9punkt - Die Debattenrundschau

Ein möglicher Bruch

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2017. Die Katalonen werden nun doch nicht unabhängig - vorerst jedenfalls nicht. Reinste politische Akrobatik, meint dazu Politico. Die FAZ sieht in den Katalanen die Vorhut für eine neue Form der Bürgermobilisierung gegen langweilige demokratische Verfahren. Demokratie kann man auch durch Unfähigkeit kaputt machen, erkennt die Berliner Zeitung mit Blick auf den Berliner Senat. In der SZ erklärt Christoph Butterwegge, warum das bedingungslose Grundeinkommen ungerecht ist. Und: Gleichstellung ist Frauenförderung, erklärt auf Zeit online  die Verfassungsrechtlerin Anna Katharina Mangold.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.10.2017 finden Sie hier

Europa

Die Unabhängigkeit Kataloniens ist vertagt. Gestern abend erklärte Regionalpräsident Carles Puigdemont in einer Rede vor dem Parlament in Barcelona zwar, die Katalanen hätten mit dem Referendum das Recht errungen, unabhängig zu werden. Aber erst mal wolle man noch mit Madrid reden. Die anschließende Ausrufung der Unabhängigkeit war dann nur noch symbolisch gemeint. Damit hat Puigdemont den spanischen Ministerpräsidenten Rajoy in eine unmögliche Situation gebracht, meint Lisa Caspari auf Zeit online. "Madrid ist der festen Überzeugung, dass Katalonien einseitig gar nicht unabhängig werden kann. Doch wenn Rajoy jetzt beginnt mit Barcelona zu verhandeln, so muss er die katalanischen Unabhängkeit - in ihrer ausgesetzten Form - quasi anerkennen. Also Puigdemonts Spiel mitspielen. Das wird er kaum tun, auch wenn Dialog wichtiger wäre, als je zuvor. Und so wird dieser Konflikt noch lange weiter schwelen.

Reinste "politische Akrobatik" nennt Diego Torres auf Politico.eu, was Carles Puigdemont gestern Abend vorgelegt hat, und damit hat er Anhänger wie Gegner gleichermaßen konsterniert: "Doch er stiftet nicht nur Verwirrung, er riskiert auch, seine Allianz der Separatisten zu überstrapazieren. Ein möglicher Bruch könnte zu regionalen Neuwahlen führen."

Sind die Verfahren der Demokratie so "pomadig", dass die Leute sie aus schierer Langeweile über den Haufen werfen, wie die Katalanen es derzeit tun? Paul Ingendaay ist in der FAZ ratlos: "Je nachdem, wem man Glauben schenkt, könnte man die Vorgänge in Katalonien als Blamage der Politik nach altem Verständnis - oder aber als neue Form der Bürgermobilisierung verstehen, an die wir uns in Europa gewöhnen müssen. Insofern kommt den spanischen Vorgängen durchaus Laborcharakter zu. Die etablierte Politik mit ihrem Pochen auf Verfassung, Gesetz und demokratische Üblichkeiten wurde in Katalonien ein ums andere Mal auf dem falschen Fuß erwischt. Angesichts friedlich demonstrierender Menschen zeigte sie sich erst reaktionsmüde, dann eisenhart. Allzu sicher sollten sich auch die Demokratien des nördlicheren Europas nicht fühlen."
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Politik

Demokratie kann auch anders kaputt gehen, wenn nichts mehr funktioniert. In der Berliner Zeitung guckt Götz Aly grundgenervt auf die Verwaltung der rotgrünen Stadtregierung Berlins, die nichts richtig anpackt: "Für die Berliner Grundschulen wurden im Sommer fast tausend neue Lehrkräfte eingestellt: mehr als die Hälfte davon sind Quereinsteiger, die über keine pädagogische und eine für den Schulbetrieb meist zu enge fachliche Ausbildung verfügen. Nichts gegen Quereinsteiger. Wir brauchen sie. Aber wie kommt es, dass ausgerechnet diese noch erfahrungs- und ausbildungsbedürftigen Anfänger überwiegend an jenen Schulen eingesetzt werden, die von besonders vielen Kindern aus bildungsfernen Schichten besucht werden? Das ist ein vom Senat, insbesondere von der SPD, verursachter und geduldeter Skandal. Damit erweist sich das linke und sozialdemokratische Reden von Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Hilfe für die sozial Unterprivilegierten mit einem Schlag als leeres Geschwätz."
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Stichwörter: Aly, Götz, Chancengleichheit

Ideen

Würde ein ein bedingungsloses Grundeinkommen uns alle ein bisschen gleicher machen? Überhaupt nicht, meint der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge in der SZ. Erstmal müssten wir den Sozialstaat abschaffen, denn Grundeinkommen und Sozialstaat könne auch die reiche Bundesrepublik nicht finanzieren. Und die Verteilung des Geldes nach dem Gießkannenprinzip erscheint ihm auch nicht wirklich gerecht: "Völlig unberücksichtigt lässt das Grundeinkommen die Lebensumstände der Individuen. Alle erhalten denselben Geldbetrag, unabhängig davon, ob sie ihn brauchen oder nicht. Auf diese Weise gewährleistet das Grundeinkommen zwar eine für jeden gleich hohe Minimalabsicherung, der Spezialbedarf vieler Menschen, etwa von Schwerstbehinderten, die teure Geräte oder eine Vollassistenz brauchen, werden hingegen missachtet." Butterwegge plädiert daher lieber für eine "solidarische Bürgerversicherung" in die auch Freiberufler, Beamte und Politiker einzahlen.
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Gesellschaft

Die Rechten, das sind nicht immer die anderen. Manchmal entwickelt sich der Ehepartner dazu. So ergeht es derzeit dem Alt-68er, Ideenhistoriker und Literaturwissenschaftler Helmut Lethen, dessen Frau Caroline Sommerfeld-Lethen zu den Identitären übergelaufen ist, erzählt Johan Schloemann in der SZ. Während ihr Mann sich gegenüber der SZ in "buddhistisches Schweigen" hüllt, macht seine Frau in Kolumnen den Ehekampf munter zum Thema und hat jetzt sogar ein Buch - zusammen mit Martin Lichtmesz, einem Wiener neuen Rechten - veröffentlicht: "Mit Linken leben" heißt es. Dort liest man: "'Wir werden die Linken nicht loswerden, und sie uns auch nicht. (...) In ihren Augen sind wir wie Viren, die möglichst gründlich isoliert werden müssen, so sehr fürchten sie die Ansteckungsgefahr. - Eine solche Koexistenz ist jedenfalls einstweilen nur im privaten Bereich zwischen Individuen möglich. Dass sich das ändert, dass die rechte oder konservative Position wieder Status und Legitimität erlangt, sollte eines der Ziele sein, für die wir kämpfen.'"

Im Interview mit Zeit online verteidigt die Verfassungsrechtlerin Anna Katharina Mangold eine Entscheidung des Landesverfassungsgerichts von Mecklenburg-Vorpommern, wonach nur Frauen Gleichstellungsbeauftragte werden dürfen (mehr hier). Die Kritiker, sagt sie, "unterliegen einem Irrtum. Sie setzen den Gleichstellungsauftrag mit dem Anspruch auf formale Gleichbehandlung gleich. Dabei stellt das Grundgesetz explizit klar, dass es nicht ausreicht, rein formal Männer und Frauen gleich zu behandeln, mithin Männer wie Frauen überhaupt Beamtinnen und Beamte im öffentlichen Dienst sein dürfen. Sie müssen auch tatsächlich die gleichen Chancen bekommen."

In der taz ist Thomas Gesterkamp von dieser Argumentation nicht überzeugt: Männer in Gleichstellungsbüros wären "eine sinnvolle Erweiterung der Perspektive, ein belebender Beitrag zum Geschlechterdialog".
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