9punkt - Die Debattenrundschau

Aus einer Hipster-Rösterei

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.01.2023. Der ukrainische Schriftsteller Andriy Lyubka erzählt in der taz, was im Krieg manchmal das Wichtigste ist. Vieles vom heutigen Dominanzverhalten Chinas lässt sich nur postkolonial erklären, schreibt der Historiker Benedikt Stuchtey in der FAZ. Die SZ attackiert den juristischen Verlag C.H. Beck, der lieber Hans-Georg Maaßen die Treue hält als demokratisch gesinnten Juristen, die gegen ihn protestieren. Unbewusst legten die Silvesterrandalierer die Hand auf eine Schwachstelle des Staates, die andere Kräfte viel bewusster nutzen, schreibt Caroline Fetscher im Tagesspiegel. In der NZZ fragen Caroline von Gall und Andreas Umland, warum Reinhard Merkel eigentlich immerzu Falsches behaupten darf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.01.2023 finden Sie hier

Europa

Wie schon zu Zeiten des Kalten Kriegs ist Desinformation eine Waffe der russischen Kriegsführung. Andauernd werden Gerüchte verbreitet, die Ukraine arbeite an schmutzigen Bomben oder biologischen Waffen. Die Ukraine hat die Vorwürfe mit Leichtigkeit entkräftet, und sie verfingen im Gegensatz zu den achtziger Jahren, als die Welt eine Zeitlang der sowjetischen Legende glaubte, Aids sei von den Amerikanern erfunden worden, nicht. Noch ein Unterschied zu damals fällt auf, schreibt Geog Mascolo in der SZ. "In der russischen Doktrin spielte stets der 'nützliche Idiot' eine Rolle, also Personen, die Unbewiesenes nicht nur glauben, sondern auch weiterverbreiten. Früher suchte und fand Russland diese eher im linken Spektrum, heute sitzt der Idiot vor allem rechts."

Das bestätigt sich in einem FAZ-Artikel von Patrick Bahners, der beschreibt, wie die AfD - allen voran Alexander Gauland - an die Seite Russlands rückte: "Sein Ceterum censeo war: Russland darf nicht zerstört werden. Er redete einer Stabilitätspolitik das Wort, deren unausgesprochener Hauptsatz ein Primat des Psychologischen war. Das russische Selbstbewusstsein bedurfte nach seiner Darstellung der Stabilisierung - also müsse man den Russen 'eine neue Ordnung anbieten'. Ausdrücklich argumentierte er psychologisch, als ihn der Interviewer [der Jungen Freiheit] nach der Mehrheitsfähigkeit seiner Position in der AfD fragte. 'Ich glaube, es gibt ein Grundgefühl in der Partei, das weg will von einer zu starken amerikanischen Dominanz. Das will weg davon, dass deutsche Außenpolitik nicht immer bei uns gemacht wird. Ein Gefühl, das findet, dass die Souveränität, die Deutschland hat, jetzt auch bei relevanten Entscheidungen zum Tragen kommen muss. Und dafür ist diese Russlandfrage im Grunde fast so etwas wie ein Symbol.'"

Der ukrainische Schriftsteller Andriy Lyubka hat keine Zeit mehr zu schreiben. Er fährt jetzt regelmäßig an die Front um die Soldaten mit dringend benötigten Waren zu versorgen. Manchmal ist es überraschend, was plötzlich enorm wichtig wird, wie er in der taz erzählt: "Das wichtigste von all den Dingen, die ich an die Soldaten an der Frontlinie geliefert habe, war eine Packung Kaffee. Eine Ein-Kilo-Packung  frisch gerösteten Kaffees aus einer Hipster-Rösterei im Stadtzentrum Uschhrorods. Viereckiges glänzendes Bündelchen mit stilvollem Sticker 'Roasted Uganda'. Eine Sache eher für Instagram als für die Front. Dennoch, es sollte eine ziemlich verteidigende Funktion erfüllen - allerdings nicht den Körper schützen, sondern etwas, was viel wichtiger als dieser ist. Das Menschliche im Menschen. Früher, als ich noch Gedichte schrieb, hätte ich diese merkwürdige Substanz als Seele bezeichnen. Jetzt würde ich versuchen, einen banaleren aber nichtsdestotrotz genaueren Begriff zu nutzen. Der Kaffee half, die Psyche zu schützen, dadurch, dass er ein Gefühl vermittelte, dass du nicht nur ein Stück Fleisch bist, ein Ziel für Scharfschützen und Bomben, sondern ein Mensch. Ein Mensch, mit all seinen Vorlieben und Gewohnheiten. Ich erinnere mich sehr gut an diesen Morgen..."

Schon die Osteuropaforscherin Gwendolyn Sasse hatte letzte Woche gefragt, warum Zeitungen wie die FAZ dem Rechtsprofessor Reinhard Merkel im Namen falscher Äquivalenz erlauben, falsche Behauptungen über den Ukraine-Krieg zu verbreiten (unser Resümee). In der NZZ setzen setzen die Juristin Caroline von Gall und der Politologe Andreas Umland nach und fragen, warum Merkel immer wieder gestattet werde, ein "manifest kontrafaktisches Narrativ" zu verbreiten. Deutlich machen sie es an Merkels Argument zur Krim, deren russische Eroberung er als legitim und von Referenden abgesichert darstellt: "Merkel verklärt die militärische Einverleibung der Halbinsel als friedlichen Prozess. Er unterschlägt die massive Gewaltandrohung gegenüber Politikern und Bürgern auf der Krim seit 2014 sowie die fortlaufenden schweren Menschenrechtsverletzungen des russischen Gewaltregimes auf der Schwarzmeerhalbinsel sowie die besonders harschen Repressionen gegen die indigenen Krimtataren während der letzten neun Jahre."
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Religion

Kenan Malik nimmt im Observer Stellung zur Kontroverse um die Hamline Universität. Hier distanzierte sich die Uni-Leitung von einer Dozentin, die in einem Seminar - nach Triggerwarnung! - eine Abbildung Mohammeds aus dem 14. Jahruhunderts gezeigt hatte (unsere Resümees). Diese Abbildung, so Malik, ist Dokument einer langen muslimischen Tradition, und nur in fundamentalistischen Strömungen werden selbst solche Abbildungen abgelehnt. "Das Vorgehen der Hamline-Universität bedroht nicht nur die akademische Freiheit, sondern auch die Religionsfreiheit. Sie verleugnen implizit die Vielfalt der Traditionen, die den Islam ausmachen, und verurteilen diese Traditionen in gewisser Weise als so abweichlerisch, dass sie in einem Kurs über islamische Kunstgeschichte nicht gezeigt werden können. Universitätsbürokraten positionieren sich als Nicht-Muslime in einer inner-islamischen theologischen Debatte und stellen sich auf die Seite der Extremisten."
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Stichwörter: Bildverbot, Malik, Kenan

Geschichte

Die eigenen Soldaten zu verheizen, hat Tradition in Russland, sagt der Historiker Martin Schulze Wessel im Gespräch mit Konrad Schuller von der FAS. Ein besonders eklatantes Beispiel sei die Niederlage von Zar Nikolaus im Krimkrieg gewesen. "Damals allerdings hat die Niederlage nach dem Tod des Zaren Reformen in Militär und Gesellschaft angestoßen. Das Land hat den Schock damals positiv verarbeitet. Für heute heißt das: Nur eine Niederlage Russlands kann zu einer Umkehr führen, die dann auch für die Russen selbst, für die russische Gesellschaft, positive Folgen hat."

Percy Carpenter, View of Singapore from Mount Wallich, 1856. Collection of National Museum of Singapore


Wenn die Chinesen sich jetzt mit Hilfe ihrer Staatsreederei Cosco überall auf der Welt Seehäfen sichern (oder zumindest Anteile daran), dann haben sie dafür ein historisches Vorbild: Das britische Empire, dem sehr bewusst war, wie wichtig Inseln und Hafenstädte für die Beherrschung des Meeres waren, erklärt der Historiker Benedikt Stuchtey in der FAZ und verweist dabei auf die "spektakuläre" Ausstellung "Port Cities: Multicultural Emporiums of Asia, 1500-1900", die 2016/2017 im Asian Civilisations Museum in Singapur zeigte, welche Bedeutung Hafenstädte für den Kolonialismus hatten (mehr zur Ausstellung hier). In dieser Hinsicht hat sich wenig geändert, meint Stuchtey: "Auch an der Obsession, Märkte zu 'öffnen', notfalls mit Gewalt, und an dem Glauben an die Freihandelsideen von Adam Smith und den Utilitarismus von Jeremy Bentham wird festgehalten in der Überzeugung, Hafenstädte nährten sich so davon wie der Manchesterliberalismus von den Ideen von Richard Cobden und John Bright. Man wird freilich nicht von der Hand weisen können, dass und wie Sehnsuchtsorte wie Odessa und die von Cosco beherrschten Containerterminals als Drohkulisse der 'gunboat diplomacy' dienen, ganz so, als sei eine feste Größe des Imperialismus, nämlich Gewalt, noch tiefer in die Architektur der Port Cities eingeschrieben als die eigentlichen kolonialen Erinnerungsorte selbst. Die Niederschlagung der Demokratiebewegung in Hongkong mahnt daran."

Sabine Weier hat für die taz das neue Mannheimer NS-Dokumentationszentrum besucht: "Auch gewöhnliche Leute ebneten den Weg für den Holocaust", lernt sie in der Multimedia-Dauerausstellung. "Von den brutalen Übergriffen der Novemberpogrome in Mannheim im Jahr 1938 sind zwar Berichte überliefert, aber keine Fotografien. Ausgewählte Szenen hat der kanadische Künstler Kevin Myers als Graphic Novel inszeniert. Etwa die Verhaftung eines jüdischen Mannes, die Zerstörung eines Geschäfts, die Verbrennung von Büchern und Thorarollen in der Innenstadt, das Zerstören von Synagogen. An einer Hörstation werden die Szenen kontextualisiert. Gründlich räumt die Ausstellung mit dem Narrativ vom widerständigen Mannheim auf, das in der jungen Bundesrepublik lanciert wurde. Die Stadt sei gleichermaßen eine 'rote' wie 'braune Hochburg' gewesen, steht in einem der begleitenden Texte."
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Ideen

"Verfügt die Demokratie über Verlustkompetenz?" So lautet die bange Frage, die Andreas Reckwitz in der SZ in der Reihe "55 Voices" mit Ansprachen für die Demokratie stellt. Verlust, so Reckwitz, ist, was allenthalben blüht, das Fortschrittsversprechen der Moderne sei abgewirtschaftet, die Mitte muss es sich auf einer Peau de Chagrin unbehaglich machen. Reckwitz rät zu Strategien der Trauerbewältigung, wie sie in Psychotherapien entwickelt wurden: "Jenseits einer Verlustverdrängung, welche die Verluste nicht wahrhaben will, und einer Verlustfixierung, in der die Welt nur noch aus diesen zu bestehen scheint, ist dann eine Verlustintegration gefragt, in der das, was man verliert, als selbstverständlicher Teil des Alltags gewürdigt wird. 'Mit den Verlusten leben', lautet hier die Maxime."

Die "Letzte Generation" hat es leider nicht geschafft, sich im Wiener Musikvereinssaal festzukleben und das alljährliche so lukrative wie zuckesrüße Spektakel des Neujahrskonzerts der Wiener Philharmoniker zu stören. Der Autor Philipp Blom fragt in einem Essay für den Standard nach der Berechtigung der Proteste. Ein Blick auf die Suffragetten zeigt ihm, dass Proteste in ihrer Gegenwart oft anders gesehen werden als in der Geschichte: "Ich persönlich bin erstaunt (und erleichtert), dass es noch keinen gewalttätigen Öko-Terrorismus gibt, aber momentan befindet sich die Klimabewegung tatsächlich in einer ähnlichen Situation wie die Suffragetten nach dem Misserfolg ihrer jahrelangen, geduldigen Überzeugungsarbeit. Was tun, wenn die Situation das Äußerste fordert? Wie weit darf man und wie weit muss man in einer verzweifelten Lage gehen?"

Der Protest der Silvesterrandalierer war diffus, aber er steht in einer bedenklichen Gleichzeitigkeit, mahnt Carline Fetscher im Tagesspiegel. Auch andere Kräfte sägen an einer staatlichen Autorität, die nach der Corona-Pandemie geschwächt sei: "Andere Akteure nutzen den vermeintlichen und vorhandenen Autoritätsverlust des demokratischen Staates offen und politisch für sich. Einige in linken oder grünen Bewegungen sinnieren über die Frage, ob demokratische Prozesse genug Zeit lassen, das Klima zu retten. 'Reichsbürger' erklären die Bundesrepublik für nicht existent und rekrutieren ihre Anhängerschaft sogar in den zentralen Institutionen des Staates selbst."
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Kulturmarkt

Hans-Georg Maaßen, ehemals der höchste Verfassungsschützer, ist heute in die verschwörungstheoretische bis rechtsextreme Ecke abgewandert. Untreu geworden ist er sich dabei nicht, stellt Ronen Steinke in der SZ klar, denn schon in seiner Dissertation aus dem Jahr 1997, erschienen im juristischen Verlag C.H. Beck, vertrat Maaßen sehr weit rechtsstehende Positionen zum Asylrecht. Das hinderte ihn bekanntlich nicht an einer fulminanten Karriere. Noch hält der Verlag Maaßen die Treue. Steinen schildert den juristschen Verlag C.H. Beck als "übermächtig", weil seine Kommentare maßgeblich für der Jurastudium sind und teilweise den Studenten staatlich verordnet werden. Und "in einem Grundgesetz-Kommentar des Beck-Verlages, dem 'Epping/Hillgruber', darf (Maaßen) weiterhin einen Passus kommentieren. Das heißt, er darf Richterinnen und Richtern für deren alltägliche Praxis erläutern, was höchste Gerichte zum Verfassungsrecht sagen und meinen. Es sind die Grundgesetz-Artikel 16 und 16a, für die Maaßen weiterhin zuständig ist. Ja, richtig: Das ist das Grundrecht auf Asyl. Ausgerechnet." Seinen Kollegen Stefan Huster dagegen, der ebenfalls für das Werk kommentierte, hat der Verlag nach Protest gegen Maaßen geschasst!
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Internet

"Es gibt im Kontext der Digitalisierung ebenfalls eine letzte Generation. Eine Generation, die entweder einen sinnhaften digitalen Wandel möglich macht - oder vom digitalen Wandel überrannt werden wird, ohne ihn sinnvoll mitgeprägt zu haben", warnt in netzpolitik die Entwicklerin Bianca Kastl angesichts von Pandemie, Klimakrise und Energiekrise. Mit der Digitalisierung dann stünden endlich auch Zahlen übergreifend bereit, die man dringend bräuchte, um der Krisen Herr zu werden. Auf einen Strukturwandel der Behörden können wir nicht mehr warten, meint Kastl, es geht auch so: "Gerade im Netz haben wir gelernt, durch unterschiedliche Hierarchien und Strukturen sowie über Länder und Kontinente hinweg zueinander zu finden, miteinander zu kommunizieren und Daten auszutauschen. Wir sollten daher den Wert offener technischer Standards, gemeinsamer Datenformate und flacher Netzstrukturen längst verstanden haben, weil wir täglich von diesen profitieren. Der Minimalanspruch sollte daher lauten: Behalte deine Organisationsstruktur, wenn es unbedingt sein muss und sich darin dein Machtanspruch begründet. Aber sei offen, dich bis auf unterster Arbeitsebene direkt mit anderen zu vernetzen."

Außerdem: In der taz berichtet Jannis Hagmann von Vorwürfen der Rechtsorganisationen Smex und Dawn, Saudi-Arabien habe gezielt Wikipedia-Autoren als Agenten "rekrutiert und auf diese Weise die Plattform 'infiltriert'". Wikipedia weist die Vorwüfe zurück.
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