9punkt - Die Debattenrundschau

Von innen heraus umkämpft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.11.2022. Die Welt staunt über die Proteste in China - die größten und mutigsten seit den neunziger Jahren, so die taz. Im Observer fordert Kenan Malik universelle Werte für alle  - auch für die Katarer. In der Welt fürchtet der Russland-Historiker Orlando Figes  einen langen Krieg in der Ukraine. In der FAZ fordert Michael Wolffsohn eine neue Gedenkkultur in Deutschland, die auch Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund einschließt. hpd.de erklärt am Beispiel der amerikanischen Evangelikalen, wie der Klimawandel auf Apokalyptiker wirkt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.11.2022 finden Sie hier

Politik

Damit hatte man kaum noch gerechnet: In China regt sich massiver Unmut gegen die Regierung. Für die taz kommentiert der Korrespondent Fabian Kretschmer: "Die unzähligen Proteste während der letzten zwei Tage sind die größten und mutigsten, welche die Volksrepublik China seit den 1990er Jahren gesehen hat. Sie zeigen ganz offen, wie viel Frust sich in den letzten Monaten aufgestaut hat. Denn der Unmut kommt nicht von ungefähr, sondern hat sich in Folge von unzähligen Tragödien angebahnt, die allesamt durch die drakonischen Lockdowns provoziert wurden." Hier Kretschmers ausführlicher Bericht.

Die Proteste wenden sich zunächst gegen lokale Kräfte, betonen Kretschmer und auch Friederike Böge in der FAZ. Welche Dynamik sie haben, muss sich noch zeigen: "Jene, die in Schanghai Xi Jinpings Rücktritt gefordert haben, werden nicht mehr ruhig schlafen können", so Böge. "Dann wird es darauf ankommen, ob die Bevölkerung sich einschüchtern lässt. Oder ob der Geist des Protests nun aus der Flasche ist."

Die chinesische Null-Covid-Politik verfängt sich in ihrer eigenen Logik, erklärt der britische Professor für "Computational Biology" François Balloux in einem kleinen Twitter-Thread: "China ist auf eine große Covid-Welle nur sehr schlecht vorbereitet. Nur sehr wenige Menschen haben durch frühere Exposition eine Immunität gegen das Virus erworben, und die Impfraten bei älteren Menschen sind erschreckend niedrig."


Drei schwerwiegende Fehler der chinesischen Regierung macht im Observer die große China-Reporterin Isabel Hilton aus: Die demütigende Behandlung der Bevölkerung - sie erzählt von zwei Frauen, die gefesselt und knieend auf der Straße festgehalten wurden, weil sie keine Maske aufhatten, anderswo wurde den Menschen mit Hinrichtung gedroht -, die Tatsache, dass die bislang entwickelten chinesischen Impfstoffe nur mäßig taugen, und drittens das Festhalten an der bisherigen Null-Covid-Politik, weil eine Abkehr einen Autoritätsverlust für Staatspräsident Xi Jinping bedeuten würde. "Es gibt noch andere Schwierigkeiten: In den frühen 1960er Jahren verhungerten schätzungsweise vierzig Millionen Chinesen, zum großen Teil, weil untergeordnete Beamte Angst hatten, ihren Vorgesetzten die Wahrheit über die landwirtschaftlichen Erträge zu sagen. Heute erkennen junge Beamte die Verpflichtung der Führung zu Null-Covid an und setzen sie daher eifrig um; ein Versäumnis, insbesondere wenn es zu einem Ausbruch kommt, kann das Ende der Karriere bedeuten. In den sozialen Medien Chinas wird Unzufriedenheit über den Autoritarismus der 'großen Weißen' und den opportunistischen Missbrauch durch andere Beamte geäußert."

Gilda Sahebi greift in der taz Berichte über systematische Vergewaltigungen von Demonstrantinnen durch die iranischen Sicherheitskräfte auf (unser Resümee). Die sexuelle Gewalt ist der Ideologie der Mullahs inhärent, schreibt sie: "Der Gründer des iranischen Gottesstaats, Ruhollah Chomeini, nannte Gegner*innen der Zwangsverschleierung und Frauen, die Freiheitsrechte einforderten, 'Prostituierte'. Freiheit im westlichen Sinne, so der Revolutionsführer, sei 'Verdorbenheit und Prostitution'. In offiziellen Verlautbarungen des Regimes in den 1980er Jahren hieß es, Verteidigerinnen von Frauenrechten seien Unterstützerinnen von 'sexueller Sklaverei'. Heißt: Frauen, die sich für Freiheitsrechte einsetzen, Frauen, die sich gegen die Zwangsverschleierung wehren oder sie ablehnen, sind Freiwild. Vergewaltigung und sexuelle Gewalt sind in diesem Weltbild legitime Instrumente."
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Religion

Adrian Beck analysiert in einem zweiteiligen Artikel für hpd.de (hier der Link zu Teil 1) die Beziehungen zwischen rechten Republikanern in den USA und weißen Evangelikalen und "Wiedergeborenen". Vor allem den Klimawandel halten die Apokalyptiker für gottgewollt: "Eine Person von sieben in den USA hält es definitiv (sieben Prozent) oder wahrscheinlich (neun Prozent) für richtig, dass 'Gott das Klima kontrolliert, weswegen es keinen anthropogenen Klimawandel gibt'. Diese Überzeugung ist in konservativen und evangelikalen Kreisen noch weitaus verbreiteter: Unter konservativen Republikaner*innen (31 Prozent) und 'evangelikalen/wiedergeborenen" Christ*innen (30 Prozent) hängt dieser Fantasie beinahe ein Drittel an."
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Geschichte

Das Gedenken in Deutschland ist ritualisiert, vor allem aber "germanozentrisch", schreibt Michael Wolffsohn auf der "Gegenwart"-Seite in der FAZ. Er fordert, die enge Kollaboration zwischen Islamisten und den Nazis mit in das Gedenken einzubeziehen, um auch bei der Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund, eine Auseinandersetzung zu provozieren: "Das alles ist eigentlich nicht nur dem kleinen Kreis von Fachleuten bekannt. Es wird jedoch aus Angst oder Opportunismus selten benannt. Deshalb ist es der breiten Öffentlichkeit unbekannt. Unbekannt, weil unbenannt - und auch von Fachleuten ebenfalls aus Opportunismus oder Angst um die eigene Karriere, unerwähnt. Die logische Folge: Viele Muslime in Deutschland und Europa halten die Auseinandersetzung mit Weltkriegen und Holocaust für ein Problem der Altdeutschen und ihrer Nachfahren, bar jeder Gegenwartsbezogenheit für Millionen muslimischer Neudeutscher."
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Europa

Sandro Gvindadze berichtet für die taz aus Georgien über die Arbeit russischer Emigranten für die  Organisation "Emigration for Action", die Medikamente für die Ukraine sammelt - auch als Zeichen, dass nicht alle Russen für den Krieg sind. Es ist kein leichter Job: "Angaben des georgischen Innenministerium vom 3. Oktober zufolge sind seit dem 24. Februar 2022 mehr als 122.000 Russ*innen in die Südkaukasusrepublik gekommen. Das sind mehr als drei Prozent der Gesamtbevölkerung Georgiens. In den vergangenen acht Monaten fanden in Georgien mehrmals Proteste statt, bei denen die Einführung eines Visaregimes für Russ*innen oder sogar die Schließung der Grenze gefordert wurde. In Tbilissi tauchten an Häuserwänden Hunderte Graffitis auf, die die Russ*innen dazu aufforderten, nach Hause zurückzukehren. Laut einer soziologischen Umfrage der US-Organisation International Republican Institute (IRI) vom September sind 78 Prozent der Bevölkerung dagegen, Russ*innen ohne Visum ins Land zu lassen. Doch die georgische Regierung sieht das anders."

Im Interview mit der Welt spricht der Historiker Orlando Figes über sein gerade erschienenes Buch "Die Geschichte Russlands" und darüber, warum Russland nach 1989 seiner Ansicht nach schlecht behandelt wurde und warum viele Russen überzeugt sind, den Krieg gegen die Ukraine zu gewinnen: "Letztlich führen die Russen diesen Krieg und führt ihn das Regime in der Annahme, dass die Ukraine für Russland mehr bedeutet als für den Westen. Sie werden darauf setzen, dass der Westen nicht ewig bereit ist, die Ukraine zu unterstützen. Und meine Befürchtung ist: Das stimmt. ... Meine Befürchtung ist, dass die Russen der Ukraine und dem Westen zwei Winter lang etwas aufzwingen können. Energie, Finanz und Cyberkriege. Auch die Flüchtlingskrise ist Teil der Kriegsführung. Allein diesen Winter wird mit 5 bis 10 Millionen ukrainischen Flüchtlingen zu rechnen sein, die nach Westen ziehen. Und sie müssen nach Westen ziehen. Ohne Strom und Wasser kann man in der Ukraine keinen Winter überleben. Ich denke also, es wird ein langer, langer Krieg werden. Und er wird von der Bereitschaft des Westens abhängen, den ganzen Weg zu gehen."

Auf längere Sicht wird Putins Krieg gegen die Ukraine "Russland mehr schaden als nutzen. Das festzuhalten, ändert jedoch nichts daran, dass er das Ordnungsmodell des 'Friedenschaffens mit immer weniger Waffen' zerstört und eine Phase der Remilitarisierung von Politik eingeleitet hat", warnt in der NZZ Herfried Münkler. "Das Vertrauen, das vonnöten ist, um zu einer Politik des Vorrangs wirtschaftlicher Macht und rechtlicher Regelungen vor dem Gebrauch von Gewalt zurückzukehren, ist für lange Zeit dahin." Konflikte sind vorprogrammiert, auch wenn Deutschland zwei Prozent seines BSP an die Nato zahlt. "Dann wird das Land die höchsten Militärausgaben in Europa haben, und das wird die Vorbehalte gegenüber den Deutschen in vielen europäischen Ländern befördern - vermutlich in denselben, die jetzt größere Waffenlieferungen der Deutschen an die Ukraine fordern. ... Waffenlieferungen nämlich laufen auf einen Ausbau der deutschen Rüstungsindustrie hinaus, ein Problem, das schon jetzt für Dissens mit den Franzosen führt."
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Ideen

Ist die westliche Kritik an Katar nicht heuchlerisch? Muss man nicht die katarische Kultur respektieren, auch wenn man sie als brutal und ungerecht empfindet? Keineswegs, meint Kenan Malik im Observer: "Viele Tausende von katarischen Frauen 'begrüßen und respektieren' die Verweigerung der Gleichberechtigung nicht. Ebenso wenig wie Zehntausende von Wanderarbeitern, die in einem Land, das Gewerkschaften verbietet, brutal behandelt werden. Es waren nicht westliche Liberale, die diese Fragen als erste aufgeworfen haben, sondern die unterdrückten Kataris selbst und die Arbeiter aus dem gesamten globalen Süden, die gezwungen sind, dort zu arbeiten. Das sind die Menschen, die wir verraten, wenn wir die katarische Kultur, wie sie von den katarischen Behörden definiert wird, 'respektieren'. Kulturen sind keine festen, homogenen Gebilde, sondern durchlässig und von innen heraus umkämpft. Ein Großteil der heutigen Diskussion über kulturellen Respekt ignoriert die Vielfalt und den Konflikt innerhalb von Kulturen und ist zu einem Mittel geworden, das es den Machthabern ermöglicht, ihre Vorstellung von einer 'authentischen' Kultur durchzusetzen. ... Das Konzept des Universalismus ist zweifellos für reaktionäre Zwecke missbraucht worden. Dem können wir jedoch nicht entgegentreten, indem wir die universalistische Perspektive zugunsten einer moosbewachsenen Idee des kulturellen Relativismus ablehnen, sondern nur, indem wir eine umfassendere Form des Universalismus einfordern, eine, die die Rechte aller verteidigt, ob in Europa oder in Katar."
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