9punkt - Die Debattenrundschau

Warum botanische Gärten, aber keine Zoos?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.05.2023. Über die ausgebuhte Claudia Roth gibt es nun doch noch Diskussionen. Wenn sie nach "Weltoffenheit"-Papieren und Documenta ohne ernsthafte Aussage vor die Jugendlichen der "Jewrovision" tritt, muss sie sich nicht wundern, meint Zentralratspräsident Josef Schuster in der Jüdischen Allgemeinen. Sie muss halt zwischen den Ansprüchen der jüdischen Gemeinde und den Gewissheiten der internationalen Kunstszene lavieren, findet Zeit online. Die Deutschen sollen ihr Dekolonisierungstheater aufgeben und nicht jammern, wenn die Nigerianer mit den Benin-Bronzen machen, was sie wollen, meint Carola Lentz, Präsidentin des Goethe-Instituts in der FR. Die FAZ zählt die Reichen in Großbritannien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.05.2023 finden Sie hier

Kulturpolitik

Über die ausgebuhte Claudia Roth gibt es nun doch noch Diskussionen. Sie hatte selbst bei der "Jewrovision" reden wollen, geht aus einem Interview Detlef David Kauschkes mit Zentralratspräsident Josef Schuster in der Jüdischen Allgemeinen hervor. Dann lieferte sie aber nur die für sie üblichen Phrasen über "Buntheit" und - ausgerechnet - "Weltoffenheit". "Der Besuch einer Kulturstaatsministerin bei dieser Veranstaltung ist in erster Linie eine Form der Anerkennung für die Leistungen der jüdischen Jugendlichen", sagt Schuster. "Aber an eine Rede, in diesem Kontext, knüpfen sich dann natürlich auch hohe Erwartungen. Letztendlich muss man konstatieren, dass es nicht reicht, bei so einem Event ohne ein ernsthaftes Angebot an die jungen Menschen teilzunehmen. Dazu gehört auch, dass es zum Beispiel keine Ansätze gibt, wie jüdische oder antisemitismuskritische Beiträge zu unserer deutschen Kulturlandschaft in Zukunft frei von Angst und Boykottaufrufen gestaltet werden können."

Man muss ein wenig zurückblicken, um zu verstehen, weshalb Claudia Roth bei der Frankfurter "Jewrovision" ausgebuht wurde, schreibt Johannes Schneider in einer ausführlichen ZeitOnline-Analyse: Roth stimmte 2019 nicht für die BDS-Resolution des Deutschen Bundestages, auch hat sie sich nie kritisch zur Initiative GG 5.3 Weltoffenheit geäußert. Aber man wünscht sich eben "eine erste Kulturpolitikerin im Staat, die glaubhaft loyal ist und in Taten die Sorge auffängt, dass antiimperialistische und vulgär-postkoloniale Weltdeutungen die Kunstsphäre vereinnahmen und für Israel-Feindschaft und Antisemitismus öffnen. Genau diese Kulturpolitikerin ist Roth aber tatsächlich nicht. Zu sehr ist sie auch jener anderen Seite und ihren ja ebenfalls berechtigten Anliegen verpflichtet, dass die Kunstfreiheit nicht präventiv zu sehr eingeschränkt werden dürfe und Kritik am Staat Israel, an Unterdrückung und Rassismus gegenüber Palästinenserinnen möglich bleiben müsse. Ferner muss sie auch berücksichtigen, dass BDS-Unterstützung im Rest der (Kunst-)Welt etwas völlig anderes bedeutet als in Deutschland und man sich intellektuell ziemlich isoliert mit einem deutschen Reinheitsgebot in dieser Hinsicht. Auch das ist schließlich eine Tatsache: Die Einstufung von BDS als antisemitisch qua Parlamentsresolution hat Deutschland exklusiv." Antisemitismus als Antisemitismus einzustufen, wäre demnach eine deutsche Marotte?

"Ketzerisch würde ich von 'Dekolonisierungstheater' sprechen", sagt Carola Lentz, Präsidentin des Goethe-Instituts, im FR-Gespräch mit Harry Nutt, über die Debatte zur Rückgabe der Benin-Bronzen: "Bei uns scheinen viele mit den Rückgaben die Hoffnung zu verbinden, dass sich das Thema Dekolonisierung danach erledigt habe. Ein weiterer Aspekt der emotionalen Aufladung ist die Konkurrenz mit anderen europäischen Ländern. Nachdem Frankreichs Präsident Macron eine große Restitutionsoffensive angekündigt hat, scheinen wir Deutsche uns darin zu gefallen, nun ebenfalls zu liefern und die Franzosen sogar zu übertreffen." Allerdings zeige die Debatte um die Benin-Bronzen auch "wie durch ein Brennglas, dass viele in Europa immer noch eine sehr eurozentrische und paternalistische Vorstellung davon haben, wie die Aspekte der kolonialistischen Vergangenheit behandelt werden können und sollen. ... Wenn gleichzeitig African Americans uns darauf aufmerksam machen, dass die Artefakte in Königtümern gefertigt worden sind, deren Reichtum nicht zuletzt auf Sklavenhandel beruhte, kann die deutsche Kulturpolitik daraus doch nicht den Schluss ziehen, den Nigerianern nahezulegen, sich erst einmal der Geschichte ihres Sklavenhandels zu vergewissern."

Im Grunde hält Jörg Häntzschel (SZ) den Kulturpass, den diesen Juni alle, die 2023 volljährig werden, erhalten für eine gute Idee: Weg von Netflix oder Spotify, rein ins Kino oder Theater - andere EU-Länder haben es bereits vorgemacht. Nur so ganz zu Ende gedacht ist die Idee leider nicht, seufzt Häntzschel: "Warum sind CDs dabei, DVDs aber nicht? Warum botanische Gärten, aber keine Zoos? … Warum ist ein Diät-Ratgeber Kultur, Zeitungen und Zeitschriften aber nicht? … Dieser Mix aus Regeln rührt zum Teil von EU-Gesetzen her, zum anderen daher, dass der Kulturpass eben keine inhaltliche, sondern eine strukturelle Förderung darstellt", deren App ihre eigenen Tücken hat: "Wird dem jungen Neonazi nach zwei Käufen von Büchern aus dem Antaios-Verlag eine Rechtsrock-CD empfohlen, wird man ihr Fahrlässigkeit vorwerfen. Schlägt die App hingegen einen Postkolonialismus-Reader vor, wird man sie linker Indoktrination bezichtigen."
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Europa

Friedrich Schmidt identifiziert in der FAZ mit Denis Kapustin und Maximilian Andronnikow zwei der russischen Rechtsextremisten, die offenbar auf der Seite der Ukraine kämpften und sich nun einer Aktion jenseits der Grenze im russischen Belgorod brüsten: "Neben dem zeitweisen Kontrollverlust macht die Belgoroder Aktion für Moskau unbequem, dass ihre beiden Gesichter, Kapustin und Andronnikow, einem Milieu entstammen, das der Kreml - bei aller Heterogenität - längst erfolgreich kooptiert oder wenigstens unter Kontrolle gebracht zu haben glaubte. Russische Vertreter legen Wert darauf, dass die 'Sabotage' von 'ukrainischen Kämpfern' verübt worden sei, nicht von russischen; da gilt das sonst gebrauchte Credo von Putin, Russen und Ukrainer seien 'ein Volk', nicht."

Gina Thomas erzählt in der FAZ die Geschichte der "Rich List", die seit 35 Jahren von der Sunday Times geführt wird und betont konservativ die Vermögen der reichsten in Britannien lebenden Menschen ermittelt. Anfangs waren viele Adlige darunter, doch das änderte sich bald, als London zum Mittelpunkt der Superreichen wurde: "Aus heutiger Sicht wirken diese Summen freilich überschaubar. Sie stammen aus einer Zeit, in der es den Begriff 'superreich' noch gar nicht gab. Um in die erste Liste aufgenommen zu werden, die damals nur die zweihundert Vermögendsten zählte, genügten 30 Millionen Pfund. Heute braucht man 350 Millionen, um zu den reichsten Eintausend zu gehören. Diese beispiellose Explosion des Reichtums lässt sich auch dadurch ausdrücken, dass die zwei Reichsten der heutigen Rich List mehr Geld besitzen als alle zweihundert Reichsten des Jahres 1989 zusammen."
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Ideen

"Abschied von den Boomern" lautete der Titel der Abschiedsvorlesung, die Heinz Bude am Mittwoch an der Universität Kassel hielt und der Andreas Bernard in der SZ schon deshalb gern lauscht, weil ihm der Soziologe den Begriff "von der Beleidigung in die Neutralität einer demografischen Kategorie zurückzuholen" versuchte: "Für die Ausgangserfahrungen der 'Boomer' nach dem Nullpunkt von 1945 findet Heinz Bude präzise und schöne Formulierungen. Einerseits die kindliche Zeugenschaft des Wiederaufbaus im zerstörten Land, der 'Affektverwandlung' von fanatischen Soldaten in ebenso zielorientierte Bauhelfer: 'Die Boomer sind die Kinder von jungen Weltkriegsteilnehmerinnen.' Andererseits das Wissen der geburtenstarken Jahrgänge, dass sie, wie Bude sagt, 'einfach immer zu viele' waren, in den Klassenzimmern, in den Hörsälen und auf der Erde insgesamt. 1964 kamen in der Bundesrepublik etwa 1,4 Millionen Menschen zur Welt, doppelt so viele wie 2022." Die Eltern vieler Boomer waren allerdings in den frühen Dreißiger geboren und zu jung, um noch am Weltkrieg teilgenommen zu haben.
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Stichwörter: Bude, Heinz, Boomer, Neutralität

Geschichte

"Willkommen im Europa der Gegenaufklärung, acht Jahrzehnte nach dem Holocaust", kommentiert der Historiker Norbert Frei in der SZ mit Blick auf den Fall der Holocaust-Forscherin Barbara Engelking, die in einem Interview zum 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto kritisierte, dass die Mehrheit der Polen während der Verfolgung der Juden weggeschaut habe und dafür von obersten Regierungsvertretern Polens scharf kritisiert wurde. Immerhin: "Erfreulicherweise stießen die Drohungen aus den Reihen der PiS, die damit wohl auch schon Punkte für die Parlamentswahl im Herbst sammeln will, sofort auf Protest. Mehrere Tausend polnische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Disziplinen haben sich mit ihrer Kollegin solidarisiert und verweisen auf die in der Verfassung garantierte Freiheit der Forschung; angesichts der radikalen Attacken aus der Regierung sei es Zeit für Einigkeit, 'unabhängig von allen sonstigen Differenzen'."
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Medien

Spiegel-Chefredakteur Steffen Klusmann muss überraschend gehen, wenn auch in gegenseitigem Einvernehmen, wie es heißt, melden Anna Ernst und Laura Hertreiter in der SZ. Nachfolger soll Dirk Kurbjuweit werden: "Dabei hatte Steffen Klusmann durchaus auch Fürsprecher: Zahlreiche Mitglieder der Redaktion hatten sich noch am Donnerstag in einem Brief an die Geschäftsführung für Klusmann, eingesetzt. 274 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner drückten in dem Schreiben, das der SZ vorliegt, ihre Erschütterung darüber aus, dass 'für uns völlig überraschend die Chefredaktion infrage gestellt' worden sei. Die Kolleginnen und Kollegen hätten erst über Medienberichte davon erfahren, 'in denen teilweise der Eindruck erweckt wurde, es gebe im Haus den Wunsch, die Chefredaktion abzusetzen. Diesem Eindruck möchten wir entgegentreten'."

"So ganz geht die von außen aufgemachte Rechnung nicht auf, die da lautet: Beim Spiegel kämpft die Redaktion gegen den Verlag und gegen die Gesellschafter - um ihre Freiheit und den für den Verbleib Klusmanns", kommentiert Michael Hanfeld in der FAZ: "Die Mitarbeiter KG ist schließlich, wie der Name schon sagt, der Mehrheitsgesellschafter, hinter dem die Mitarbeiter stehen. Und in Gestalt von Kurbjuweit, über dessen Chefanstellung angeblich schon verhandelt wird, hat jemand offenbar mit die Strippen gezogen, der seit Jahr und Tag (von 2015 bis 2019 als stellvertretender Chefredakteur) zu den Redaktionsgrößen zählt."
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