9punkt - Die Debattenrundschau

Ein schwarzes, leeres Loch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.11.2022. Michel Friedman zieht im Gespräch in der NZZ eine sehr bittere Bilanz der deutschen Vergangenheitsbewältigung - und der bitterste Moment für ihn war das Schweigen Olaf Scholz'. Die Fußball-WM beginnt. Wenn wir sie boykottieren, müssen wir dann nicht auch VW und Bayern München boykottieren, fragt Moritz Rinke in der FAZ. Fast alle im RBB müssen sparen, nur seine aktuellen und ehemaligen Leitungsfiguren nicht, konstatieren FAZ, SZ und der RBB selbst. In der taz fordert Golineh Atai  Solidarität mit den Frauen im Iran.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.11.2022 finden Sie hier

Gesellschaft

Michel Friedman ("Fremd") zieht im Gespräch mit Thomas Ribi von der NZZ eine sehr bittere Bilanz der deutschen Vergangenheitsbewältigung: "Die Erinnerungskultur ist in Wirklichkeit, mit Ausnahmen, ein schwarzes, leeres Loch. Es gibt eine offiziell verordnete Erinnerungskultur, aber nicht eine gelebte", sagt er und exemplifiziert es an der Documenta und an Olaf Scholz' Schweigen, als Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in seiner Gegenwart behauptete, die Israelis hätten fünfzig Holocaust an den Palästinenser begangen. Die Deutschen behaupteten, den Anfängen wehren zu wollen, dabei nähmen sie die gar nicht wahr, wie auch der Umgang mit Rechtsextremismus zeige: "Die meisten Verfahren werden eingestellt. Erst in den letzten Jahren, vor allem seit der Regierungspräsident Walter Lübcke von Rechtsterroristen ermordet wurde, gibt es eine deutliche Veränderung. Bis dahin, Stichwort NSU, waren die Reaktionen darauf erbärmlich. Politikerinnen und Politiker sagten oft: Wir schämen uns, das darf nicht geschehen, nie wieder, wehret den Anfängen! Anfänge? Wir sind mittendrin."

Auf die ehemalige Synagoge in Essen - heute ein deutsch-jüdischer Veranstaltungsort - wurde geschossen, berichtet Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen. "Die heutigen Schüsse waren nicht der erste Angriff auf die Alte Synagoge: 2020 wurde da Gebäude aus einer pro-palästinensischen Demonstration heraus mit Steinen beworfen. Kurz darauf folgte ein weitere Anschlag. Vor zwei Jahren gab es dann einen Anschlag auf die Synagoge an der Ruhrallee."
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Politik

In einem leidenschaftlichen Artikel ruft die bekannte Fernsehjournalistin Golineh Atai in der taz die deutsche Öffentlichkeit auf, sich mit den Frauen im Iran zu solidarisieren: "Auch wenn die Welt und speziell der Westen schweigt: Die Frauen im Iran lassen sich nicht mehr mit der Hoffnung auf angebliche Reformen vertrösten. Sie wissen, dass für das Regime die Kontrolle über den weiblichen Körper die Kontrolle der gesamten Gesellschaft bedeutet. Ob sich der Westen seiner Verantwortung bewusst ist, ein Zeichen der Solidarität an die Iranerinnen zu senden, Menschenrechtsverletzungen offen anzuprangern und Unterdrückung zu erkennen und zu verurteilen, ist die eigentliche Frage."

So sieht die Revolte aus, gegenüber der auch der Westen zögert:

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Stichwörter: Weiblicher Körper

Medien

Die Fußball-WM beginnt. Ist die Kritik an Katar rassistisch? Fände die WM in Australien oder Mexiko oder Austalien statt, würde man nicht über Menschenrechte diskutieren, behauptet Dunja Ramadan im Leitartikel der SZ. Aber "eins vorneweg: Jeder Arbeiter, der beim Bau eines WM-Stadions in Katar ums Leben gekommen ist, ist einer zu viel."

Die Medien berichten weiterhin über Katar, als hätten sie mit der Angelegenheit nichts zu tun und als wären nicht sie es, die das Ereignis überhaupt erst zum Ereignis machen. Die FAZ bringt einen launigen Text des Schriftstellers und Fußballfans Moritz Rinke, der überhaupt nicht einsieht, warum nur er das Ereignis boykottieren soll: Und was ist "mit all den Volkswagen, die durch unser Land fahren? Der katarische Staatsfonds besitzt 14 Prozent des VW-Konzerns, ein katarischer Minister sitzt sogar in Wolfsburg im Aufsichtsrat. Müsste man nicht auch alle Siemens-Geräte ausstöpseln und abschalten, das Deutsche-Bank-Konto kündigen, nichts mit Hochtief bauen, keine Reise bei Hapag-Lloyd buchen, keine Energie bei RWE beziehen, nie wieder ein Bayern-München-Spiel schauen?" Und natürlich keinen der öffentlich-rechtlichen Sender gucken, die einen erheblichen Beitrag zur Finanzierung des Spektakels leisten. Laut statista.de zahlen die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland 214 Millionen Euro für die Übertragungsrechte der WM.

Jan Christian Müller sagt in der FR eine "freudlose WM" an: "Etliche deutsche Fans äußern sich derart angewidert über das Gebaren von Katar und Fifa, dass sie sowohl auf den Trip ins Emirat verzichten als auch die TV-Übertragungen boykottieren wollen. Man wird sehen, ob das zur kollektiven Ignoranz gegenüber dem Turnier führt, wie sich das auf die Einschaltquoten und die ohnehin getrübte Stimmung in Deutschland auswirken wird."

Die Interimsintendantin des RBB, Katrin Vernau, hat nach den Skandalen ihrer fristlos gekündigten Vorgängerin Patricia Schlesinger Bilanz gezogen. Michael Hanfeld resümiert in der FAZ. Trotz Rücklagen aus zu hohen Gebühreneinnahmen droht ein Minus: "Das Geld wurde mit vollen Händen ausgegeben. Zwischen 2017 und 2020 stieg der 'Netto-Mehraufwand' um 99 Millionen Euro. Das wurde aus der Rücklage bedient. Der 'Mehraufwand' in den Jahren 2021 bis 2024 beträgt 97 Millionen Euro. Das verbraucht die Reserven vollends. Ende 2021 betrug die Liquidität des Senders noch 45 Millionen Euro, Ende 2024 werden es nur noch vier Millionen sein. Und von da an rutscht der Sender ins Minus." Auf der Website des RBB selbst berichten René Althammer und Jo Goll. Hier lohnt es sich die Leserkommentare des Artikels (es lebe das Internet!) zu lesen, wo sich die Information findet, dass Vernau trotz ihres Jahresgehalts von 295.000 Euro einen Mietzuschuss erhält.

Ebenfalls auf der Website des RBB berichten Reporter, wie sozial der RBB mit seinen Spitzenkräften verfährt, auch und gerade, wenn sie in Rente sind: "Wie aus Recherchen von NDR und RBB und aus vertraulichen Dokumenten hervorgeht, schloss der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) mit seinem scheidenden Chefredakteur Christoph Singelnstein einen gut dotierten Beratervertrag - zusätzlich zu dessen lebenslangem Anspruch auf ein jährliches Ruhegeld von mehr als 100.000 Euro und seiner gesetzlichen Rente. In Summe soll Singelnstein vom RBB derzeit einen monatlichen Betrag erhalten, der ungefähr der Höhe seines letzten Gehalts als Chefredakteur entsprechen würde - das wären um die 15.000 Euro pro Monat." In der SZ berichtet Aurelie von Blazekovic.
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Ideen

Trump, Johnson, Bolsonaro. Überall erleben Populisten Pleiten. Caroline Emcke schöpft in iher SZ-Kolumne Hoffnung: "Der Populismus taugt offensichtlich nicht zum Regieren. Lügen und Ressentiments mögen für kurz aufwallende Affekte mobilisieren, sie dienen als rhetorisches Transportmittel, aber nicht als politisches Programm."

Der ukrainische Autor Oleksiy Radynski versucht in einem Essay für die taz, das intensive Bündnis zwischen den ehemaligen totalitären Partnern, dann Feinden, dann Freunden Deutschland und Russland mit der Rhetorik des Antifaschismus zu fassen: "Wie kam es dazu, dass das immer offensichtlichere Abgleiten der Russischen Föderation in eine unverkennbar faschistische Politik ein blinder Fleck der deutschen Eliten - und eines Großteils der Öffentlichkeit - blieb?", fragt er. Er bemüht den Begriff des "Fossil-Faschismus" des Aktivisten Andreas Malm, den dieser allerdings nicht auf Russland, sondern nur auf die USA applizierte.
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Stichwörter: Faschismus, Populismus

Internet

Da Elon Musk Twtter zu zerstören droht, muss sich die Öffentlichkeit nach Alternativen umsehen. Johannes Drosdowski fragt in der taz, ob mit der Open-Source-Idee eine ähnlich lebendige Szenerie entstehen kann und erklärt den Dienst Mastodon, zu dem viele Twitter-Nutzer abgewandert sind, und das "Fediverse", in dem sich Mastodon mit anderen alternativen Diensten verbindet. Noch klingt, was er über Mastodon erzählt, ein wenig trocken aktivistenhaft: "Die Server dieses Dienstes werden von vielen Einzelpersonen und Gruppen betrieben und betreut. Sie werden Instanzen genannt und wer sich auf Mastdon rumtreiben will, muss sich bei der Registrierung für eine Instanz entscheiden. Manche dieser Instanzen haben ein bestimmtes Interessengebiet, das die Teilnehmenden teilen, sind regional oder bieten Schutzräume etwa für LGBT*QI. Die Instanzen sichern auch, dass die Last des Dienstes auf vielen verschiedenen Schultern ruht."

In der New York Times schreibt Yoel Roth, ehemals Chef von "Trust and Safety" bei Twitter, der nach der Übernahme durch Elon Musk gekündigt hat. Noch hält das alte System der Sicherungen, wenn auch notdürftig: "Die Werbetreibenden haben bisher die stärkste Rolle dabei gespielt, die Ambitionen von Herrn Musk in Bezug auf die Meinungsfreiheit zu bremsen. Solange 90 Prozent der Einnahmen des Unternehmens aus Anzeigen stammen (wie es der Fall war, als Musk das Unternehmen kaufte), hat Twitter kaum eine andere Wahl, als so zu agieren, dass die Einnahmequellen, die das Unternehmen am Leben erhalten, nicht gefährdet werden. Dies hat sich bereits jetzt als Herausforderung erwiesen."
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Europa

Willi Winkler erinnert in der SZ an die gloriose Wiederwahl Willy Brandts vor fünfzig Jahren, nach der es mit der SPD allerdings stetig bergab ging. "45,8 Prozent für die SPD sind heute so unvorstellbar wie ein deutscher Sieg im Grand Prix d'Eurovision... Wenig erinnert mehr an den Triumph vor fünfzig Jahren. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 lag der Stimmanteil für die SPD nur noch etwas mehr als halb so hoch wie 1972. In den aktuellen Umfragen liegt sie verlässlich unter zwanzig Prozent."
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