9punkt - Die Debattenrundschau

Schock über das Nichtgeliebtwerden

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.05.2023. In der Welt annonciert Michel Houellebecq seine Läuterung, vor allem in Sachen Islam: Es ist vielleicht doch nicht die Religion, die Menschen zu Mördern macht. Die NZZ moniert die Boulevardisierung der Medien durch MeToo. Ebenfalls in der NZZ glaubt Francis Fukuyama, dass die Ukraine nie sicher sein wird, solange Wladimir Putin an der Macht ist. In der taz bemerkt die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik leichte Differenzen zwischen Russland und China in Bezug auf den Führungsanspruch in der Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.05.2023 finden Sie hier

Ideen

Im Welt-Interview mit Martina Meister versichert Michel Houellebecq, dass er seine Porno-Affäre wirklich nicht zu einem Gesamkunstwerk stilisieren möchte. Und auch wenn er weiter an den "Großen Bevölkerungsaustausch" glaubt, hat er seine Meinung über den Islam leicht revidiert, wie er erklärt: "Emmanuel Carrère hat mir ebenfalls die Augen geöffnet. Ich habe dank seines Buchs 'V13' verstanden, dass die Leute, die im Zeitraum eines einzigen Nachmittags von radikalen Islamisten rekrutiert werden, nicht gerade die frommsten sind. Es amüsiert sie, Menschen zu köpfen, mit den Köpfen Fußball zu spielen und Krieg mit Bazookas zu führen. Sie haben das Bedürfnis, die Gewalt noch mal um eine Stufe zu steigern. Der Islam dient ihnen nur als Vorwand. Jemand, der große Teile seines Tages damit zubringt, die Hadithe zu studieren, der handelt nicht gleichzeitig mit Drogen. Das sind nicht dieselben Lebensentwürfe. Schon Pascal hatte erkannt, dass die Religion ein guter Vorwand ist, um andere mit gutem Gewissen zu massakrieren."

In der FAS allerdings glaubt Julia Encke nicht an Houellebecqs Läuterung, sein Buch "Quelques mois dans ma vie" hält sie für reine "Jammerprosa mit Porno-Elementen": "Weder nimmt man ihm das Missverständnis noch die Scham ab. Zwischendurch zitiert er Franz Kafkas 'Prozess': 'Es war, als sollte die Scham ihn überleben.' Und beim Lesen denkt man nur noch: Lass wenigstens Kafka in Ruhe!'"
Archiv: Ideen

Europa

In der NZZ erklärt Francis Fukuyama, warum die von Russland besetzten Landesteile im im Süden für die Ukraine strategisch viel bedeutsamer sind als der östliche Donbass und warum jedes Friedensabkommen mit einer Nato-Mitgliedschaft gekoppelt werden muss: "Solange Wladimir Putin an der Macht ist, bedeutet jede 'Konfliktbeilegung', die auf die heutige Lage abstellt, lediglich eine Atempause für Russland. Ein Abkommen schüfe keinen Frieden, es würde dem Kreml nur Zeit verschaffen, seine Streitkräfte für eine Wiederaufnahme des Kriegs neu zu ordnen und zu rüsten. Das heisst, dass jede dauerhafte Lösung viel stärkere Sicherheitsgarantien für die Ukraine beinhalten muss. Bloße Versprechungen der westlichen Mächte werden nicht ausreichen."

In der taz dreht Erica Zingher Spekulationen von CNN weiter, dass die USA auch in Deutschland Gefangene für einen Tausch gegen den amerikanischen Reporter Evan Gershkovich vom Wall Street Journal suchen, der in einem Moskauer Gefängnis quasi als Geisel gehalten wird: Russland will demnach den Tiergartenmörder Vadim Krasikov freipressen. In der SZ werben Andrian Kreye und Georg Mascolo für die Vorteile, die KI-Programme von dem eben noch verteufelten Konzern Palantir der Ukraine gegen über Russland verschaffen.
Archiv: Europa
Stichwörter: Nato, Palantir, Fukuyama, Francis

Medien

In der NZZ wirft Benedict Neff seinen journalistischen Kollegen, vor allem bei Spiegel und Zeit, in #MeToo-Fragen journalistische Standards über Bord geworfen zu haben. Geschichten stützen sich oft nur auf anonyme Quellen, werden mit viel Konjunktiv erzählt, halten sich dann aber jede Hintertür offen: "Im Grunde agieren die Aufdeckungsjournalisten ähnlich wie die Witwenschüttler im Boulevard, die Hinterbliebene aufsuchen und ausfragen, um aus ihrem Unglück Geschichten zu schreiben. Man macht Opfer-Journalismus, geht ganz nahe ran, kreiert emotionale, schockierende Schlagzeilen und versucht das Publikum aufzurütteln. Wie die Boulevard-Medien legitimieren auch die sogenannten Qualitätsmedien ihr Vorgehen mit dem guten Zweck. Der Einzelfall, liest man oft, steht nicht für sich allein, sondern für ein 'toxisches System' in der Medien- oder der Kulturbranche. Die moralischen Werte der Witwenschüttler blieben stets zweifelhaft, anders ist es mit denen der Qualitätsjournalisten. Sie werden von einer aktivistischen Basis getragen, die den Hinweis #MeToo als ein Gütesiegel von Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit liest."

Derartige Vorüwrfe könnten auch beim Rauswurf von Spiegel-Chef Steffen Klussmann eine Rolle gespielt haben, wie Philipp Bovermann und Anna Ernst in der SZ vermuten: "Medienanwalt Christian Schertz, der in mehreren Fällen gegen den Spiegel vorgegangen war, sagt über Klusmann: 'In seiner Amtszeit wurden zunehmend Grundsätze journalistischer Sorgfaltspflicht missachtet und reißerische Geschichten veröffentlicht.'"
Archiv: Medien

Kulturpolitik

Im FAS-Interview mit Julia Encke widerspricht Marc Grünbaum, Kulturdezernent der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, Vermutungen, dass der Aufstand gegen Claudia Roth bei der "Jewrovison" inszeniert war: "Ich hatte erwartet und mir erhofft, dass Claudia Roth den Anlass nutzt, um klare Worte zu finden, auch noch mal rückblickend für die Vorgänge rund um die Documenta. Wenn sie das getan hätte, wenn sie sich deutlich zum Antisemitismus in der Kulturlandschaft und zu ihrer eigenen Rolle bei der Documenta geäußert hätte, da bin ich mir sicher, hätte man ihr eine Chance gegeben."
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Roth, Claudia, Documenta

Gesellschaft

In der SZ hält Sonja Zekri die Kriminalisierung der Letzten Generation nicht nur für politisch falsch, sondern auch für unsinnig: "Eine Massenbewegung, die nicht wächst, wird uninteressant, davon kann Fridays for Future ein Lied singen. Und ziviler Widerstand, an den sich eine Gesellschaft gewöhnt, ist keiner. Wie also wird sich die 'Letzte Generation' verändern? Zunächst einmal scheint der Schock über das Nichtgeliebtwerden der Erkenntnis gewichen zu sein, dass auch Ablehnung und Unterdrückung ihre Vorteile haben - für die Mobilisierung, für die Legitimierung, fürs Bonding. Ungezählte politische oder soziale Bewegungen verdanken der Repression ihre besten Zeiten."

Dreißig Jahre nach dem erschütternden Brandanschlag von Solingen erinnert der Kölner Sozialpsychologe Musa Deli daran, dass sich viele Migranten noch immer unwohl und nicht willkommen in Deutschland fühlen: "Neben den Anschlägen, die uns ebenso lange beschäftigen, sind es die Lebensbedingungen vieler Menschen mit Migrationsgeschichte, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob sie hier wirklich anerkannt werden. Immer wieder erleben sie Benachteiligung aufgrund ihrer Herkunft. Die Wohnungssuche gestaltet sich oft schwierig, Bildungsabschlüsse liegen weiterhin unter dem Niveau von Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund, der sozioökonomische Status von Familien ist immer noch deutlich geringer. Die Einschätzung, nicht ganz akzeptiert zu sein und nicht die gleichen Chancen zu haben, führt dazu, dass am türkischen Pass wie an einer Notlösung festgehalten wird. Zur Not könnte man immer noch gehen."
Archiv: Gesellschaft

Politik

In der taz weist die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik darauf hin, dass China zwar eigene Interessen in Russland verfolgt, aber strategisch seien die beiden Länder nicht auf einer Linie: "Sie sind sich einig in ihrer Gegnerschaft zu den USA und ihrer Forderung nach einer sogenannten Demokratisierung des Systems der internationalen Beziehungen. In der Frage der zukünftigen Weltordnung sprechen beide von 'Multipolarität'. Doch zeigt sich, dass ihre Vorgangsweise nicht wirklich abgestimmt ist. Während sich Chinas KP die Führung in der Welt am liebsten mit den USA teilen würde - und die wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen so weit wie möglich aufrechterhalten möchte -, meldet Wladimir Putin mit dem Angriff auf die Ukraine den Anspruch Russlands an, als Dritter im Bunde Weltmacht zu sein. Putin macht immer wieder deutlich, dass man die Weltordnung grundsätzlich infrage stellen muss. Er agiert als klassischer Revisionist und betont stärker als Xi Jinping die Notwendigkeit der Neuordnung der Welt im Sinne der Multipolarität.
Archiv: Politik

Geschichte

In der taz unterhält sich Sophia Zessnik mit dem Historiker Peter Frankopan über die Bedeutung des Klimas für die Weltgeschichte. So bringt Frankopan etwa den Untergang des Römischen Reichs mit einer gravierenden Abkühlung in Zusammenhang, oder ökologische Probleme mit Pogromen gegen Minderheiten: "In Zeiten von Nahrungsmittelknappheit und hohen Preisen werden leider immer wieder Sündenböcke gesucht. Das können wir aktuell auch wieder beobachten. Historisch lässt sich da ein Muster erkennen. Es zeigt etwa, dass, wenn die Vegetationsperiode im vorangegangenen Fünfjahreszeitraum ungewöhnlich kühl ausfiel, die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger antisemitischer Übergriffe deutlich anstieg. Es gibt inzwischen zahlreiche Daten aus europäischen Ländern und Städten, die diesen Zusammenhang ab den 1090er Jahre dokumentieren. In anderen Teilen der Welt war das nicht anders. Dort traf es dann jeweils andere Minderheiten. 1321 in Ägypten waren es Christen, die man zu Sündenböcken machte. Zusammenfassen könnte man es so: Je schlechter die Witterung, umso mehr wurden Minderheiten Ziel von Angriffen."

Weiteres: In de FR erinnert Christian Thomas an den berüchtigten Mongolensturm vor achthundert Jahren, dem auch die Kiewer Rus zum Opfer fiel: "Aus der Perspektive eines Zeitgenossen hieß es: 'Alles geriet in Verwirrung.'"
Archiv: Geschichte