9punkt - Die Debattenrundschau

Stolz und Befindlichkeit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.11.2022. Nach dem Rückzug aus Cherson zerfällt die russische Machtelite - und es gibt Gerüchte  über ein Kapitulationsangebot des Westens an Putin, notiert die taz. In der FAZ erkennt der Osteuropaforscher Benno Ennker zwar Bezüge zum Faschismus bei Putin, aber die Kontinuitäten zum Stalinismus seien weitaus wichtiger. In der SZ kritisiert Sonja Zekri den Historiker Timothy Snyder, der die Geschichte der Ukraine besonders im Hinblick auf die ukrainische Kollaboration mit den Nazis schönrede. Die Welt malt sich in krassen Szenen ein Notwehrrecht der Bürger gegen Klebeattacken von Aktivisten aus.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.11.2022 finden Sie hier

Europa

Nach dem russischen Rückzug aus Cherson zeigen sich Risse in der russischen Machtelite, der ultrarechte Denker Alexander Dugin warf Putin in einem Telegram-Post, den er dann wieder löschte, einen Verrat an der "russischen Welt" vor, berichtet Dominic Johnson in der taz. Gleichzeitig kursieren in britschen Boulevardblättern Gerüchte, dass es ein Kapitulationsangebot des Westens an Putin gebe. Es "sieht angeblich Machterhalt und Straflosigkeit für Putin vor, wenn Russland seine Truppen vollständig hinter die international anerkannten Grenzen zur Ukraine zurückzieht, also auch den Donbass und die Krim aufgibt. Die Ukraine würde im Gegenzug die Krim nicht militärisch besetzen. Diese würde ein entmilitarisiertes Gebiet bleiben, über deren Status ab 2029 verhandelt wird. Außerdem würde die Ukraine bis dahin keinen Nato-Beitritt beantragen. Das Angebot sei in Putins Umfeld positiv aufgenommen worden, heißt es in den Berichten, deren Streuung in eher unseriösen Medien einer bewährten diplomatischen Methode entspricht, bizarre Ideen öffentlich zu testen, um sie notfalls gleich wieder vergessen zu können."

Auf Russisch lässt sich der Dugin-Post noch auf dieser Website nachlesen. Die an der Viadrina lehrende Osteuropaforscherin Annette Werberger analysiert ihn in einem kleinen Twitter-Thread.

Briten können eigentlich nur Englisch, stellt die FAZ-Kulturkorrespondentin Gina Thomas nach einem Blick auf die Statistiken fest. einer der Gründe ist, dass die Labour Party Fremdsprachen als Pflichtfach für Abschlüsse der mittleren Reife 2004 abgeschafft hat. "Einem Bericht der EU-Kommission von 2018 zufolge fühlten sich 91 Prozent der Deutschen zwischen fünfzehn und dreißig Jahren des Lesens und Schreibens in zwei oder mehr Sprachen sicher. In Frankreich lag die Zahl bei 79 Prozent. Der europäische Durchschnitt betrug achtzig Prozent. Großbritannien fiel mit nur 32 Prozent weit dahinter zurück."

Der schwedische Strafverteidiger Jens Lapidus hat eine Romantrilogie über Gangkriminalität in schwedischen Vorstädten geschrieben, die jetzt für Netflix verfilmt wurde. Im Interview mit der SZ erklärt er, warum Schweden eine so enorm hohe Mordrate hat. Toxische Hypermaskulinität sein ein Hauptgrund: "In den Prozessen kommt regelmäßig heraus, dass die Ursache für die jeweilige Schießerei nicht in Revierstreitigkeiten liegt, es geht nicht um Anteile am Drogenmarkt oder andere in krimineller Hinsicht rationale Gründe. Stattdessen geht es fast immer um Stolz und Befindlichkeit: Jemand hat mich beleidigt, ich musste mich rächen. Ein schräger Blick kann tödliche Folgen haben." Aber auch das enorme Einkommensgefälle spielt eine Rolle: "Schweden hat in den vergangenen 20 Jahren eine völlige Deregulierung des Steuersystems erlebt. ... Die Reichen sind unvorstellbar viel reicher geworden. Prozentual gesehen haben wir mittlerweile dreimal so viele Milliardäre wie die USA - die prozentual gesehen weniger Steuern zahlen als ein Arbeiter."

Auf Zeit online stellt Yassin Musharbash eine Studie über die Muslimbruderschaft in Europa vor. Erstellt wurde sie von Lorenzo Vidino und Sergio Altuna für die von der österreichischen Regierung betriebene Dokumentationsstelle Politischer Islam. Die Autoren konnten sich mit vier Männern unterhalten, die Muslimbrüder waren oder ihnen nahe stehen: "In Europa agiert die Muslimbruderschaft im Verborgenen", lernt Musharbash, umso interessanter seien die Interviews. "Es ist selten, dass Männer, die wirklich etwas vom Vorgehen der Bruderschaft verstehen, sich derart breit einlassen. Und wie gesagt: Ob alles stimmt, ob die mitgeteilten Informationen vollständig ist - in dieser Hinsicht bleibt ein Rest Skepsis geboten. Aber die Studie erfüllt ihren Zweck: Sie verbessert die Beleglage, sie macht auch deutlich, dass die Wurzeln der Geheimniskrämerei nicht zuletzt mit der historischen Erfahrung der Repression in arabischen Ländern zu tun hat, aber gewisserweise in die DNA der Bruderschaft eingesickert ist. Sie bestätigt, dass es wenig Grund gibt, den Beteuerungen der üblichen Verdächtigen, sie hätten rein gar nichts mit der Bruderschaft zu tun, zu trauen. Sie erlaubt Einblicke in die absichtsvoll im Verborgenen geteilte Ideologie der Brüder. Und sie zeigt auf, wo es  Spannungen innerhalb der Bewegung gibt."
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Ideen

In der NZZ widerspricht der Philosoph Martin Rhonheimer seinem Kollegen Konrad Paul Liessmann, der, mit Carl Schmitt argumentierend, kürzlich erklärt hatte, Putins Krieg erinnere uns daran, "dass es keine Politik, die diesen Namen verdient, gibt, ohne zwischen Freund und Feind zu unterscheiden". Das sieht Rhonheimer etwas anders. Die Unterscheidung sei nur dann von Bedeutung, wenn das Recht gefährdet sei: "Nicht weil sich Putins Russland als unser Feind offenbart hat, sind wir jetzt in der Lage, das Politische wiederzuentdecken, sondern umgekehrt: Weil das Politische im Verständnis Europas auf dem Recht beruht, vermögen wir Putin, den großen Verächter des Rechts, als unseren Feind zu erkennen. Sonst wäre er ja vielleicht nur der Stärkere, Schlauere, einer, mit dem man vielleicht - mit etwas kommunikativer Vernunft - doch einen Kompromiss schließen könnte, damit wir im Winter nicht frieren müssen."

Doch, Geschichte wiederholt sich, meint die im Burgenland geborene Schriftstellerin Dine Petrik in einem Standard-Essay zum Krieg gegen die Ukraine: "Ein nicht selten zu hörender Satz. Und dazwischen gilt das, was am einfachsten ist, das Verdrängen. Das persönliche Trauma, das wohl jedem einzelnen der älteren Jahrgänge nachhängt. Und dazu dieses: nichts wissen wollen, nichts mehr erinnern, spüren. Und das kollektive Trauma: dass das 20. Jahrhundert das grausamste aller Zeiten gewesen ist. Ein uns bis heute nachhängender Mief."

Außerdem in der FAZ antwortet der Historiker Egon Flaig auf eine Erwiderung Rebekka Habermas' zu seinem FAZ-Essay gegen Reparationsforderungen für Sklaverei (unsere Resümees hier und hier). Flaig hatte in seinem ursprünglichen Essay betont, dass nicht die Sklaverei, wohl aber der Abolitionismus spezifisch für den Westen sei. Habermas hatte undeutlich geantwortet, dass die Sklaverei von Europäern nach Afrika gebracht worden sei. Flaig setzt heute mit ausufernden Darlegungen zu Geschichtsleugnungen in der Geschichtswissenschaft nach.
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Politik

Es hätte einen Vorteil, wenn die Mullahs abträten und der Westen womöglich aufgäbe, sie als Gesprächspartner zu betrachten, schreibt Ronya Othmann in ihrer FAS-Kolumne: "Ein Regime, das es nicht mehr gibt, kann keine Atombombe bauen. Es kann auch keine abwerfen. Und es kann nicht, wie es seit 1979 droht, Israel vernichten. Dafür hat man in Teheran sogar eine 'Israel-Restzeit-Uhr' aufgestellt. Sie zählt die Tage bis zum Jahr 2040, dann will man das Land spätestens vernichtet haben."
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Stichwörter: Iran, Othmann, Ronya, Atombombe

Gesellschaft

Die Bürger hätten durchaus ein Notwehrrecht, legt Constantin van Lijnden in der Welt dar und malt sich unter Berufung auf einige Juristen krasse Szenen bei künftigen Klebeblockaden von Klimaaktivisten aus: "'Die Aktivisten von der Fahrbahn loszureißen und wegzutragen ist .. eindeutig zulässig, auch wenn das wegen des Klebers zu erheblichen Handverletzungen führen sollte', sagt Elisa Hoven, Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig. Dabei komme es auch nicht auf die Dauer der Blockade oder die Bedeutung der Termine an, die die im Stau Gefangenen andernfalls verpassen könnten. 'Es gilt die klare Regel, dass das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht - egal, ob man auf dem Weg zu einem wichtigen Geschäftstermin ist oder einfach nur die 'Sportschau' nicht verpassen möchte.'"
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Stichwörter: Klimaaktivismus

Geschichte

Der Osteuropaforscher Benno Ennker erkennt in einem Essay für die Gegenwart-Seite der FAZ zwar Bezüge zum Faschismus im Putinismus, allerdings fehlen ihm auch zentrale Elemente wie etwa die Mobilisierung nach innen. Viel stärker scheinen ihm Bezüge zum Stalinismus, der sich in dem von Putin verteidigten Hitler-Stalin allerdings auch mit dem Faschismus verbündete. Auch personell gebe es zum Stalinismus naturgemäß die größten  Verknüpfungen: Die Eliten seien "mit einer Vielzahl von Fäden mit der einst von Stalin geschaffenen sowjetischen Nomenklatura verbunden, wie in entsprechenden Untersuchungen wiederholt festgestellt wurde. Unter Berücksichtigung der elterlichen Herkunft machen Nomenklatura-Abkömmlinge selbst 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion einen Anteil von 60 Prozent in der politischen Elite aus, wie eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung von Maria Snegovaya ergab."

In der SZ macht Sonja Zekri ihrem Unbehagen über Timothy Snyders sehr aktive Unterstützung der Ukraine Luft. Ist das noch Wissenschaft, fragt sie? Verdreht der Historiker Snyder nicht auch ganz schön Fakten? Sie wirft ihm insbesondere vor, die Geschichte der Ukraine zu verklären und den Stalinismus mehr oder weniger mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen: So spreche er vom Holodomor als "spezifisch ukrainisches Ereignis" ohne zu erwähnen, dass Kasachen und Wolga-Bauern ebenfalls ausgehungert wurden. Und er spreche fast immer von sowjetischen "Konzentrationslagern", nicht vom Gulag. "Regelrecht verstörend aber wird es, wo er die Kollaboration mit den deutschen Besatzern bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung behandelt. Es ist eines der schmerzhaftesten Kapitel der ukrainischen Geschichte, denn ohne ukrainische - baltische, polnische - Helfer hätten die Nazis die Shoah schwerer durchführen können. Snyder geht den umgekehrten Weg. Er spielt die Kollaboration herunter, beschreibt sie als Folge einer Täuschung durch die Nazis, die den Ukrainern einredeten, alle Juden seien Kommunisten und alle Kommunisten Juden, oder als erzwungen und alternativlos. Dass es in der Ukraine - wie in vielen Staaten Osteuropas und wie in Europa insgesamt - einen virulenten Antisemitismus gab, dass viele Ukrainer ideologische Gründe für die Teilnahme am Holocaust hatten, erwähnt er nicht."
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