9punkt - Die Debattenrundschau

Bis hin zu Dosenfleisch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.02.2023. In Spiegel online attackiert Sascha Lobo die "Querfront der Friedensschwurbler", die sich um Sahra Wagenknecht formiert. Der RBB streicht hundert Stellen, berichten die Zeitungen. So etwas wie ein Schlagerfestival von Sanremo könnte er gar nicht mehr ausrichten: Die RAI hat dafür laut FAZ 1.100 Mitarbeiter in das Städtchen entsandt. Alle Zeitungen kommentieren das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Parteistiftungen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.02.2023 finden Sie hier

Europa

Die Friedensappellierer um Wagenknecht und Schwarzer bewegen sich in einer AfD-Nähe, die sie nicht mal geniert, konstatiert Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne (die hinter Paywall steht): "Das ist die Querfront der Friedensschwurbler - die aber unter Frieden vor allem Frieden für sich selbst verstehen. Im Sinne von: von den nervigen Kriegsfolgen in Deutschland in Frieden gelassen werden. Die von ihnen ständig erwähnten armen Ukrainer*innen sind ihnen offenkundig egal, denn die Querfront ignoriert vollständig, was Putin auch in seiner neuen Rede zur Lage der Nation sinngemäß wiederholt hat: Es geht um die Demütigung und letztlich Vernichtung des vorgeblichen 'Konstruktes' Ukraine samt der ukrainischen Kultur, der ukrainischen Elite, der ukrainischen Intelligenzija." Hannes Stein legt unterdessen bei den Salonkolumnisten dar, warum die Appellierer nicht den Begriff des Pazifismus für sich reklamieren dürfen.

"Die Gefahr wächst, dass Putin in dem Abnutzungskrieg, für den er rüstet, doch noch zu seinem Ziel kommt, weil er sein Land diktatorisch führt", fürchtet Michael Thumann in der Zeit und fordert darum ein schnelles und entschiedenes Agieren des Westens: "Dazu braucht es sicherlich nicht international geächtete Streu- und Splittergeschosse, deren Einsatz einige ukrainische Politiker anregten. Ausreichend Munition, Artillerie, Panzer und langfristige Planung für Nachschub und Wartung sind viel wichtiger."

Jahrzehntelang verfocht Habermas die Zugehörigkeit Deutschlands zum Westen, notiert Peter Neumann in der Zeit: "Es gehört zur großen Tragik im Denken von Jürgen Habermas, dass gerade in dem Moment, in dem der Westen sich einmal einvernehmlich und geschlossen zeigt, ihm ebendieser Westen suspekt wird."

An eben jener Stelle in der SZ, an der Jürgen Habermas vergangene Woche für Verhandlungen mit Russland plädierte, rät Sonja Zekri unter dem Titel "Deutsche Unerträglichkeit", den Wagenknechts, Schwarzers, Welzers und Prechts, heute einfach mal den Ukrainern zuzuhören: "Wer einen Schritt über die Grenze wagt, begreift sehr rasch, dass die überwältigende Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer ein Ende des Krieges in gewisser Hinsicht fast fürchtet. Obwohl sie unter den Angriffen leiden, sogar sehr. (…) Niemand in der Ukraine glaubt, dass der Kreml die neuen russischen Lande anders denn als Aufmarschgebiet nutzen wird. Die Rückeroberung dieser Gebiete hat für sie also wenig mit territorialen Gewinnen und viel mit Sicherheit zu tun."

"Es ist falsch, die Angst vor der Eskalation einfach zu verdrängen", sagt ebenfalls in der SZ der Historiker Frank Biess, der im Gespräch mit Johan Schloemann einen für beide Seiten nicht zufriedenstellenden Prozess am wahrscheinlichsten hält: "Ich wundere mich aber über Fachleute, die vorgeben zu wissen, dass es beispielsweise nicht zu einer nuklearen Eskalation kommen werde, denn diese Gewissheit haben wir eben nicht."

"Moldawien, Georgien, Aserbaidschan, Armenien, die zentralasiatischen Republiken haben gute Gründe, sich Sorgen zu machen", sagt John Bolton, früherer Nationaler Sicherheitsberater der USA, im FR-Gespräch mit Michael Hesse, in dem er auch kritisiert, dass der USA und der Nato noch immer eine Strategie fehle: "Eine Strategie besteht darin, seine Ressourcen so zu nutzen, dass die gesetzten Ziele auch erreicht werden können. Man sagt nun, man wolle Russland nicht besiegen, die Ukraine dürfe nur nicht verlieren. Was aber heißt das genau? Bedeutet es, die Russen aus dem Donbass zu drängen oder sie wieder hinter die Grenzen von 2014 zu bringen - oder sind es die Grenzen von 1991?"

Die Friedensbewegten in Deutschland stecken in einem "geschichtspolitischen Dilemma", schreibt Thomas Zaugg in der NZZ: "Deutschen Intellektuellen wie Jürgen Habermas gelang es, gegen Ende des 20. Jahrhunderts aus der negativen Sonderwegsgeschichte allmählich herauszufinden. Sie haben einen positiven Sonderweg aufgebaut, auf dem moralisch einwandfreie und ideelle Vorreiterrolle, wirtschaftliche Überlegenheit wie auch das Schuldbekenntnis für begangene Verbrechen einander bestärken. Sie würden nun gerne weiterhin ihr europäisches Projekt vervollkommnen, statt auf kriegstaktische Fragen und die reale Lage der osteuropäischen Staaten einzugehen. Kaum überraschend ist deshalb, dass Habermas in seinem Essay gegenüber Osteuropa distanziert bleibt. Dunkel weist er auf einen 'akuten Regelungsbedarf in der ganzen mittel- und osteuropäischen Region' hin. So kalt und überheblich drückt er sich aus."

Eine "De-Legitimierung des Herrschaftsdenkens", wie sie in Deutschland nach 1945 stattfand, gibt es in Russland bis heute nicht, schreibt Christoph von Marschall im Tagesspiegel. Deshalb müsse "Russland den Ukrainekrieg sichtbar verlieren. Die Erfahrung einer unleugbaren Niederlage in der Ukraine steht so quer zum russischen Selbstbild, dass sie das Umdenken anstoßen kann. Ohne eine De-Putinisierung und De-Sowjetisierung - oder genereller: eine De-Imperialisierung - wird dauerhafter Frieden in Russlands Umgebung nicht möglich sein."
 
Die scheinbare Blüte der russischen Wirtschaft trotz der Sanktionen ist nur ein Strohfeuer, schreibt der Osteuropa-Experte Janis Kluge im Tagesspiegel. "Im Jahr 2022 konnte sich der russische Haushalt die hohen Mehrausgaben gut leisten: Der Gasexport nach Europa brachte einen Rekordgewinn. Auch der Ölexport blieb ertragreich. Inzwischen hat sich das Blatt aber gewendet. Russlands Entscheidung, die 'Gaswaffe' gegen Europa einzusetzen, kommt das Land nun mit dem Verlust des lukrativen EU-Marktes teuer zu stehen. Auch die Einnahmen aus dem Ölgeschäft haben stark abgenommen, seit das EU-Embargo im Dezember in Kraft getreten ist."

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Die parteinahen Stiftungen unterhalten in Berlin Repräsentanzen, die nur noch mit den Botschaften großer Länder zu vergleichen sind. Sie dienen gescheiterten Spitzenpolitikern wie etwa Martin Schulz bei der Ebert-Stiftung als Gnadenhof und bieten einige schöne Stellen im Ausland. Die Parteien haben sich das Geld dafür ohne gesetzliche Grundlage bewilligt. Nur die Desiderius-Erasmus-Stiftung der AfD sollte wegen ihrer Demokratieferne aber kein Geld kriegen. Dagegen klagte die AfD vor dem Bundesverfassungsgericht und bekam erwartungsgemäß Recht (mehr bei tagesschau.de). "Die Niederlage vor Gericht hat sich der Bundestag selbst zuzuschreiben. Die demokratischen Fraktionen sind mit mehrjährigem Anlauf gegen eine Wand gelaufen", kommentiert Gareth Joswig in der taz. "Vor allem die großen Stiftungen haben sich gegen ein solches Gesetz gesperrt. Es war wohl zu bequem, den eigenen parteinahen Stiftungen Förderbeträge in Höhe von zuletzt rund 660 Millionen Euro auszuschütten. Kritik an dieser Intransparenz gibt es indes schon seit mindestens vierzig Jahren. Die Grünen hörten aber auf, die Praxis zu kritisieren, seit sie selbst davon profitierten." Allerdings hat das Gericht auch ermöglicht, undemokratische Stiftungen aus einem künftigen Gesetz auszuschließen, freut sich Joswig.

Die Desiderius-Erasmus-Stiftung müsste bei einem künftigen Gesetz selbst klarstellen, dass sie demokratische Werte vertritt, sagt der Jurist Markus Ogorek im Gespräch mit Joswig: "Die Darlegungs- und Beweislast liegt nach meinem Gesetzesentwurf bei der Stiftung: Sie muss nachweisen, dass sie aktiv die freiheitlich-demokratische Grundordnung unterstützt. Das ist meines Erachtens auch nicht unzumutbar, denn sie will ja schließlich Geld vom Staat."

"Das wichtigste Ziel der Neuregelung kann nur sein: Die Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES) muss von der Stiftungsförderung ferngehalten werden", kommentiert Wolfgang Janisch in der SZ: "Der Staat darf sein Geld nicht in eine neurechte Kaderschmiede stecken, die hinter einer bürgerlich-seriösen Fassade eine rechtsradikale Avantgarde heranzieht, gespeist aus demokratiefeindlichen und antiliberalen Strömungen. Die DES-Gremien sind mit AfD-Politikern und Vordenkern der Szene besetzt; das zeigt, wohin die Reise geht. Klar, will man die AfD-nahe Stiftung beim Staatsgeld außen vor lassen, wird man all dies mit weiteren Fakten untermauern müssen. Aber das Grundgesetz nötigt keine Regierung und kein Parlament dazu, an der Erosion seiner Grundlagen mitzuarbeiten."

Es ist absolut richtig, dass sich die AfD-Stiftung einer Prüfung unterziehen muss, kommentiert Reinhard Müller in der FAZ. Aber auch die anderen Parteien müssen in sich gehen: "Neben der verfassungsrechtlich gebotenen Chancengleichheit ist es eine Frage der politischen Klugheit, ob man der unliebsamen Konkurrenz etwas verweigert, das man für sich selbstverständlich in Anspruch nimmt. Da darf man sich über den Vorwurf 'Systempartei' nicht wundern."
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Medien

Der RBB will bis Ende 2024 insgesamt hundert Stellen streichen, meldet ZeitOnline mit dpa: Insgesamt sollen rund 49 Millionen Euro eingespart werden. "Würden wir jetzt nicht handeln, würden wir Ende 2024 in einen finanziellen Abgrund blicken", sagt Interimsintendantin Katrin Vernau im Tagesspiegel-Gespräch mit Joachim Huber. Frisches Programm will der RBB im Fernsehen nur noch zwischen 18 und 22 Uhr senden, auch die Zahl der außertariflichen Verträge soll reduziert werden: "Derartige herausgehobene Führungspositionen wird es nur noch auf der Hauptabteilungsleiter-Ebene geben, und zwar auf Zeit und nicht für ewig. (...) Mittelfristig wollen wir die Anzahl der AT-Verträge auf die Hälfte runterfahren. Bei den Betroffenen hat das keine allzu große Begeisterung ausgelöst. (…) Aber wir müssen die Auswüchse des Systems Schlesinger wieder auf Normalmaß zurückführen."
 
Eine besonders herausgehobene Führungsposition hat Vernau allerdings selbst inne, staunt Claudia Tieschky in der SZ: Vernau handelt "in einem quasi absolutistischen Machtgefüge, ohne die Geschäftsführung, die einer Intendantin sonst zur Seite steht: Seit sämtliche Direktorinnen und Direktoren des RBB aus der Schlesinger-Zeit entweder gekündigt (Arbeitsgerichtsprozesse laufen) oder im Einvernehmen verabschiedet wurden, ist Vernau Alleinherrscherin. Diejenigen Mitarbeiter, die mit ihr jetzt den Sender umkrempeln, stehen nicht einmal formal in der Verantwortung."

Anno Hecker erzählt auf anderthalb Feuilletonseiten der FAZ, wie Ines Geipel von zwei ehemaligen DDR-Sportlern, Henrich Misersky und Uwe Trömer, Dopging-Opfern wie sie, seit Jahren gestalkt wird - die Aufarbeitung des DDR-Dopings liegt darüber inzwischen in Trümmern. Die beiden durften sich in einer MDR-Doku äußern: "Der Film ist angekündigt als Aufarbeitung der Dopinggeschichte: 'Doping und Dichtung - Das schwierige Erbe des DDR-Sports'. Er suggeriert eine Diskussion. Aber es geht vorwiegend um Ines Geipel, um ihre Glaubwürdigkeit. Misersky und Trömer sitzen auf einem weißen Sofa, während sie der früheren Sprinterin Lüge und Hochstapelei unterstellen. Ihre Anklage: Ines Geipel sei als Sprinterin nie Weltklasse, nie Olympiakader, sie sei kein Dopingopfer und keine Dissidentin gewesen, brüste sich aber damit. Zu Wort kommt sie nicht. Ines Geipel hatte eine 'Mitwirkung' im November 2022 abgelehnt."

Unsaubere Recherchen wirft Michael Martens, ebenfalls in der FAZ, auch Jan Böhmermann vor, der sich in seinem "ZDF Magazin Royale" über den Hohen Repräsentanten in Bosnien-Herzegovina, Christian Schmidt, lustig gemacht hatte.

Das diesjährige Schlagerfestival von Sanremo, das in Italien an die Stelle großer christlicher Feiertage getreten zu sein scheint, bleibt wegen zahlreicher Skandale in den Schlagzeilen. Nun geht's auch um die staatliche Sendeanstalt RAI, die das Festival ausrichtet, berichtet Matthias Rüb in der FAZ: "Recherchen der Satire- und Investigativsendung 'Striscia la notizia' des privaten Fernsehsenders Mediaset (aus dem Hause Berlusconi) haben ergeben, dass die RAI gut 1.100 Mitarbeiter samt Angehörigen und Freunden zum Schlagerfestival in die Stadt an der ligurischen Blumenriviera geschickt hat, unter ihnen 80 Redakteure und Journalisten."
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