9punkt - Die Debattenrundschau

Zerstörung jedes sozialen Sinns

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.02.2023. Wladimir Sorokin sieht in der SZ den untoten Körper der Sowjetunion aus seinem Grab steigen. In der Welt diagnostiziert Viktor Jerofejew bei den Russen einen antieuropäischen Scheißegalismus. Vielleicht würden mehr Menschen protestieren, wenn Europa sie nicht hängenließe, gibt Sasha Filipenko in der NZZ zu bedenken. In der taz ruft Bahman Nirumand die iranische Opposition auf, die Massen für sich zu gewinnen und konkrete Forderungen zu stellen. Ebenfalls in der taz erklärt Hedwig Richter den "verlorenen Seelen in der FDP", dass Demokratie ihren BürgerInnen durchaus etwas zumuten kann.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.02.2023 finden Sie hier

Europa

Die SZ bringt einen Auszug aus einem Gespräch mit Wladimir Sorokin, das Andrej Archangelski für Radio Free Europe mit dem russischen Schriftsteller führte. Sorokin spricht darin über die Verrohung der russischen Sprache, die Infantilität der Intelligenzija und den untoten Körper der Sowjetunion: "Weil alle sowjetischen kollektiven Traumata ins Unterbewusste verdrängt und nicht bearbeitet wurden. Dort faulten und gärten sie. Es hat keinen kollektiven Bewusstwerdungsprozess gegeben, keine Buße für die Verbrechen des Bolschewismus. Mit Blick auf das Trauma und den toten sowjetischen Körper wurde abgewinkt und gesagt: 'Wir sind gesund.' Wird schon gehen. Doch wie sich herausgestellt hat, sind wir krank, schwer krank. Das Böse, das in den Menschen schlummerte, ist mithilfe der Propaganda freigesetzt worden. Butscha ist das Böse in Reinform, das sich aus den Tiefen des kollektiven Unbewussten erhoben hat. Keiner hat das Trauma behandelt, wie es etwa in Deutschland geschehen ist."

Der Kreml schlägt immer wieder bemerkenswerte Haken, um seinen Krieg gegen die Ukraine ideologisch zu unterfüttern, stellt sein Schriftstellerkollege Viktor Jerofejew in der Welt fest, der grob drei Phasen ausmacht: die sowjetische, die historische und die metaphysische. Bei der ersten zum Beispiel sollte die Ukraine zurück geholt werden wie eine abtrünnige Geliebte: "Ihre Flucht vor Russland erklärte sich dadurch, dass sie anders war und anders ist. Um kurz ihre Andersartigkeit zu charakterisieren: Sie verfügt über einen recht ausgeprägten Hedonismus, über sonnige Lebensfreude, die mit dem Klima und ihrem Schwarzen Meer zu tun hat, sowie auch mit ihrer Vorstellung von Privateigentum und sinnvoll erlebter individueller Arbeit. Die russische Mentalität ist im Gegenteil in gewisser Weise infiziert von einem antieuropäischen Scheißegalismus, der alles aufweicht bis hin zur Zerstörung jedes sozialen Sinns. Zu Sowjetzeiten war der Unterschied zwischen Russland und der Ukraine verborgener, doch die beliebten Volkslieder und Volkstänze in der Ukraine waren natürlich nicht Ausdruck von Hochachtung gegenüber der Sowjetunion, sondern eine bewusste und freudige Verpflichtung vor der nationalen Tradition."

Auch der belarussische Autor Sasha Filipenko verzweifelt in der NZZ an der politischen Trägheit der russischen Bevölkerung, die glaube, die Kriege des Kremls gingen sie nicht an und die nicht einmal am eigenen Leben hinge, wie ihm die mangelnde Impfbereitschaft zeigte. Aber das erkläre die fehlenden Proteste nicht allein: "Wenn die Russen über mögliche Demonstrationen nachdenken, dann orientieren sie sich nicht an der Ukraine, sondern an Weißrussland. Die beispiellosen Proteste von 2020 haben nichts bewirkt außer massenhaften Repressionen. Europa, das vor zwei Jahren noch ganz begeistert war von dem tapferen Volk, das sich furchtlos gegen die Diktatur erhob, hat eines Tages beschlossen, dieselben Leute als Co-Aggressoren zu betrachten und ihnen kaum mehr Visa auszustellen. In Europa befinden sich nicht nur Millionen von Flüchtlingen, sondern auch neun Millionen Weißrussen, die man eines Tages schlicht vergessen hat. Ein Mensch, der sich dieser Tage zum Protest entscheidet, zum Widerstand gegen die Diktatur, weiß nur zu gut, dass er ganz auf sich allein gestellt ist. Europa wird begeistert sein von seiner Heldentat, ihn aber genauso schnell wieder vergessen."

Die mittlerweile in Berlin lebende Autorin Irina Rastorgujewa liefert in der NZZ eine kleine Presseschau des russischen Wahnsinns: "Der Abgeordnete der Staatsduma, Dmitri Gussew, schlägt vor, Europäern und Amerikanern jeweils zehn Hektaren Land in Russland kostenlos zur Verfügung zu stellen. 'Die Menschen werden von dort aus zu uns strömen. Sieben Millionen, Europäer und Amerikaner, die gerade durch Hölle und Terror gehen, werden zu uns kommen!' - nachzulesen im staatlichen Online-Portal gazeta.ru."

Weiteres: In der SZ sieht Hubert Wetzel dem zweiten Jahr des russischen Krieges gegen die Ukraine mit Schaudern entgegen. Der drohende Abnutzungskrieg bedeute nicht nur Abnutzung an Material, sondern vor allem an Menschen und Möglichkeiten: "Die USA und Europa sehen sich in der bitteren Zwangslage, einen Abnutzungskrieg mit immer neuen Waffen- und Munitionslieferungen unterhalten zu müssen - nicht weil sie es wollen, sondern weil es keine Alternative gibt, die politisch oder moralisch erträglich wäre." Elena Witzeck berichtet in der FAZ von einer Veranstaltung in Magdeburg, bei der die Frage "Pazifismus oder Solidarität" ernst, verzweifelt und hitzig diskutiert wurde, gelegentlich auch fahrlässig und lügnerisch.
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Gesellschaft

Falls jemand noch Lust auf Karneval in Venedig hat: Petra Reski hat in der SZ nur noch grimmige Worte für ihn übrig: "An Spitzentagen treffen 150.000 Touristen auf knapp 50.000 Venezianer - insofern die nicht die Flucht ergriffen haben, weil alles, was den venezianischen Karneval einst ausgemacht hat (Stegreiftheater auf einem Campo, Tänzer und Musiker, die durch die Gassen zogen) im Würgegriff der Kommerzialisierung schon vor Jahrzehnten untergegangen ist. Manche erinnern sich noch daran, wie junge Venezianer den venezianischen Karneval um das Jahr 1979 wiedererweckten: Spontanität, Fantasie und Witz als Gegenmittel zur Bleiernen Zeit, jenen Terrorjahren, als ganz Italien in Angst lebte. Die Venedigmaschine war noch nicht erfunden, Hotels und Restaurants schlossen im Winter, und der normale Alltag war noch nicht ausgerottet."
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Wissenschaft

Die FAZ bringt ein Pro & Contra ihrer Wissenschaftredakteure zur Atomenergie. Manfred Lindinger argumentiert dafür mit dem Klimaschutz: "Denn der CO2-Fußabdruck der Kernenergie ist laut einer Studie des Weltklimarats aus dem Jahr 2018 ähnlich hoch wie der der Windkraft, nämlich rund zwölf Gramm CO2-Äquivalent pro Kilowattstunde. Überzeugend ist auch die Effizienz: Aus einem Kilogramm spaltbares Uran-235 lassen sich rund acht Millionen Kilowattstunden Strom erzeugen, während dieselbe Menge Steinkohle nur rund zweieinhalb Kilowattstunden Strom erbringt."

Joachim Müller-Jung hält dagegen: "Wer heute auf die Karte Atomkraft setzt, um die globale Klimakatastrophe einzudämmen, setzt nicht auf Fortschritt, Freiheit oder Markteffizienz, sondern plädiert für das genaue Gegenteil. Atomenergie ist rückwärtsgedacht, zentralistisch und ökonomisch ein Milliardengrab."
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Politik

In einem Gespräch in der taz blicken die iranisch-amerikanische Autorin Roya Hakakian und der österreichische Schriftsteller und Psychoanalytiker Sama Maani auf die Proteste im Iran, deren Besonderheit Hakakian noch einmal so beschreibt: "Dieses Mal gibt es aber keine politische Partei oder Organisation, weder von links noch von rechts. Die Abwesenheit einer solchen politischen Infrastruktur ist ein Vorteil, das macht die Proteste weniger ideologisch. Die Proteste drehen sich um den grundlegenden menschlichen Wunsch nach einem normalen Leben. Das Problem ist allerdings, dass es ohne eine solche Infrastruktur kaum möglich ist, sich nachhaltig zu organisieren. Zudem fehlt jeder Dialog zwischen den Protestierenden und den Autoritäten. Früher gab es Forderungen nach höheren Gehältern oder nach einem unverfälschten Wahlergebnis. Heute heißt es nur: Geht! Das ist etwas grundlegend Neues, eine Unterbrechung."

Die Ajatollahs kamen im Iran mit der Revolution gegen den Schah an die Macht, die auch von Intellektuellen und fortschrittlichen Kräften unterstützt wurde. In einem zweiten Text in der taz blickt der alte Kämpe Bahman Nirumand auf die Fehler von damals zurück, um eindringlich zu warnen: "Nun kann man hoffen, dass die Akteure der gegenwärtigen Proteste unsere Fehler nicht wiederholen und mit Blick auf die gesamte Bevölkerung und auf die Bedürfnisse unterschiedlicher Gesellschaftsschichten strategisch und planmäßig vorgehen und dabei bedenken, dass sie nur erfolgreich sein können, wenn sie die Massen für sich gewinnen können. Daher müssen sie konkrete Forderungen stellen und eine für das Volk glaubwürdige Alternative anbieten. Auch sollten sie nicht, wie wir damals, den Gegner unterschätzen und nicht die Tatsache außer Acht lassen, dass Millionen Menschen existenziell von dem Regime abhängig sind, dass jene, die auf Seiten des Regimes kämpfen, einer ideologischen Gehirnwäsche unterzogen wurden."

In der taz unterhält sich Jan Feddersen mit der an der Universität der Bundeswehr lehrenden Historikerin Hedwig Richter über den Nonkonformismus von Offiziersanwärtern, coole Paukisten und den beliebten Anton Hofreiter. Bei der Klimapolitik geht's zur Sache: " Wer nichts tut, wird Freiheit sehenden Auges massiv einschränken", erklärt Richter: "Der Glaube, Demokratien würden ihren Bürgerinnen und Bürgern nichts zumuten, entspricht schlicht nicht den historischen Erfahrungen. Die USA oder das Vereinigte Königreich haben ihren Bürgern einen überaus entbehrungsreichen Krieg gegen Nazideutschland zugemutet. Nach 1945 haben viele Demokratien wie auch die Bundesrepublik mit einem starken Staat und technokratischer Expertise die europäische Stabilität geschaffen. Demokratien treiben Steuern ein, damit die Ärmsten ein Leben in Würde führen können. Die Gurtpflicht schützt das Leben. Gesetzliche Regelungen sorgen dafür, dass unsere Lebensmittel so gut sind wie nie zuvor. Das Interessante ist: Außer einigen verlorenen Seelen in der FDP halten das alle für sinnvoll."
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