9punkt - Die Debattenrundschau

Kein Licht in den Fenstern

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.03.2022. Im Guardian beschreibt der Kiewer Reporter Illia Ponomarenko eine Stadt im Würgegriff der Stille. In der NZZ erklärt Juri Andruchowytsch die absolute Radikalität der Situation. Die taz erinnert daran, wie im Syrienkrieg humanitäre Korridore benutzt wurden, um die Bevölkerung zu terrorisieren und zu vertreiben. In der SZ fordert Adam Tooze endlich einen Deal, und sei er noch so dreckig. Die FAZ wirft einen Blick auf die Chalets in der Schweiz, wohin Oligarchen sich und ihre Vermögen gern in Sicherheit bringen, und offenbar auch schon Putins Familie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.03.2022 finden Sie hier

Europa

Tag sechzehn des Krieges gegen die Ukraine. Die Verhandlung im Türkischen Antalya haben erwartungsgemaß nichts gebracht. In der SZ gibt Stefan Cornelius schon nichts mehr auf den russischen Außenminister Sergej Lawrow: "Lawrow ist der Zwinger-Terrier des Kreml, er muss bei äußerer Gefahr anschlagen. Seine Rhetorik soll Furcht einflößen. Verhandelt wird, wenn überhaupt, vom Kreml selbst, nicht vom Außenministerium." Die aktuellen Ereignisse gibt es wie immer hier oder hier.

Dem Guardian schickt Illia Ponomarenko, ein Reporter des Kiev Independent, Eindrücke aus der umzingelten Hauptstadt, die den russischen Großangriff nur abwarten kann: "Nordwestlich von Kiew sind Panzerkämpfe und Artillerieduelle in vollem Gange. Vor zwei Wochen noch gehörten die Satellitenstädte Irpin, Bucha und Hostomel zu den sich am schnellsten entwickelnden und komfortabelsten Teilen des Kiewer Stadtgebiets, unser Beverly Hills. Heute, wo das russische Militär versucht, dort Fuß zu fassen, sehen diese Städte aus wie die Höllenlandschaft von Stalingrad. Das ukrainische Militär kämpft bis zum bitteren Ende, um zu verhindern, dass die Russen vorrücken und die Hauptstadt umzingeln, wobei alle Brücken in den Vororten der Stadt zerstört wurden. Es wird deprimierend. Das Schlimmste ist die todesähnliche, unangenehme Stille, die mit der Ausgangssperre um 20 Uhr eintritt. Es gibt kein Licht in den Fenstern. Man möchte keine Musik einschalten, keinen Film ansehen oder ein Buch aufschlagen - es ist, als ob uns die Stille im Würgegriff hat."

Aus der Schwarzmeerstadt Odessa, vor dessen Küste sich die russische Flotte aufgebaut hat, schreibt Stella Ghervas in der London Review of Books: "Im sowjetischen Totalitarismus spotteten die Odessiten der kommunistischen Zensur, indem sie eine besondere Art von Doppeldeutigkeit pflegten, die in Moskau unverständlich war. Satire und Raffinesse werden nicht ausreichen, um Putins Aggression abzuwehren. Dennoch können die Odessiten den Kreml in die Enge treiben, indem sie beeisen, dass Sprache und Land völlig verschiedene Dinge sind."

In der taz erinnert Karim El-Gawhary, wie Russland im Syrienkrieg Städte einkesselte und monatelangem Bombardement aussetze. Und auch in Syrien wurden immer wieder humanitäre Korridore und lokale Waffenstillstandszonen ausgehandelt und dann verletzt. Die Zermürbung der Bevölkerung war Strategie, schreibt El-Ghawary: "Wie es der damalige und noch heutige russische Außenminister Sergei Lawrow bei der Belagerung von Aleppo unumwunden formulierte: 'Jene, die sich weigern freiwillig zu gehen, werden ausgelöscht.' Es ist heute wie damals das einzige Angebot auf dem russischen Tisch. Die syrischen und russischen Militärs erreichten mit diesen humanitären Korridoren ihr Ziel. Nachdem die Evakuierung - viele Syrer nannten es auch Vertreibung - abgeschlossen war, wurden die belagerten Orte endgültig zum Freiwild der Artillerie und Luftwaffe. Denn wer jetzt noch dort war, war nach russisch-syrischer PR selbst schuld. Es dauerte dann meist nicht mehr lange, bis der letzte Widerstand weggebombt war. Die humanitären Korridore sind ein Paradox. Denn hier wird die Vertreibung von Menschen als die einzige Möglichkeit präsentiert, zivile Menschenleben zu retten. Ein Kriegsverbrechen wird begangen, um ein anderes zu vermeiden."

In ihrem ukrainischen Tagebuch in der SZ schreibt Oxana Matiychuk aus Czernowitz und berichtet von einer Freundin aus Mariupol: "Ob es Sinn habe, wenn ich ihr Geld überweise, frage ich. R. meint, das würde gar nichts bringen, Geld habe sie genug, aber Supermärkte und Läden sind leer, ausgeraubt. R. ist keine, die sich unterkriegen lässt, das weiß ich, hoffentlich schafft sie das, hoffentlich kann sie dort raus, hoffentlich. Eine für die Studentenwohnheime zuständige Kollegin ruft an. Sie brauchen Decken, Bettwäsche und Handtücher, am besten mehrere Hundert, die sechs Wohnheime haben 3000 Plätze und sind teils schon überfüllt, der Vorrat an Textilien ist aufgebraucht."

Im Interview in der NZZ konfrontiert Roman Bucheli den ukrainischen Schriftsteller Juri Andruchowytsch mit sehr abschätzigen Aussagen von 2010, in denen er eine Abspaltung des Donbass gefordert hatte, weil mit den "zivilisatorisch rückständigen" Menschen dort niemals ein "freies, humanes, europäisches Land" erreichbar sei. Andruchowytsch bedauert die Aussagen jetzt natürlich sehr, denn im Moment gebe es nur das Sein oder Nichtsein der Ukraine: "In diesem Moment ist die Situation absolut radikal. Über Halbtöne und Schattierungen können wir etwas später diskutieren. Jetzt geht es ums Ganze, und das bedeutet: Wir werden entweder von Putin erobert und vernichtet, oder wir werden gewinnen und damit auch das Ende Putins und seines Systems herbeiführen. Ich hoffe sehr auf diese zweite Möglichkeit."

Im SZ-Interview mit Nele Pollatschek erklärt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, warum die USA die scharfen Sanktionen gegen die russische Zentralbank nicht als Warnung vorab benutzt haben, um Russland von einer Invasion abzuschrecken: "In der Sekunde, in der das Wort 'Zentralbank' gefallen wäre, wäre der Rubel abgestürzt. Das hätte den Krieg ausgelöst. Das ist ein bisschen wie 'nuklear'. Mit so was droht man nicht. Es gibt keine Unschuld in diesen Worten." Und er fordert eine Lösung, der Russland einen Ausweg lässt: "Die 'Realisten' in den internationalen Beziehungen lieben es vorzuführen, dass die Welt schlecht und gefährlich ist. Aber das ist eine Prämisse, die einfach nicht gestützt ist. Andererseits ist es wichtig, sich vor diesem naiven Gutmenschentum zu schützen. Das dazu führt zu sagen: Da sterben Menschen, was wir brauchen, ist eine Flugverbotszone. Nein! Was wir brauchen, ist Stabilität. Was wir brauchen, ist irgendein dreckiger Deal!"

Selbst in der Schweiz fangen die Vermögen der russischen Oligarchen allmählich an zu stinken, wie Jürg Altwegg in der FAZ zu berichten weiß: Dmitri Rybolowlew, Andrei Melnitschenko und Viktor Vekselberg (der für den CSU-Mann Markus Blume als PR-Berater arbeitete). Seit zwanzig Jahren tanzen sie Kultur und Politik auf der Nase herum, verkaufen sich gegenseitig Fußballclubs, Chalets am Genfer See oder auch umstrittene Bilder wie den "Salvator Mundi". Zuletzt hat sich der kasachische Nasarbajew-Clan mit ungehaltenen Versprechen in der Schweiz eingekauft: "Denkt auch Putin insgeheim an eine Familienzusammenführung? Er sammelt Uhren der Genfer Marke Patek Philippe - Geschenke seiner Oligarchen. Sein Vermögen wird auf 35 bis zweihundert Milliarden geschätzt. Die Geliebte und die vier gemeinsamen Kinder sollen sich bereits in der Schweiz befinden. In einem Chalet in den Bergen."

Weiteres: In der NZZ wirft Meret Baumann der Ukraine vor, entgegen der Genfer Konvention russische Kriegsgefangene vorzuführen, etwa mit der Kampagne "Such nach deinem". Mohamed Amjahid beklagt in der taz doppelte Standards in Europa bei der Aufnahme der Flüchtlinge: "Alle ukrainischen Staatsbürger*innen dürfen ohne große Nachfragen passieren, Schwarze Menschen und People of Color müssen tagelang ausharren und werden noch nicht mal darüber informiert, wie es für sie weitergeht. Die einen gelten als Flüchtende, die anderen können - wenn es nach so vielen europäischen Entscheider*innen geht - krepieren."
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Geschichte

Sehr genau legt der Linguist Ernst Kausen in der Welt dar, weshalb das Ukrainische eine eigenständige Sprache ist. Das Ukrainische bildetet sich wie das Russische und Weißrussische aus dem Ostslawischen, um 1800 entstand zudem eine neue ukrainische Literatursprache, aber: "Diskriminierende Erlasse der russischen Regierung in den Jahren 1863 und 1876 führten außerhalb Galiziens zu einer drastischen Einschränkung des Ukrainischen in Literatur, Schule und Öffentlichkeit. Von den Russen wurde die Existenz einer eigenständigen ukrainischen Sprache bestritten, sie wurde als ein vom Polnischen verderbter russischer Dialekt abgetan - eine These, die von Putin und russischen Nationalisten wieder aufgegriffen wurde. Mit der Gründung der ukrainischen Volksrepublik im Jahre 1918 wurde Ukrainisch erstmals zur Staatssprache, dies blieb sie auch später in der Ukrainischen Sowjetrepublik, wenn sich auch der Grad der Freiheit bzw. Unterdrückung des Ukrainischen in der Sowjetzeit ständig änderte."
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Stichwörter: Ukraine, Ukrainisch, Dialekt

Medien

In der FAZ tut die französische Kriegsreporterin Anne-Laure Bonnel Jürg Altwegg fast schon leid, die mit ihrem einseitigen Film "Donbass" zur Kronzeugin der russischen Proaganda wurde und seitdem immer weiter abdriftet.
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Stichwörter: Donbass

Gesellschaft

In der Zeit verabschiedet André Schmitz die im Alter von 99 Jahren gestorbene Journalistin und Holocaust-Überlebende Inge Deutschkron, von der man eigentlich dachte, dass sie wie die Queen immer da sein würde: "Den 'einfachen Menschen', wie sie immer sagte, den sogenannten stillen Helden, denen sie und ihre Mutter ihr Überleben in Nazideutschland verdankten, galt später immer ihr Engagement. Den Prostituierten vom Alexanderplatz, der Bäckerin aus Charlottenburg. Nicht: den Akademikern, den Professoren von der Friedrich-Wilhelms-Universität, den Bürgerlichen aus Dahlem. Damit verbindet sich auch eine politische Überzeugung: Inge Deutschkron war zeitlebens eine linke Kämpferin für Gerechtigkeit und gegen rechtes Gedankengut in unserer Gesellschaft. Streitbar und direkt wie ihre Sprache, das Berlinerische."
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