9punkt - Die Debattenrundschau

Mit hohem Fieber

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2020. Die Corona-Krise ist überall. Wir bieten ohne Anspruch auf Vollständigkeit eine Presseschau aus Schlaglichtern: Und darin das Erfreuliche zuerst. In China und Korea sinkt die Zahl der Neuinfizierten. Der Tagesspiegel erklärt außerdem, warum es eine Sensation ist, dass es in Taiwan so gut wie keine Infizierten gibt - und warum praktisch niemand darüber spricht. Irgendwie auch wichtig: Der Perlentaucher wird 20. In der Welt singen Anja Seeliger und Thierry ein Lob des deutschen Feuilletons.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.03.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Corona-Krise überall

Es ist unmöglich, ein so weltbewegends Ereignis wie die akute Corona-Krise adäquat in einer Perlentaucher-Feuilletonrundschau widerzuspiegeln. Wir suchen nach Schlaglichtern und Links zu guten Reflexionen und Informationen. Wir privilegieren Artikel, die online zu lesen sind.

Das Erfreuliche zuerst, laut Live-Blog von Zeit online: In China und Südkorea, "bisher Zentren der Pandemie, werden weniger Neuinfektionen gemeldet".  Und "natürlich kann man noch einkaufen gehen", lautet die aktuelle Empfehlung des Berliner Virologen und Corona-Superstars Christian Drosten im NDR-Podcast. Hier die Transkription der Drosten-Interviews. Und ein Schnelltest auf corona wurde entwickelt, der die Bekämpfung der Ausbreitung möglicher Weise erheblich erleichtern wird, berichtet Johannes Ritter im FAZ-Net.

Der Atlantic teilt in einem Artikel mit der ebenfalls hoffnungsfrohen Überschift "The Trump Presidency Is Over" nebenbei eine Devise mit, an die sich hoffentlich auch die deutschen Medien halten: "Der Atlantic macht die Berichterstattung zu wichtigen Aspekten der Corona-Krise für alle Leser zugänglich." Die SZ tut das aber leider nicht und belässt ihren Seite 3-Artikel unter dem Titel "Die kommenden Tage" im zahlbaren Bereich. Warum im Untertitel "Über Angela Merkel, die Corona-Pandemie und eine Woche mit exponenziell steigender Dramatik" allerdings als erstes der Name der Kanzlerin figuriert, mag man sich auch fragen.

Die beste Krisenbekämpfung in China hat übrigens Taiwan, berichtet Richard Friebe im Tagesspiegel. Es ist eine Nicht-Nachricht, die eine Sensation ist, so Friebe: In Taiwan gibt es so gut wie keine Infizierten, obwohl über eine Million Taiwanesen regelmäßig zum Festland pendeln und Taiwan noch im Januar schlimmste Steigerungen vorausgesagt wurden. In den Medien wird über diesen taiwanesischen Erfolg aber so gut wie gar nicht geredet: "Der offensichtliche Grund dafür ist, dass die Volksrepublik China Taiwan als seine eigene Provinz ansieht und dass die internationale Gemeinschaft diese 'Ein-China-Politik' weitgehend und auch in teilweise absurder Konsequenz mitträgt. Taiwan ist deshalb so ziemlich von allen internationalen Organisationen ausgeschlossen. Dazu gehört auch die Weltgesundheitsorganisation WHO." Die WHO trägt sogar aktiv dazu bei, Taiwan international zu diskriminieren, indem sie alle Informationen nur an Peking sendet und Taiwan als chinesische Provinz behandelt.

Dazu passt der Aufmacher bei sueddeutsche.de: "WHO singt Lobeshymnen auf China." Das ist allerdings kritisch gemeint: Korrespondentin Lea Deuber erzählt, wie sich die WHO in die chinesische Propagandastrategie einbinden lässt. "Das Auftreten der Weltgesundheitsorganisation, ihre Lobeshymnen, offiziellen Statements (etwa dass man auch den Einsatz von traditioneller chinesischer Medizin in Betracht ziehen müsse), verbunden mit der Weigerung, auch die mangelnde Transparenz und die nur zögerliche Herausgabe von Daten zu erwähnen, erntet Kritik. In Petitionen fordern erste Aktivisten bereits den Rücktritt von Tedros Adhanom Ghebreyesus, der seit 2017 an der Spitze der WHO steht."

Zurück nach Haus. Wir "navigieren im Unheimlichen", schreibt Barbara Dribbusch in der taz: "Corona ist unheimlich, weil die Bedrohung neu ist, weil sie wächst und damit auch immer härtere Maßnahmen erforderlich scheinen, um das Unheil zu verlangsamen. Und dabei kann man nicht mit dem Finger auf irgendwelche Schuldigen, auf politisch Verantwortliche zeigen, was sehr ungewohnt ist für unsere Gesellschaft."

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen fragt auf Zeit online: "Was wäre unsere Wirklichkeit ohne das Internet?" Und diese Frage lässt sich auch anders stellen: "Was wäre, wenn wir, wie zu Zeiten der Spanischen Grippe im Jahre 1918/1919, die bis zu 50 Millionen Menschen dahingerafft hat, aufgrund der geltenden Zensur, den Verzögerungseffekten der Printwelt und der damals herrschenden Papierknappheit nichts Genaues wüssten von den Sterbenden in unserer Stadt oder dem tausendsten Infizierten im eigenen Land? Wären wir die, die wir heute sind?"

Welt-Autor Thomas Schmid versucht, die Krise in kleinen Geschichten abzubilden, die ihm in den Medien und im Netz begegnen: "Severa Belotti, 82 Jahre alt, und Luigi Carrara, 86 Jahre alt, waren seit sechzig Jahren verheiratet, er früher Maurer, sie Hausfrau. Sie lebten in Albino, 13 Kilometer nordöstlich von Bergamo. Die vergangene Woche über lagen beide mit hohem Fieber zu Hause, es war schon schwierig, medizinische Hilfe zu bekommen. Am vergangenen Samstag wurde sie, am Sonntag er ins Krankenhaus Papa Giovanni XXIII in Bergamo eingeliefert. Am Sonntag um 9.15 Uhr starb sie, um 11 Uhr er. Der Sohn Luca Carrara konnte sie nicht mehr sehen, sich nicht von ihnen verabschieden, denn auch er befindet sich in Quarantäne."

Die Krise "stellt dieser Gesellschaft und ihren Staaten auch eine bislang ganz unbekannte Aufgabe", schreibt FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube: "So gut wie ihre gesamte Leistungsfähigkeit auf ein einziges Problem zu konzentrieren oder jedenfalls so gut wie alles diesem einen Problem unterzuordnen. Eine solche Vereinfachung des Sozialen gelingt normalerweise nicht einmal Kriegen."

Das Kulturleben trifft es neben dem Sport und anderen Veranstaltungen besonders hart. Die taz wirft Schlaglichter auf Absagen, Verdienstausfälle und und offene Fragen: "Spannend bleibt weiterhin die Frage, ob in Cannes das wichtigste Filmfestival der Welt, für Filmbranche wie Filmkritik gleichermaßen, dieses Jahr ausfallen muss oder nicht. Noch soll am 16. April in der geplanten Pressekonferenz das Filmprogramm vorgestellt werden, das Festival bemüht sich unterdessen, die Größe der Veranstaltung und die zugelassene Zahl der Kinosaalbesucher zu begrenzen." Mehr dazu in Efeu.

Außerdem: In einer kleinen Presseschau für Netzpolitik zeigt Dominic Lammar, wie Medien die Ausbreitung der Corona-Krise visualisieren. Zu den besten Beispielen gehört eine interaktive Grafik in der New York Times, in der Nicholas Kristof zeigt, wie viel von einem frühen Zeitpunkt des Eingreifens abhängt.
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Irgendwie auch wichtig: Marc Reichwein und Andreas Rosenfelder interviewen die Perlentaucher Anja Seeliger und Thierry Chervel zum 20. Geburtstag des Perlentauchers (der ist morgen!) Und sie betonen nebenbei, warum das hier immer noch im wesentlichen eine Feuilletondrundschau ist - die deutschen Feuilletons sind etwas Besonderes, sagt Seeliger: "Gerade, was Kritik angeht. Ich lese für unsere Magazinrundschau ja viel Internationales, schätze zum Beispiel den Guardian wirklich sehr. Aber der Kulturteil angloamerikanischer Medien ist teilweise sehr provinziell. Anders sieht es bei den Reportagen aus, wobei The Atlantic und der New Yorker auch da nachgelassen haben." Hier der Link zu unserer allerersten Bücherschau vom 15. März 2000.

Unsere für 26. März geplante Geburtstagsveranstaltung mit einem Podium zum Thema "Das Neue erzählen" müssen wir wegen der Corona-Krise leider nun auch absagen. Wir holen die Veranstaltung zu einem späteren Zeitpunkt nach.
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Stichwörter: Perlentaucher, Corona, Coronakrise