9punkt - Die Debattenrundschau

Ganz ungrammatisch ist freilich der Stern

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2023. Den Briten geht's gerade nicht gut, aber sie sind nicht wütend: Sie hatten ja ihren Willen, konstatiert die FAZ. Die SZ betrachtet mit Sorge das unheimliche Wachstum der putinistischen FPÖ. Der brasilianische Präsident Lula da Silva rät den Ukrainern in einer Pressekonfernz mit Olaf Scholz, den Frieden zu wollen, berichtet der Tagesspiegel. In der NZZ erklärt der Sprachwissenschafter Roland Kaehlbrandt, warum er nicht gern gendert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.01.2023 finden Sie hier

Europa

Die FPÖ erreicht in Umfragen inzwischen 28 Prozent und ist damit stärkste Partei in Österreich, schreibt Cathrin Kahlweit im Leitartikel der SZ, und sie ist außerdem noch weiter nach rechts gerückt. "Sie hat Corona als Einstieg in den Wiederaufstieg genutzt, kollaboriert offen mit den Identitären, marschiert auch mit Neonazis. Sie sympathisiert mit Putin und verweigert die Verurteilung des russischen Terrors in der Ukraine. Ein kleiner Teil ihrer Wähler geht diesen Weg mit, ein anderer stimmt für sie nicht wegen ihres politischen Angebots, sondern wegen vermeintlich fehlender Alternativen. Parteichef Herbert Kickl ist ein eiskalter Stratege. Er inszeniert sich als Systembrecher und Elitenfeind; er will keine Sympathie, sondern ein Macher-Image."

Neben vielen Rechten sympathisieren auch viele Linke mit Putin. Die "Blockfreien" scheinen ihre alte Rolle spielen zu wollen. Der neue brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte schon vor den Wahlen seine Sympathien zu Russland bekundet und bekräftigt seine Äußerungen nun in einer Pressekonferenz mit dem gerade auf Lateinamerikareise befindlichen Olaf Scholz, berichten etwa Christoph Straub Benjamin Hirsch im Tagesspiegel, hier Lulas Zitate: "'Ich denke zwar, dass Russland den klassischen Fehler begangen hat, in das Gebiet eines anderen Landes einzudringen, also hat Russland unrecht', sagte Lula vor Reportern. 'Aber ich denke auch, wenn einer nicht will, zwei nicht kämpfen werden. Man muss den Frieden wollen', sagte Lula. Er habe von beiden Seiten nur sehr wenig über ein friedliches Ende des Krieges gehört." Lula will mit China zusammen "vermitteln".

Den Briten geht es nicht gut. Brexit, Inflation, Streiks - "Keine G-7-Nation hat düstere Aussichten", berichtet Eva Ladipo in der FAZ. Und trotzdem: Wutbürger gibt's da keine. "Gewerkschaftsführer wie die Generalsekretärin des Royal College of Nursing entschuldigen sich öffentlich für die Unbill. Ihre Kollegen seien 'vollkommen untröstlich' streiken zu müssen, sagt Pat Cullen, und erfährt umgekehrt großes Verständnis für die Arbeitsniederlegungen von Patienten und Bevölkerung. Statt Aggressionen und Schuldzuweisungen, wachsender Wut und gegenseitiger Provokationen herrschen im harten britischen Winter eher Resignation und Galgenhumor, Geduld und die allgemeine Bereitschaft zu Notlösungen." Was natürlich auch damit zu tun hat, "dass die britischen Wutbürger auf fast tragisch-komische Weise keine Angriffsfläche mehr haben. Anders als in Deutschland oder in Frankreich wird das Land nämlich längst nach ihrem Willen regiert."
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Ideen

Mit der Pandemie hat sich der Freiheitsbegriff verändert, auch wenn jetzt plötzlich viele die Härte der Maßnahmen kritisieren, meint Christian Geyer in der FAZ. "'Unterdrückung durch Beglückung' heißt das demnächst bei Meiner erscheinende Buch des Philosophen Ulrich Steinvorth. Ein Titel, der als Stichwort zur geistigen Situation der Zeit Karriere machen könnte. ... Ist die Idee der individuellen Freiheit als eine Freiheit, die vom Einzelnen in prinzipiell selbstverantworteten Entscheidungen verwirklicht wird, insgesamt an ihr Ende gekommen? So direkt gefragt, müsse ohne Federlesens eingeräumt werden, 'dass sich die öffentliche zur Not auch ganz über die individuelle Autonomie schieben kann', erklärt [der Frankfurter Staatsrechtler Uwe  der Frankfurter Staatsrechtler Uwe] Volkmann, nicht ohne zur Warnung die rhetorische Frage anzuschließen: 'Welchen Eigenwert hätte dann aber noch die individuelle Autonomie oder eben die grundrechtliche Freiheit?' Mutmaßlich wohl keinen mehr in aggregierten Notzeiten wie unseren. Seit dem Karlsruher Klimabeschluss vom 23. März 2021 stehen Grundrechte zudem unter dem Vorbehalt der 'intertemporalen Freiheitssicherung', der als Generationengerechtigkeit im Prinzip auf alle Grundrechte übertragbar ist. Anders gesagt: Freisein lässt sich gegenwärtig nur vom Futur her denken."
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Politik


In Israel richtet unter anderem eine Regierung mit rechtsextremen Ministern Unheil an. Daher ist es sicher wichtig für das Land, dass vierzig deutsche Wissenschaftler, angeführt vom unvermeidlichen Meron Mendel, in einem offenen Brief ihre Sorge um die Demokratie dort bekunden. Zu den Unterzeichnern gehören Aleida und Jan Assmann, Micha Brumlik, Naika Foroutan, Carlo Masala und Armin Nassehi, meldet der Deutschlandfunk. In dem Brief heißt es: "Als Wissenschaftler*innen, die dem Staat Israel verbunden sind und mit israelischen Kolleg*innen im Austausch stehen, sind wir angesichts der Pläne der israelischen Regierung äußerst besorgt. Wir unterstützen unsere Kolleg*innen und Freund*innen an den israelischen Universitäten in ihrem Kampf um den Fortbestand der Demokratie in Israel."
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Gesellschaft

Noch lassen sich die Folgen einer Corona-Erkrankung ("Long Covid") oder der Impfung ("Post-Vac") sehr schwer dingfest machen. Der Verdacht liegt nahe, dass hier psychische Verstimmungen auf der Suche nach eine "legitimen Krankheit" sind, schreibt Werner Bartens in der SZ. Und das Psychische hat in einer eher mechanistischen Medizin kein Prestige: So kommt es, dass "einige chronisch Erschöpfte erstaunlich viel Energie darauf verwenden , jene zu beschimpfen und zu diffamieren, die vom seelischen Einfluss auf die Beschwerden berichten und auch entsprechende Befunde präsentieren. Kranke werden zu Aktivisten, die verzweifelt um die Anerkennung ihrer Krankheit als 'richtige' Krankheit kämpfen."

Der Sprachwissenschafter Roland Kaehlbrandt erklärt im Gespräch mit Birgit Schmid von der NZZ mit vielen schönen Beispielen, warum er das Deutsche liebt. Beim Gendern versteht er die Intention und zögert doch selbst bei milderen Formen: "Ich selbst stelle meist klar, dass sich meine Rede auf alle Geschlechter bezieht, oder ich nenne beide Geschlechter: Leserinnen und Leser. Das ist zwar umständlich, aber wenigstens grammatikalisch nicht falsch. Verloren geht dabei aber die geschlechtsunabhängige Funktion. Das ist eigentlich widersinnig, denn es ging ja ursprünglich darum, dass das Geschlecht gerade nicht im Vordergrund steht. Ganz ungrammatisch ist freilich der Stern, und auf den hat man sich fatalerweise kapriziert."

"Da ist es wieder, das Bild vom glücklichen Leben mit Minimaleinrichtung und Grammophon von 1926", schreibt der Historiker Valentin Groebner in Geschichte der Gegenwart über die neue Forderung, sich auf das Nötigste zu beschränken. Groebner ist skeptisch: "Minimalistische Reduktion ist wohl auch deshalb so verlockend, weil sie wie eine Fastenkur oder Verzicht aufs Internet nie endgültig ist: Man kann von dort jederzeit zurück in die Welt der überflüssigen Dinge, aber gereinigt und geschmückt mit dem Glamour der eigenen Askese. Minimalismus verspricht, die Konsumentenbiografie ihrer Besitzer:innen zu deren Vorteil für immer zu beenden und heizt sie gleichzeitig weiter an. Denn eines wissen wir als Shopper des 21. Jahrhunderts. Je leerer ein Laden in einer belebten Einkaufsstraße aussieht und je geringer die Zahl von Kleidern, Schuhen oder Elektrogeräten, die darin vor minimalistischem makellosem sauberem Weiß oder Hellgrau ausgestellt werden, desto teurer sind diese Waren."

Solarmodule sind auch nicht unbedingt nachhaltig, fürchtet Walter Rüegg in der NZZ. "Auf ein einzelnes Solarmodul entfallen gut 1 Kilogramm Kupfer - und etwa 200 Kilogramm Bergbauschlämme. Diese Schlämme, Tailings genannt, bestehen aus fein vermahltem Erz, aufgelöst in starken Säuren, Basen oder anderen Lösungsmitteln. Diese Brühe enthält viel Arsen, Cadmium, Quecksilber, Blei und andere Schwermetalle. Für die sichere Endlagerung von Milliarden Tonnen dieser Schlämme ist keine auch nur halbwegs sinnvolle Lösung in Sicht. Verglichen damit ist die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle geradezu einfach."

Und auch Elektroautos haben ihren eigenen Skandal, wie die New York Times aus Siddartha Karas Buch "Cobalt Red: How the Blood of the Congo Powers Our Lives" lernt. Denn für E-Autos, Handys etc. braucht man Kobalt und den gibt's vor allem im Kongo: "Zu Beginn des Jahres 2018 unternahm Kara mehrere Reisen in die Bergbauprovinzen des Kongo. Er kletterte um die tückischen Stätten herum und verhandelte mit den Milizen, die sie bewachen, über den Zugang. Hier schufteten die Bergleute in offenen Gruben und Tunneln; einige, wie die Shabara-Mine, waren riesig: 'Mehr als 15.000 Männer und Teenager hämmerten, schaufelten und schrien im Inneren des Kraters, mit kaum Platz zum Bewegen oder Atmen.' Die Bergleute, die meist keine Schutzkleidung tragen, arbeiten inmitten giftiger Metalle. Kara interviewt einige, die bei Unfällen lebenslang behindert wurden, und wird Zeuge, wie die Leiche eines Teenagers aus einem eingestürzten Tunnel gehoben wird, in dem 63 Menschen ums Leben kamen. Viele von Karas Interviews werden unter den Augen bewaffneter Wachen geführt, und obwohl er die Armut und die Gefahren, denen die Bergleute ausgesetzt sind, sehr detailliert beschreibt, werden die Grenzen seiner Methode an Stellen deutlich, an denen die Einheimischen zu kurzen Leidensfiguren verflacht sind, zu 'Staubkugeln' in Städten, in denen 'außer den ganz jungen Menschen niemand lächelt'. Die Stärke des Buches liegt jedoch in der Art und Weise, wie Kara, ein ehemaliger Investmentbanker, die Ausbeutung analysiert, die aus der Arbeit der Minenarbeiter Wert schöpft und dann ihr verdorbenes Produkt in der globalen Lieferkette wäscht." Eine eindrucksvolle Bilderstrecke Karas zu dem Elend bringt die Daily Mail.
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