Magazinrundschau

Sammelort von Halunken

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
22.10.2013. Grantland nimmt Harvey mit den Scherenhänden aufs Korn. Im Guardian überlegt Will Self, wie das Internet die Rolle des Kritikers verändert. Aeon besucht in der Wüste von Mexiko Charles Ross' Landschaftskunstwerk "Star Axis". In HVG erklärt Imre Kertész: Ich bin nun kein Holocaust-Clown. Humanities beschreibt Stéphane Mallarmés Versuch als Selbstverleger. The New Republic liest David Nirenbergs kosmopolitische Geschichte des Antisemitismus. Nautilus wagt sich an die Dorabella-Chiffre Edgar Elgars.

Humanities (USA), 01.11.2013

Steve Moyer erzählt, wie Stéphane Mallarmé, der modernste Lyriker des 19. Jahrhunderts, das "Buch" neu dachte. Basierend auf Sigridur Arnars Studie "The Book as Instrument" macht er zunächst deutlich, dass "das" Buch auch seinerzeit schon umstellt war von offeneren Medien: Alben, Feuilleton-Romanen, Zeitungen und Zeitschriften. Eine der Antworten Mallarmés auf dieses Medien-Problem vor seinem Geniestreich "Un coup de dés" war das Künstlerbuch, für das er sich unter anderem mit Edouard Manet zusammentat: "Manet und Mallarmé arbeiteten bei dem 'Raben' von Poe zusammen, das von Mallarmé übersetzt und von Manets Radierungen illustriert wurde. Für beide war ihre Zusammenarbeit ein Weg, Verleger und Akademie-Jurys zu umgehen. Sie wollten das Publikum direkt erreichen. 'Der Rabe' war in jedem Apekt ein Kunstwerk, von der Wahl der Papierdicke über die Typografie bis zu den minimalistischen Radierungen Manets, die dem Leser Raum für Kontemplaton und seine eigene Interpretation von Poes Erzählgedicht gaben." Das Buch war ein kommerzieller Misserfolg. Nur 240 Exemplare wurden gedruckt.

Das Bild zeigt Manets Raben im Flug:


Archiv: Humanities

El Pais Semanal (Spanien), 20.10.2013

Mehr Demokratie wagen auf Brasilianisch: Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva äußert sich im Interview mit Jesús Ruiz Mantilla über die neue Protestbewegung im Land: "Die Proteste in Brasilien sind gesund: Ein hungriges Volk zeigt wenig Bereitschaft zum politischen Kampf. Unsere Gesellschaft hat entdeckt, dass es durchaus möglich ist, sich mehr vom Leben zu erhoffen. Wir müssen die demokratische Teilhabe hochhalten und dürfen nicht zulassen, dass die jungen Leute sich von der Politik lossagen, denn wenn das passiert, kommt am Ende der Faschismus. Wir wollen, dass die jungen Leute offen diskutieren, damit sie die Erfahrung machen, dass die demokratische Teilhabe der einzige Weg ist. Was die Presse angeht, so verteidige ich unbedingt die Pressefreiheit - meinen Erfolg habe ich ihr zu verdanken. Allerdings kontrollieren bei uns immer noch neun Familien sämtliche Medien, erst durch das Internet hat sich das ein wenig verändert. Es geht natürlich nicht darum, Einfluss auf die Inhalte zu nehmen, sondern auch hier für mehr Demokratie zu sorgen, den Zugang zu erweitern."
Archiv: El Pais Semanal

Elet es Irodalom (Ungarn), 16.10.2013

Der Schriftsteller und Essayist Iván Sándor reflektiert einen kürzlich erschienenen Essay (mehr) von Péter Nádas über die Stärken und Schwächen des Demokraten und diagnostiziert für die ungarische Gesellschaft einen Mangel an liberaler Tradition. "Warum konnte sich der Liberalismus im zwanzigsten Jahrhundert nicht zu einer Kraft formen, welche das Schicksal des Landes längerfristig hätte beeinflussen können? In erster Linie, weil er ausgegrenzt und unterdrückt wurde. Doch auch nach 1990 rechneten seine Vertreter nicht mit den historisch-kulturellen Reflexen und dem mentalen Zustand der Gesellschaft. Sie überschätzte seine kurzfristige Beleibtheit. Er formulierte ideelle Ziele, ohne dass es dafür wirklich eine breite Unterstützung gab. Die Angebote sind am Unverständnis der andere Traditionen gewohnten Gesellschaft gescheitert."

Und György Konrád meint in einem Artikel über die Meinungsfreiheit: "Obwohl für den Intellektuellen die Gedankenfreiheit das Wichtigste ist, ist es in Ungarn in der letzten Zeit Mode geworden, sich vom Geist der Freiheit abzuwenden oder sich von vornherein über sein anstehendes Verschwinden zu erschrecken, es dabei als gegeben zu akzeptieren. Das verwirrte Volk hat es nicht begriffen, wie leicht dieser, unser gemeinsamer Schatz, die Freiheit verloren gehen kann. Real gab es einen politischen Stimmungswechsel, der in einer von einem Führer dominierten autoritären Herrschaft mündete. Als wären die demokratischen Instinkte und Sensibilitäten meiner Landsleute verunsichert, scheint es so, dass die Mehrheit die eigene Niederlage begrüßt."

New Republic (USA), 21.10.2013

Der Historiker David Nirenberg hat eine Geschichte des Antisemitismus in der westlichen Welt vorgelegt, "Anti-Judaism", die nicht einfach nur eine Auflistung der schlimmsten antisemitischen Ressentiment ist, schreibt ein absolut hingerissener Anthony Grafton in seiner Besprechung: Nirenberg will wissen, warum so viele Kulturen und Intellektuelle sich immer wieder mit den Juden auseinandergesetzt haben. "Nirenbergs Parade imaginierter Juden - die scheußlichste Prozession seit den Flagellanten in 'Das siebte Siegel' - reicht von der arabischen Halbinsel bis nach London und vom 7. Jahrhundert v.Chr. bis zum 20. Jahrhundert nach Christus. Immer von den Originalquellen in den Originalsprachen ausgehend, beobachtet Nirenberg die verschiedenen Wege, auf denen imaginierte Juden den Zwecken realer Autoren und Denker dienen - von Mohammed, der eine neue Religion gründete, bis Shakespeare, der eine neue kommerzielle Gesellschaft beobachtete. Gott steckt hier teilweise in den Details: in der vorsichtigen, zärtlich beobachteten Art mit der Nirenberg alles zerlegt, von der scharfen politischen Rhetorik bis zur klangvollen Shakespearschen Drama."

Sehr interessant auch dieser Artikel von Matthew Shaer, der die Berichterstattung über Syrien untersucht: Neben Bürgerjournalisten und unabhängigen Organisationen gibt es inzwischen auch viele Medien, die von ausländischen Interessen gesteuert sind.
Archiv: New Republic

Grantland (USA), 15.10.2013

"Harvey mit den Scherenhänden" wird Studioboss Harvey Weinstein in Hollywood für seine berüchtigten Eingriffe beim Filmschnitt genannt. Seine kreativen Kriege, etwa mit Martin Scorsese und Billy Bob Thornton, sind legendär - und der Erfolg gibt ihm recht. Dass sich die Interventionen positiv auf die Qualität der Filme auswirken, wagt Karina Longworth allerdings zu bezweifeln. So soll Weinstein beispielsweise standardmäßig die Kürzung eines Films um zwanzig Minuten verlangen: "'Zwanzig Minuten' scheint eine magische Zahl für Harvey zu sein, geradezu eine Zwangsneurose... In Zeiten, in denen die größten Kassenerfolge der letzten drei Jahre immer über zwei Stunden lang waren, macht die Kürze einen Film nicht kommerzieller. Aber indem er die Handschrift des Regisseurs untergräbt, kann sich Harvey als der wahre Mächtige fühlen, und das braucht er, um seinen magischen Einfluss auf einen Film zu entfalten." (Gerade beklagte sich der Regisseur Olivier Dahan in Liberation bitter, dass Weinstein seinen Film über Grace Kelly umschneidet.)
Archiv: Grantland

Guardian (UK), 09.10.2013

Wie hat sich die Kritik im allgemeinen und die Filmkritik im besonderen durch das Internet verändert? Damit setzt sich der Filmkritiker Mark Kermode in seinem Buch "Hatchet Job" auseinander. Vom Ergebnis ist der Schriftsteller Will Self nur halb überzeugt: "Kermode erfasst richtig, dass das Problem für zeitgenössische Schreiber aller Art (Filmemacher und Musiker ebenfalls) darin besteht, dass die wesentliche Verbindung zwischen Wort/Bild/Ton und Geld aufgelöst worden ist. Er schreibt forsch-fröhlich darüber, Web Content kostenpflichtig zu machen, wirkt dabei aber eher wie ein holländischer Junge, dessen Finger in der Paywall steckt, während über seinem Kopf eine gewaltige Flut an Free Content hinwegdonnert." Kermode sieht die Kritik endgültig am Ende, sobald der Film aufhört, in seiner jetzigen Form zu existieren. Diese Gefahr besteht auch für Self, der meint, in einer Welt des Informationsüberflusses sei "der Kritiker nicht länger dazu da, für uns zwischen 'besseren' und 'schlechteren' oder 'mehr' und 'weniger' profitablen Kunstformen zu unterscheiden, sondern nur dazu, uns zu sagen, ob wir unsere kostbare Zeit verschwenden - und hierfür ist die kollektive Meinung von Amateuren weit hilfreicher als die singuläre Wahrnehmung eines einzelnen Kritikers."
Archiv: Guardian
Stichwörter: Geld, Paywalls, Self, Will

New York Review of Books (USA), 07.11.2013

Die New York Review of Books feiert fünfzigsten Geburtstag! Erst wenige Artikel aus dieser Jubiläumsausgabe sind online. Lesen darf man aber schon die Besprechung von Thomas Pynchons Roman "Bleeding Edge" über den 11. September durch den Schriftsteller Michael Chabon. Er sieht darin alle von Pynchon bekannten Motive und Topoi versammelt: seinen Kampf gegen das, was Jack Kirby die "Antilebens-Gleichung" nannte, Verschwörungstheorien und Ironie als dramaturgisches Mittel. „"Seit 'V.'’ sind fast alle seine Romane auf einer Basis von Kriminalliteratur angelegt, unterlegt mit Science Fiction, Jungsabenteuer, Western, Spionageroman und anderen Genres, die sich wie Verschwörungsstheorien auf geheime Pläne stützen. Seine gebrochenen Plots enthüllen die erkenntnistheoretische Gebrochenheit paranoider Systeme, die im Grunde nichts weiter als Versuche sind, hochfliegend, jedoch nicht weniger dazu verurteilt genau wie alle anderen daran zu scheitern, aus einer kaputten Welt schlau zu werden.“"

Zu lesen ist außerdem die Erzählung „"Love in the Gardens“" von Zadie Smith.

Aeon (UK), 15.10.2013

In der Wüste New Mexicos arbeitet der Bildhauer Charles Ross seit über vierzig Jahren an seinem monumentalen Landschaftskunstwerk "Star Axis". Ross Andersen durfte die Stätte besichtigen und berichtet ergriffen: "Ich wurde gebeten, keine Fotos zu machen und in meiner Geschichte unspezifisch bezüglich des Ortes zu sein. Außerdem instruierte man mich, nachts auf dem Tafelberg keine Scheinwerfer zu benutzen, um nicht ungebetene Besucher anzuziehen. Diese Mantel-und-Degen-Rituale haben künstlerische Gründe. Wie jeder ehrgeizige Künstler, möchte Ross sein Werk perfektionieren und polieren, bevor er es enthüllt. Aber sie haben auch praktische Gründe. 'Star Axis' ist zwar fast fertiggestellt, nicht jedoch die Sicherheitsmaßnahmen. Die völlige Finsternis kann einen dort nachts die Orientierung verlieren und in eine der Spalten stürzen lassen. Im Internet kursiert sogar das Gerücht - Ross wollte es nicht bestätigen -, Charlize Theron sei hier beinahe in den Tod gestürzt."


Archiv: Aeon
Stichwörter: Theron, Charlize

Huffington Post fr (Frankreich), 20.10.2013

Einen "„ideologischen Molotowcocktail“" nennt Anne Sinclair in ihrem Leitartikel den Fall des aus einem Schulbus gezerrten und aus Frankreich ausgwiesenen Roma-Mädchens Leonarda. „Es sei ein brisanter Mix, der diesen Cocktail erzeugt habe: "Die illegalen Einwanderer, die Sicherheit, der Front National, der zum Mittelpunkt des politischen Spiels geworden ist, die Kontroversen um die Roma, der endlose Streit über Laizität, die Differenzen zur Stellung des Islam, der Eindruck der Unentschlossenheit an der Regierungsspitze.“" Und den Intellektuellen falle nichts weiter ein, als sich über nationale Identität zu zerfleischen, etwa in einer Fernsehsendung am vergangenen Freitag, in der ein "außer sich geratener Alain Finkielkraut den Drehbuchautor Abdel Raouf Dafri, dem man seine Abscheu gegenüber dem Philosophen deutlich ansah, zwei Mal anbrüllte: Schweigen Sie".

Auch in anderen französischen Medien wird das Thema diskutiert. In Le Point singt die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Claire Gallois dem Staatspräsidenten François Hollande das Loblied des Rücktritts. Und in Rue89 kritisiert Mathieu Deslandes, die Linke wisse offenbar nicht mehr, wo sie lebt.

HVG (Ungarn), 09.10.2013

Unter dem Titel "Ich war ein Holocaust-Clown" erschien vor kurzem in der Zeit ein Interview mit dem Schriftsteller Imre Kertész. Die Aussagen des Literatur Nobelpreisträgers haben erneut für Aufsehen in Ungarn gesorgt. Gábor Murányi sprach mit Kertész unter anderem über dieses Interview, das eigentlich sein letztes sein sollte: "Die von mir hochgeachtete und geschätzte Kritikerin, Iris Radisch hatte diesmal nicht aufmerksam genug gelesen. Ich hatte im Jahre 2007 einen Auftritt in Sachsen abgesagt und formulierte in meinem Tagebuch so 'ich bin nun kein Holocaust-Clown'; die Gefahr bestand, ich wurde aber zu keinem Clown. (...) In der Eile weiß ich gar nicht, ob Dostojewski oder Camus es geschrieben hat, dass das einzige ernsthafte philosophische Problem der Suizid sei. Ich entschied mich für das Leben, denn ich sorgte für kein Selbstmordwerkzeug. Ich dachte stets, wenn die Zeit kommt, springe ich aus dem Fenster. Jetzt ist die Zeit umsonst gekommen, ich kann ohne Begleitung nicht einmal zum Fenster gehen. Nichts wird mehr passieren, es kann nichts mehr passieren. Höchstens... Wann wird dieses Interview erscheinen?" (Aktualisierung vom 25.10.: Iris Radisch weist darauf hin, dass in der deutschen Fassung von Imre Kertesz' Tagebuch auf Seite 411 der Satz steht: "Ich bin nicht länger Holocaust-Clown".)
Archiv: HVG

Nautilus (USA), 17.10.2013

Der Komponist Edward Elgar, Schöpfer der "Enigma Variations" und von "Pomp and Circumstances", hatte eine Schrulle, die bis heute gut ankommt: Er liebte Rätsel, Verschlüsselungen und Denksportaufgaben. Seiner guten Freundin Dorabella Penny schickte er einst eine Reihe rätselhafter Zeichen, die bis heute nicht überzeugend entschlüsselt sind, erzählt Mark MacNamara. "Unzählige Kryptographen haben voller Eifer versucht, die 'Dorabella-Chiffre' zu knacken - unter Einsatz höherer Mathematik und Analytik. Aber die Elgar Society ist bisher mit keiner Lösung einverstanden. Sie ist der selbst ernannte Schiedsrichter in dieser Sache. Während der Union Jack stolz über ihrem pfeifenden Teekessel flattert, verlangt die Elgar Society, dass die Lösung die Chiffre auflösen und aus sich selbst heraus verständlich sein soll, so dass Elgar Aficionados in der ganzen Welt einander zunicken und sagen können: 'Natürlich, das ist es. Warum haben wir das nicht gesehen?'"
Archiv: Nautilus

Mother Jones (USA), 07.10.2013

Was bringt einen afghanischen Polizisten dazu, auf unbewaffnete amerikanische Marines zu schießen, wie es 2012 der 17-jährige Aynuddin tat, fragt sich der in Kabul lebende Journalist Matthieu Aikins. Hatte er womöglich Verbindung zu den Taliban? Aikins will der Sache auf den Grund gehen, und findet heraus, dass es immer wieder Insider-Angriffe auf das Police Advisor Team der ISAF (International Security Assistance Force, das die afghanische Polizei vor Ort unterstützen soll) gegeben hat: "Die ganze Betreuungs-Idee war brandgefährlich und prädestiniert für kulturelle Konflikte. Die Annahme, bewaffnete afghanische und amerikanische 18-Jährige würden von der Gesellschaft des jeweils anderen profitieren, war äußerst optimistisch. In kleineren Einheiten in Gebieten, wo mehr gekämpft wurde und Afghanen und US-Soldaten tagtäglich aufeinander angewiesen waren um zu überleben, pflegten die Kriegsbande diese Differenzen aufzulösen, in mittelgroßen Befestigungen jedoch, wo der Kontakt regelmäßig, aber oberflächlich war, brodelten Spannungen. Die Afghanen mit ihren ganz anderen sozialen Normen, Hygiene-Gewohnheiten und Verhaltensweisen fanden die Amerikaner oft respektlos und arrogant, während die Amerikaner ihren Gegenübern mit offener Geringschätzung begegnen konnten."
Archiv: Mother Jones
Stichwörter: Kabul, Mother!, Security, Hygiene, Police

The Baffler (USA), 22.10.2013

Susan Faludi betrachtet die Bewegung, die rund um Sheryl Sandbergs Buch "Lean In" entstanden ist. Sandberg, Geschäftsführerin von Facebook, ermuntert darin Frauen, die obersten Ränge in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld zu erobern. Das ist okay, meint Faludi. Aber warum wird die Mehrheit der in miesen Jobs arbeitenden Frauen ignoriert, fragt sie sich nach einem Gespräch mit zwei Weberinnen, die in den 70er Jahren bessere Arbeitsbedingungen für sich und ihre Kolleginnen erkämpft haben. Verkörpert Lean In wirklich den neuen Feminismus? "Es scheint kaum eine die sozialen Klassen übergreifende Solidarität bei diesen Triumphalisten zu geben, trotz ihrer Behauptung, für alle Frauen zu sprechen. Lean Ins Scheinwerfer streift selten über die niederen Ränge. Man sucht auf ihren Webseiten, in ihrer Literatur und in den Erklärungen auf Konferenzen vergeblich nach einem Beleg für ihre Besorgnis daräber, wie die andere Hälfte lebt - oder eher die anderen 99 Prozent. Wie Linda Burnham in einem scharfsinnigen Essay bei Portside.org schrieb: Lean In "hat vor allem ein Manifest für korporatischen Feminismus produziert", einen "1 Prozent Feminismus", der "nur von der Glasdecke berichtet, nie vom Boden". Die Bewegung, die ursprünglich geschmiedet wurde, um die große Masse der Frauen zu bewegen, wurde gekapert um dem individuellen (und privilegierten) Mädchen zu dienen."
Archiv: The Baffler

London Review of Books (UK), 24.10.2013

Alles im Grunde doch gar nicht so schlimm, was die NSA betrifft, könnte man nach der Lektüre von Daniel Soars Artikel zum Thema meinen: Zwar haben uns Guardian und andere Medien schockierende Headlines gebracht, doch fußen diese nur auf NSA-internem Promo-Sprech, meint Soar. Tatsächlich sei gar nicht zu wissen, was und wieviel der Schnüffeldienst abfängt und auswertet - zumal angesichts der schier überwältigenden Datenmengen, die allein pro Minute weltweit durch die Datenkanäle gehen. "Einer der Screenshots, die der Guardian nicht veröffentlichte - später tauchte er in der Washington Post auf -, zeigte ein Werkzeug zur Analyse von Prism-Aufzeichnungen. Die komplette Anzahl von Aufzeichnungen in der Datenbank betrug - im April, als der Screenshots angefertigt wurde - 117675. Es lohnt, sich die Nummer genauer anzusehen. Facebook hat eine Milliarde Nutzer: die Hälfte der Weltbevölkerung mit Internetanschluss hat dort einen Account. Der Anteil jener, deren völlig entschlüsselte Aktivitäten die NSA aktiv beobachtete, kann nicht mehr als 0,01 Prozent betragen. Das sollte einen noch nicht zu der Annahme verleiten, dass die NSA aus noblen Gründen davon absieht, sich Zugang zu unseren Babybildern und dümmlichen Kommentaren unter den Babybildern anderer Leute zu verschaffen. Aber es legt doch nahe, dass man nicht einfach bei Facebook ein Formular einreicht, um Zugriff auf die Timeline irgendeines Mexikaners zu erhalten, es sei denn, man verspricht sich davon Ergebnisse." Ach ja?

Stefan Collini liest Bücher zur Ökonomisierung der britischen Universitäten und muss sich danach doch sehr wundern: Obwohl große Unternehmen in der freien Wirtschaft äußerst wechselhafte Bilanzen aufweisen "und obwohl öffentliche Einrichtungen wie Museen und Galerien, die BBC und die Universitäten im Großen und Ganzen recht gut dastehen (...), haben Politiker in den vergangenen drei Jahrzehnten wiederholt Anstrengungen unternommen, die zweitere Gruppe von Institutionen der ersteren anzugleichen. Manche Historiker in der Zukunft dürften sich wohl auch wundern, warum es gegen dieses von Grund auf unplausible Programm so wenig konzertierten Widerstand gab. Doch dürften sie wohl zumindest bemerken, dass diese Regierungen, neben ihren vielen weiteren Glanzleistungen, bei den entscheidenden Schritte mitgeholfen haben, aus einigen Universitäten erster Güte drittklassige Firmen zu machen."
Stichwörter: Washington, Washington Post

Wired (USA), 18.10.2013

Nachdem aus dem Internet nun auch offiziell ein "Spynet" geworden ist, schlägt Clive Thompson vor, dass wir uns endgültig ins relativ spionagesichere Darknet und zu Services wie Tor (hier das Anfängerset) und Hyperboria (mehr) zurückziehen sollten. "Klingt beknackt, was? Und lässt uns endgültig alle als Kriminelle dastehen, ja? Außer, dass selbst legale, unzweifelhafte Organisationen ins Darknet abgewandert sind, um sicherzugehen, dass ihre Aktivitäten fern von gespitzten Ohren stattfinden. Der New Yorker zum Beispiel - nicht gerade als Sammelort von Halunken bekannt - bot einen von Aaron Swartz und Wired-Redakteur Kevin Poulsen programmierten, von Tor versteckten Service an, damit Whistleblower geschützt Dokumente und Nachrichten einreichen können."

Joshua Davis plädiert dafür, das im wesentlichen noch immer intakte Top-Down-Modell unseres heutigen, noch immer im 19. Jahrhundert wurzelnden Schulsystems zugunsten einer dezentraleren Methode zu überdenken. Für die Wissenschaftler, die an solchen Methoden forschen, "ist Wissen kein Rohstoff, den die Lehrer an ihre Schüler ausgehändigen, sondern etwas, dass aus den neugierigen Erkundungen des Schülers heraus erwächst. ... Die Lehrer schaffen den Schülern eine Möglichkeit, die eigenen Leidenschaften zu entdecken, und entdeckt dabei eine Generation der Genies."

Außerdem würdigt Wired den Komiker Bob Odenkirk, der mit seiner unter Geeks offenbar legendären Comedy-Show "Mr. Show" den Internethumor seinerzeit bereits vorwegnahm: Ihm "gelang es, Youtube-kompatible Sketch-Comedy zu perfektionieren bevor Youtube auch nur erfunden war." Hier einige Eindrücke:

Archiv: Wired

Economist (UK), 19.10.2013

Der erzielte Kompromiss zwischen den Republikanern und Demokraten nach dem "Government Shutdown" ist nichts, auf was man stolz sein könnte, meint der Economist. Im Gegenteil, äußerten sich die USA bislang tendenziell überheblich über Europa, was den Umgang mit der Eurokrise betrifft, sieht man in London nun die USA mit Eselsohren in der Ecke stehen: "Was ihren Schlamassel betrifft, sprechen die Europäer wenigstens vage über Lösungsmoglichkeiten. Zwar fällt das unmittelbare Haushaltsdefizit in den Staaten - etwa 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - schmaler aus als in vielen europäischen Staaten. ... Doch das langfristige Steuerproblem des Landes ist beträchtlich: Es besteuert wie ein kleines Land, gibt aber Geld aus wie ein großes. Schlussendlich wird das Land von der demografischen Entwicklung, der riesigen Menge an Baby-Boomern, die in Rente gehen und Anspruch auf Pensionen und Gesundheitsversorgung stellen, in die Pleite getrieben." Mehr dazu auch an dieser Stelle.

Weiteres: Der Economist beobachtet einen Wandel in der Medienpolitik der Rebellen im syrischen Bürgerkrieg: Konnten westliche Journalisten bislang auf den Schutz und das Wohlwollen der Rebellen bauen, stellen diese mittlerweile eine Bedrohung für sie dar: "Das Regime zieht seinen Nutzen daraus. Es ist großzügiger geworden, was die Vergabe von Visa für westliche Journalisten betrifft." Außerdem besucht der Economist eine Hirst-Ausstellung in Qatar, informiert sich über den zeitweisen Aufenthalt des mutmaßlichen Kennedy-Attentätes Lee Harvey Oswald in der Sowjetunion und liest ungewöhnliche Biografien.
Archiv: Economist

National Geographic (USA), 01.11.2013

In einer Reportage berichtet James Verini über die blutigen Aufstände in Nigerias Norden, die das Gefüge des bevökerungsreichsten afrikanischen Landes erschüttern und seit 2009 rund 4700 Menschen das Leben gekostet haben. Im Zentrum steht dabei eine islamische Separatistengruppe namens Boko Haram, deren Führer Mohammed Yusuf 2009 – vermutlich von der nigerianischen Polizei – getötet wurde und dessen Anhänger Rache geschworen haben. „"Die Welt kommt allmählich zu der unliebsamen Erkenntnis, dass zwölf Jahre nach 9/11 gewalttätiger islamistischer Extremismus und die Konflikte, die er entfacht, nicht verschwinden. Flankierend stellt sich die ebenso unliebsame Erkenntnis ein, dass diese Konflikte mehr denn je Afrika heimsuchen, einen Kontinent, der den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts immer noch nicht gewachsen ist, geschweige denn denen des gegenwärtigen. In der Sahelzone, Heimat von al-Qaida im islamischen Maghreb und der Dschihadisten, die bis vor Kurzem den Norden Malis kontrollierten, ist Boko Haram als die übelste einer üblen neuen Spezies in Erscheinung getreten.“"

Eurozine (Österreich), 17.10.2013

Alle zwei Wochen, heißt es, verschwindet eine Sprache. In Litauen herrscht große Sorge, dass es aufgrund der hohen Abwanderungsrate und der zunehmenden Dominanz des Englischen auch mit dem Litauischen bald zu Ende gehen könnte. Unfug, meint der Lituanist Giedrius Subacius: "Auch wenn in unserem Wörterbuch eine halbe Million Wörter stehen, benutzt eine belesene Person meist nur etwa zehntausend Wörter, und für den Alltagsgebrauch reichen gar rund dreitausend Wörter aus. Aber dass wir nur ungefähr zwei Prozent des litauischen Vokabulars kennen, bedeutet nicht, dass die litauische Sprache ausstirbt. Andere Sprachen zeigen ganz ähnliche Tendenzen. Es ist nun einfach einmal so, dass Wörter kommen und gehen, während die Sprache bleibt. Wörter sind nicht die Steine, aus denen der Sprachpalast errichtet ist, sie sind das Mobiliar."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: Litauen, Dominanz

New York Times (USA), 16.10.2013

In einem Food-Special der Zeitung schreibt Marnie Hanel über den Pazifischen Riesenkraken, der unter anderem im Puget Sund vor Seattle haust und den die Stadtbevölkerung unbedingt vor dem Verspeisen retten wollte, obwohl seine Bestände, wie sich herausstellte, überhaupt nicht gefährdet sind. Daneben porträtiert Hanel den Koch Matthew Dillon, Seattles Oktopus-Ikone, der die Zubereitung des durchaus nicht so ohne weiteres weich zu kriegenden Tiers perfekt beherrscht: "„Der Erfolg jedes Oktopusgerichts liegt in seiner Konsistenz. Auf den griechischen Inseln lassen ihn Fischer bis zu hundert Mal gegen Felsen sausen, um sein zähes Fleisch, das zu neunzig Prozent aus Muskeln besteht, zart zu machen. In Japan massieren Schüler von Sushi-Meister Jiro Ono ihre Oktopusse bis zu fünfzig Minuten lang. In der häuslichen Küche wird er oft geklopft. Selbst dann kann die Konsistenz widrigerweise immer noch mit 'buttergebratenem Gummi’' vergleichbar sein, wie Mark Plunkett [vom Seattle Aquarium] es einmal bezeichnete.“"

Elle Barry reist mit dem Zug durch ein zerrüttetes Russland, wo sie abseits der großen Städte frappierende Armut, sterbende Dörfer und eine katastrophale Infrastruktur vorfindet. Während Putin in seinem Ferienhaus mit seinen Gästen in Joghurt und Honig baden soll, haben 20 Prozent der Russen in ihren Wohnungen nicht einmal heißes Wasser. "Weil sich der Staat nicht um das Umland kümmert, quälen die Leute sich mit Entscheidungen herum, die in vergangene Jahrhunderte gehören: Die Häuser mit einem Holzofen heizen, bei dem alle drei Stunden mit Hand nachgelegt werden muss, oder Diesel verbrennen, der die Hälfte des Monatsgehaltes kostet? Wenn die Straße so kaputt ist, dass Krankenwagen nicht bis zum Haus gelangen, ist es dann sicher zu bleiben? Wenn die Häuser aber keinen Käufer finden, können sie dann überhaupt weggehen?" Barrys Recherchen lassen nur wenig Hoffnung auf eine baldige Verbesserung der Situation. Mehrere Videos und Bilder veranschaulichen die Reportage und Barry lässt den Leser auch anhand einer seitlich mitlaufenden Route ihre Reise nachverfolgen.
Archiv: New York Times
Stichwörter: Wasser, Felt, Oktopus, Rouen