9punkt - Die Debattenrundschau

Macht euren Dreck doch selber weg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.02.2023. Morgen wird in Berlin gewählt. Die FAZ verzweifelt an der Verwahrlosung der Stadt, die Mieten wie München kassiert, aber Müll wie Neapel anhäuft. Nur Spießer regen sich über die Wartezeiten im Bürgeramt auf, meint dagegen die Historikerin Ute Frevert im Spiegel. In der taz wünscht sich Jens Bisky mehr radikale Gesten. Außerdem: In der NZZ verzweifelt Irina Rastorgujewa an der Zerstrittenheit der russischen Diaspora. Die SZ beobachtet die zunehmende Enthemmung der russischen Propaganda.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.02.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Morgen wird in Berlin gewählt, und allenthalben herrscht Kleinmut und Ratlosigkeit. In der FAZ gibt Claudius Seidl, bekennender Berlin-Verächter, die Hoffnung auf, in der Stadt so etwas wie Regeln oder Ordnung durchzusetzen: "Vom Zauber der großen, hässlichen Stadt, in der so lange so vieles möglich war, bleibt die Verwahrlosung, die in manchen Vierteln neapolitanische Dimensionen erreicht. Und wenn einer, der für seine Wohnung eine Miete wie in München oder Paris zahlen muss, sich ärgert darüber, dass er vor der Haustür aber nur Berliner Dreck und Durcheinander findet, dann muss er sich eben damit trösten, dass in dieser Kategorie die Stadt immerhin Weltspitze ist. Als am Dienstagabend, bei der Fernsehdiskussion der Spitzenkandidaten, ein Mann aus dem Volk die Frage stellte, was denn welche Partei gegen die Vermüllung von Straßen, Plätzen, Parks unternehmen wolle, kam es zu einem bestürzenden Moment der Ehrlichkeit. Alle, von der Linkspartei bis zur AfD, gaben die gleiche Antwort: dass es über die Berliner Müllabfuhr nichts zu meckern gebe. Und dass man stattdessen an die Eigenverantwortung der Bürger appellieren müsse. Die Kandidaten hätten es den Berlinern auch so sagen dürfen: Macht euren Dreck doch selber weg, ihr Ferkel, statt dauernd nach der Politik zu rufen und jeden Hundehaufen als Symptom des Staatsversagens zu deuten."

In der taz wünscht sich Stadtbiograf Jens Bisky mehr radikale Gesten: "Verzagtheit herrscht vor, wie jeder feststellen kann, der aus dem Hauptbahnhof tritt, jüngst fertiggestellte Wohnhäuser betrachtet, rings ums Neubauschloss geht oder landespolitische Debatten verfolgt. Man will schon besonders sein, aber dabei nicht aus dem Rahmen fallen. Deswegen wirkt vieles so nett, aber unerfreulich, weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibend. Zwei der am meisten angefeindeten Berliner Vorhaben weisen wenigstens in die richtige Richtung, weil sie weder Wohlfühlrhetorik bemühen noch verzagt sind. Der erfolgreiche Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co. enteignen und die auf den ersten Blick bloß niedlich scheinende Sperrung von 500 Metern Friedrichstraße für den Autoverkehr politisieren entscheidende Fragen. In beiden Fällen ist nicht alles überzeugend, werden die praktischen Wirkungen sehr wahrscheinlich weniger revolutionär sein als erhofft oder befürchtet. Aber sie erschweren das Ausweichen, das Weiterwursteln..."be

Nur im Spiegel blickt die Historikerin Ute Frevert ganz ungebrochen positiv auf die Stadt. Die Gleichmütigkeit der Berliner, die andere als bräsig missverstehen, rühre aus der Überreizung durch das Großstadtleben, erklärt Frevert mit Bezug auf Georg Simmel: "Vielleicht nehmen Berliner auch einfach die Nachteile der Großstadt in Kauf, weil sie die Vorteile zu schätzen wissen. Zu Simmels Zeiten stürzen sie sich ins Amusement, flanieren auf der Friedrichstraße, gehen in diverse Etablissements und Divertissements, zum Sechs-Tage-Rennen und ab den Zwanzigerjahren vermehrt ins Kino. Heute stehen dafür das Berghain und die Klubszene ein. Wer mag sich nach einem durchtanzten Wochenende über lange Wartezeiten beim Bürgeramt oder den endlos verzögerten Radwegebau aufregen? Nur Spießer."
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Europa

Die russische Emigration im Westen ist zerstritten und gelähmt, einige radikalisieren sich, andere geben die Hoffnung auf Veränderung auch. In der NZZ gibt Irina Rastorgujewa Einblick in die Lage einer Verzweifelten: "Auch die liberale Intelligenz selbst ist nicht sonderlich aktiv. Ihre Meinungsträger scheinen zu erwarten, dass sich in Russland alles irgendwie von selbst regelt, dass sich Wladimir Putin beim Hinuntergehen der Treppe in seinen langen Hosen verheddert, siebzig Stufen fällt, sich das Genick bricht und stirbt ... Die Propagandisten Simonjan, Solowjow und Kisseljow werden verrückt und kommen in die psychiatrische Klinik. Das Volk pilgert zum Kreml, um zu erfahren, was los ist - keine Nachricht. Es herrscht Schweigen im Land. Man hört nicht einmal, dass jemand gefoltert wurde. Armee und Polizei, verängstigt durch die unglaubliche Zahl der Neugierigen, stellen sich vorsichtshalber auf die Seite des Volkes. Politische Gefangene werden aus den Gefängnissen entlassen. Lenin wird beerdigt."

Das russische Staatsfernsehen wird in seiner Kriegspropaganda immer hemmungsloser, die westlichen Öffentlichkeiten sollten das zur Kenntnis nehmen, schreibt Kia Vahland in der SZ, auch wenn es Übelkeit errege: "Da stehen die Herren Welterklärer, und eine Welterklärerin, die Chefin von Russia Today, Margarita Simonjan. Und denken laut darüber nach, wen Atombomben treffen sollen. Kiew vielleicht? Nein, da sind die heiligen Stätten. Aber die westeuropäischen Hauptstädte, ja, warum denn nicht?... Nun kapseln die Propagandisten sich keineswegs ab in ihrer eigenen Wahnwelt. Nicht nur reagieren sie tagesaktuell auf die jeweilige Doktrin des Kreml, sie rezipieren auch den westlichen Diskurs, und dies viel genauer, als es - leider - andersherum geschieht. Als Olaf Scholz kürzlich Panzerlieferungen an die Ukraine freigab, wurde er von einem Fernsehmann als 'hanseatischer Nazi' beschimpft, über den man in einem zweiten Nürnberger Prozess richten werde. Und Simonjan raunte, vielleicht benötigten Feinde des Westens wie die Taliban oder das Regime in Iran ja ein wenig Amtshilfe?"

Putins Krieg sei schon allein deshalb aussichtslos, weil er in der Bevölkerung keinen Rückhalt habe, erklärt der russische Oppositionspolitiker und Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow im taz-Interview mit Andreas Fanizadeh: "Der Militärapparat erhält freiwillig keine Unterstützung aus der Gesellschaft. Die Armee ist ineffektiv, hat hohe Verluste. Ihre Waffensysteme sind brutal. Aber was haben sie erreicht? Zehntausende Tote, ein zerstörtes, entvölkertes und besetztes Gebiet im Osten von geringer strategischer Bedeutung. Dafür wurden unglaublich große Ressourcen verwendet... In den ersten Monaten des Kriegs hat Putin versucht, Loyalität mit Geld zu kaufen. Für einen Gefallenen im Krieg bekamen Hinterbliebene sieben bis zwölf Millionen Rubel Kompensation. Enorm viel! Sieben Millionen Rubel waren umgerechnet etwa 100.000 Euro. Genug, um ein Auto oder kleines Haus zu kaufen. Damit ist es vorbei. Das Geld wird knapp. Stattdessen rekrutieren sie Gefangene, darunter Drogensüchtige."

Kurt Kister dröselt in der SZ in extenso auseinander, dass Deutschland parteiisch sei im Ukrainekrieg, aber nicht Kriegspartei.
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Medien

In der SZ singt Willi Winkler - unter Auslassung peinlicher Vorkommnisse - eine Hymne auf den Verlag Gruner und Jahr, der einst eine Bastion der unterhaltsamen Aufklärung gewesen sei und nun unaufhaltsam verRTellisiert werde: "In Gütersloh tat man immer fromm und betete doch nur den Gott Mammon an, der zuverlässig aus Hamburg nachlieferte. Dort war man schon immer ziemlich gottlos und glaubte deshalb an ein besseres Deutschland, das hinter den Greisen Adenauer und Lübke zum Vorschein kommen würde, das nicht so vergangenheitsbelastet wie die ehemaligen NSDAP-Mitglieder Kiesinger und Carstens wäre, das sich am Wahlsonntag nicht von der Kanzel herunter bepredigen ließ, dass die SPD des reinen Teufels sei. Der Stern erzürnte schon 1962 das katholische Deutschland mit der scheinheiligen Frage: 'Brennt in der Hölle wirklich ein Feuer?' Der CDU-Bundesvorstand missbilligte schärfstens, der Stern-Verleger Gerd Bucerius, der auch Abgeordneter war, trat aus der Partei aus. 'Ich bin stolz, Verleger eines Blattes zu sein, dessen Journalisten nicht nach der Pfeife ihres Verlegers tanzen müssen.'"

Weiteres: In der FAZ fragt sich Jürg Altwegg in der Affäre um dem Chefredakteur Finn Canonica, dem die Journalistin Anuschka Roshani vorwirft, beim Schweizer Magazin ein Regime der Einschüchterung und Vulgaritäten geführt zu haben, was eigentlich der Rest der Redaktion dazu zu sagen hat. Die Berliner Zeitung annonciert ihre Rückkehr an den Alexanderplatz.
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