschaft, die sich allmählich vom Kommunismus erholte – die Illusion einer eigenständigen Welt, und ließ sie dann von Jahr zu Jahr realer werden: In hochprozentigen Portionen aus Theater, Tanz, Musik und Kultur. Wir haben die Weltmusik kennen gelernt und Aromen gekostet, für die andere jahrelang unterwegs sind. Wir haben in einer Woche, auf dem selben Fleck eine Weltreise gemacht. [...] Und unser Geschmack, unsere Weltanschauung bekam aufgrund des immer breiteren Angebots genau das, was für einen Intellektuellen unerlässlich ist: Offenheit. [...] Was uns nämlich diese Festivals – entgegen der unablässig dröhnenden Propaganda – beigebracht haben, ist ja gerade, dass es keine allein selig machende Wahrheit gibt."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Sziget, Weltmusik

Al Ahram Weekly (Ägypten), 16.07.2009

So schrecklich er die Ermordung der Ägypterin Marwa al-Sherbini in einem Dresdner Gericht fand, einige der harscheren Reaktionen in Ägypten haben Abdel-Moneim Said doch auch einiges Unbehagen eingeflößt. "Der Vorfall in Dresden war ohne Frage schrecklich und verdammenswert. Aber diesen Vorfall in einen bitteren Konflikt zwischen den Zivilisationen umzuwandeln, wäre gleichbedeutend mit einem zweiten Mord an Marwa, dem Menschen und der Akademikerin: einmal durch eine böse Hand und ein zweites Mal durch die Hysterie, die zum Tod anderer führt und dem Zerreißen von Beziehungen, die untrennbar sein sollten. Andererseits könnte der Vorfall auch ein Ausgangspunkt für etwas Positives sein, so dass Marwas Blut nicht vergebens geflossen ist. In ihrem Namen könnten die Menschen eine arabisch-muslimisch-europäische Front bilden, zusammen mit anderen Glaubensrichtungen, um gegen Fanatismus, Bigotterie und Diskriminierung auf beiden Seiten aufzustehen."

Reem Leila beschreibt die Reaktionen auf den Mord in der muslimischen Welt und berichtet, der ermittelnde Staatsanwalt habe eine Nachrichtensperre verhängt, nachdem das Magazin Focus berichtet hatte, der Mord sei vorbereitet gewesen. "Al-Sherbinis Familie reagierte verärgert auf die Sperre und beschrieb sie als einen Versuch, die Medien zum Schweigen zu bringen und die Wahrheit zu verbergen. 'Die Sperre hat uns überrascht', sagte Marwas Vater Ali al-Sherbini. 'Ich bin sicher, dass sie versuchen Informationen zu verbergen, etwa über die Verzögerung, mit der das Gericht die Polizei rief, nachdem meine Tochter angegriffen worden war, und über den Sicherheitsmann, der auf meinen Schwiegersohn Elwi Ali Okaz schoss.' Okaz, der ernstlich verletzt wurde, war versehentlich von einem Gerichtswärter angeschossen worden, als er seine Frau zu verteidigen suchte. Ali al-Sherbini fügte hinzu, er glaube, die Nachrichtensperre solle Deutschlands Ansehen im Ausland schützen statt das Interesse an dem Fall zu fördern. 'Deutschland erlaubt den Medien nicht über den Fall zu berichten um die Verurteilung durch andere Länder zu vermeiden', sagte er."

Warum gelingt es den Arabern nicht, einen modernen Staat aufzubauen? Am Westen liegt es jedenfalls nicht, meint Hussain Abdul-Hussain. "Es ist wahr, Amerika und westliche Hauptstädte haben gravierende Irrtümer im Umgang mit Arabern begangen, aber immer nur andere für die eigenen Fehler verantwortlich zu machen, kann kaum die Lösung sein. Schließlich hat Indien - jetzt eine aufsteigende Macht - seine Unabhängigkeit vom imperialen Britannien 1947 gewonnen, einige Jahre, nachdem die meisten arabischen Länder - die immer noch versuchen herauszufinden, wie man heute einen Staat aufbaut - bereits unabhängig waren."

Nehad Selaiha zeigt sich überrascht von der Menge an Klassikern, die beim Ägyptischen National Theater Festival aufgeführt wurden, das in früheren Jahren sehr abenteuerlustige und unkonventionelle Arbeiten gezeigt hat. "Es scheint als seien die jungen Regisseure etwas ängstlich geworden", grummelt sie. Bestimmt hat sie Recht, aber wir sind trotzdem tief beeindruckt von der Liste der aufgeführten Autoren: Sechs mal Shakespeare, Ionesco, Max Frisch, Eugene O'Neill, Nazim Hikmet, Tankred Dorst, Friedrich Dürrenmatt, Victor Hugo, Harold Pinter, Alfred Farag, Tawfiq El-Hakim, Bahig Ismail, Mahmoud Diab und Nagib Mahfouz. In Deutschland gibt es kein Theaterfestival mit einem vergleichbaren Angebot an nichteuropäischen Autoren. Autoren.
Archiv: Al Ahram Weekly

Spectator (UK), 18.07.2009

18 Tage saß der Journalist Iason Athanasiadis im Evin-Gefängnis in Teheran. Athanasiadis, der seit Jahren für internationale Medien aus dem Iran berichtet und einen britischen Pass besitzt, war am Flughafen festgenommen und der Spionage für England beschuldigt worden. In einer Zelle mit Dauerbeleuchtung und einem Exemplar des Koran dachte er über das iranisch-bristische Verhältnis nach. "Woher kommt diese fast übernatürliche Angst vor den Engländern? Im Gefängnis hatte ich Zeit zum Nachdenken, und ich beschloss, dass es viel mit Irans geografischer Lage im Hinterland des britischen Weltreiches zu tun hat. Im Gegensatz zu den Indern haben die Iraner nie mit britischen Verwaltern zu tun gehabt, sie lebten nie in von den Briten entworfenen Städten und lernten sie nie aus der Nähe kennen. Das einzige, was sie von dem berüchtigten Empire zu sehen bekamen, das sich jenseits der Pufferzone von Belutschistan aufbaute, waren halbseidene Spione, die sich im Großen Spiel engagierten, und Diplomaten, die an den Höfen der Salafiten, Qajaren und Pahlevis in flüssigem Persisch parlierten. In Evin wollte mir mein Vernehmungsbeamter den 'endgültigen Beweis' präsentieren, dass ich ein Spion war. Er reichte mir den Abzug eines Farbfotos, als sei es ein Todesurteil. Das Foto zeigte eine jüngere Ausgabe von mir, die sich in einer überfüllten Konferenzhalle mit einem großen Mann unterhielt, den ich als den Presseattache der britischen Botschaft erkannte."
Archiv: Spectator

Times Literary Supplement (UK), 17.07.2009

Peter Green annonciert Anthony Graftons Essays "Worlds Made by Words", die mit Blick auf die Renaissance und die Gelehrtenrepublik das Für und Wider der Digitalisierung unseres Wissens behandeln: "Grafton kommt zu dem Schluss, dass die Gegenwart online 'überwältigend zugänglich' werden wird, während wir für die Vergangenheit noch mühsame Handarbeit in den Archiven werden leisten müssen. Die Übertragung selbst der amerikanischen und britischen Archive ins Netz steckt noch immer in den Kinderschuhen, und Grafton liefert starke Argumente für die Notwendigkeit, Originale und nicht nur digitalisierte Bilder anzusehen: Ein Forscher konnte die Geschichte von Cholera-Ausbrüchen verfolgen, indem er in einem 250 Jahre alten Archiv an den Büchern roch, um zu sehen, welche zum Desinfizieren mit Essig besprenkelt waren. Ja, wird der junge Wissenschaftler ermutigt, nutze jeden Vorteil der neuen elektronischen Schatzhöhle. Aber - und hier zeigt Grafton einen seltenen Moment echten und tiefen Gefühl - all die Datenströme, so reich sie auch sind, werden die einzigartigen Bücher, Drucke und Manuskripte, die nur eine Bibliothek bereithalten kann, eher erleuchten als ersetzen."

"Krachend langweilig" findet der Historiker A. N. Wilson Isaiah Berlins Briefe, die Henry Hardy and Jennifer Holmes unter dem Titel "Enlightening" herausgegeben haben. Nur einige davon sind wenigstens boshaft. Am meisten freute sich Berlin über die Pleite, die der Historiker Hugh Trevor-Roper bei seiner Antrittsvorlesung in Oxford erlebte: "Es war schrecklich mitanzusehen, wie betagte Dozenten und weißhaarige Damen rüde von den leeren Stühlen weggedrängt wurden, die darauf warteten, von eleganten Personen aus London gefüllt zu werden. Am Ende kam niemand außer dem Herzog von Wellington und acht Mitgliedern der Familie Astor sowie seiner Frau und seiner Schwester Doria. Die restlichen Stühle wurden von Plebejern besetzt."

Caffe Europa (Italien), 17.07.2009

Aus der Zeitschrift Reset übernommen ist ein Artikel von Naomi Sakr, die sich über die Stellung der Frauen in den saudischen Medien Gedanken macht. Zwar kommen immer mehr Frauen in den Medien vor, sagt Sakr. Gleichzeitig aber hat sich an ihrer Stellung innerhalb der Medienwelt recht wenig geändert. "Diese Widersprüche reflektieren den Klientelismus im Inneren eines grundsätzlich autoritären Systems, in dem eine oberflächliche Modernisierung stattfindet, lange bevor es eine wirkliche Verschiebung in den Machtverhältnissen gibt. Dass Frauen in den saudi-arabischen Medien in den drei Jahren von 2004 bis 2006 immer präsenter und sichtbarer wurden, lag wahrscheinlich an Initiativen von oben. Mitglieder der königlichen Familie haben sich dafür eingesetzt, das Land vor den Augen der Welt ein wenig moderner erscheinen zu lassen (...) Die erste saudiarabische Schauspielerin, Hind Mohammed, debütierte im Film 'Keif al-hal?' [Wie geht es uns?], der von der [staatlichen] Rotana-Gruppe produziert wurde. Hala Nasser, die Autorin eines Buches über die Schwierigkeiten, mit denen eine saudi-arabische Frau in der Welt der Medien konfrontiert ist, wurde zur ersten Chefredakteurin des Magazins der Rotana-Gruppe. Und es war der [Staats-]Sender Mbc, der sich dazu entschied, die Show von Oprah Winfrey zu importieren, untertiteln und übertragen. Oprahs Art, delikate persönliche Erfahrungen zu behandeln, gefiel dem weiblichen saudischen Publikum."
Archiv: Caffe Europa
Stichwörter: Klientelismus, Winfrey, Oprah

New Criterion (USA), 01.06.2009

Der kanadische Journalist Mark Steyn wird total melancholisch über der Lektüre von Paul Anthony Rahes Buch "Soft Despotism, Democracy's Drift", der sehr schön beschreibe, wie "beruhigend und verführerisch" der Prozess ist, in dem wir von der Demokratie in den sanften Despotismus gleiten. "Als Präsident Bush noch die Idee von Demokratie in der muslimischen Welt bewarb, sagte er immer wieder den Satz: 'Freiheit ist die Sehnsucht in jedem menschlichen Herzen.' Ach wirklich? Man kann seine Zweifel haben, ob das in Gaza und Waziristan auch so gesehen wird, aber ganz sicher nicht so gesehen wird es in Paris und Stockholm, London und Toronto, Buffalo und New Orleans. Die Geschichte der westlichen Welt seit 1945 erzählt uns, dass eine große Anzahl von Menschen, die zwischen Freiheit und Sicherheit wählen sollen, die Freiheit jederzeit wegkippen - die Freiheit, ihre eigene Entscheidung zu treffen über Krankenversicherung, Erziehung, Eigentumsrechte und sogar ... über die Freiheit, zu sagen und zu denken, was wir wollen." Wer wissen will, was Freiheit bedeutet, so Rahe und Steyn, muss heutzutage drei tote Franzosen lesen: Montesquieu, Rousseau und Tocqueville.

Leider leider leider nur im Print: Joseph Epsteins Besprechung der Briefe George Santayanas.
Archiv: New Criterion

Elet es Irodalom (Ungarn), 10.07.2009

Janos Szeky versucht diese Woche jene Zuneigung zu ergründen, die die ungarischen Boulevard-Medien der plastischen Chirurgie entgegenbringen. Zunehmend halten nämlich im Fernsehen Promis Einzug, deren Celebrity-Dasein einzig auf irgendwelchen Schönheitsoperationen beruht. Die Sendungen sind auch ein perfektes Beispiel für Nachhaltigkeit: "Der ungarische Boulevard ist bekanntermaßen ein geschlossenes, zyklisches und sich recycelndes System, vollkommen umweltfreundlich: was einmal reingekommen ist, wird immer wieder verwendet, nichts geht verloren. Und es ist geschlossen, weil der nationale Boulevard nicht von irgend etwas, sondern nur von sich selbst handelt."
Stichwörter: Nachhaltigkeit

Foreign Policy (USA), 01.07.2009

In einem schwungvollen Artikel verkündet Reihan Salam den Tod des Machos. Die Wirtschaftskrise, die er selbst verursacht hat, bricht ihm das Genick. Man sehe sich nur die Zahlen an, frohlockt sie: "Mehr als 80 Prozent der verlorenen Jobs gehen laut der US-Behörde für Arbeitsstatistik auf Kosten von Männern verloren. Und die Zahlen sind in Europa in etwa ähnlich. Danach werden durch die Rezession über sieben Millionen Männer je in den USA und Europa arbeitslos, denn Wirtschaftssektoren, die traditionell von Männern beherrscht werden (Konstruktion und Schwerindustrie) stürzen tiefer und schneller als jene, die traditionell von Frauen dominiert sind (öffentlicher Sektor, Krankenpflege, Erziehung). Alles in allem wird erwartet, dass die globale Rezession 28 Millionen Männer weltweit arbeitslos machen wird." Und wie wollen die dann noch Frauen unterdrücken, hm? - Salam hat da einige deprimierende Vorstellungen, die sich aber interessanterweise vor allem auf russische und chinesische Männer konzentrieren.

"Nicht so schnell", ruft Leser Soren Lerby schockiert in einem Kommentar (bitte runterscrollen). "... es sind genau diese riskanten, allzu selbstbewussten Investitionen oder Unternehmen, die die Grundlage der heutigen entwickelten Gesellschaft und Geschäftswelt geschaffen haben - stellen Sie sich vor, die Welt wäre seit dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beherrscht von risikovermeidenden, Einfühlungs/Östrogen-erfüllten Frauen - dann würden wir unsere Mails immer noch im Kerzenlicht mit Stiften schreiben und unsere Waren auf (ungepflasterten) behelfsmäßigen kleinen Märkten gegen Naturalien tauschen."
Archiv: Foreign Policy
Stichwörter: Genick, Schwerindustrie, Tausch