9punkt - Die Debattenrundschau

Sehnsucht nach den alten, komfortablen Zeiten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.02.2023. Habermas' Forderung, im Ukrainekrieg zu verhandeln, ruft immer mehr Kritiker auf den Plan: Friedensverhandlungen sind nicht die Voraussetzungen für die Lösung des Konflikts, sondern ihr Endpunkt, erinnert Armin Nassehi auf Zeit online. Die Europäer müssen endlich eine Schlacht gegen die eigene Nostalgie führen, fordert der belarusische Politiker Pawel Sljunkin im Tagesspiegel. Auf Zeit online gratuliert George Packer dem russischen Präsidenten: Er habe ganz allein den Niedergang der USA in der Weltpolitik umgekehrt. Im Tagesspiegel erinnert der Historiker Rüdiger Hachtmann an die Märzrevolution 1848.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.02.2023 finden Sie hier

Europa

Schwarzers und Wagenknechts "Manifest für Frieden" und Habermas' "Plädoyer für Verhandlungen" rufen auch heute noch starke Gegenreaktionen hervor:

Eine Denkschwäche attestiert etwa Armin Nassehi den Unterzeichnern des Manifests auf ZeitOnline: Es gibt eben nicht nur den simplen Gegensatz Waffenlieferungen statt Verhandlungen, schreibt er. Auch Habermas sitze mindestens einem Irrtum auf, wenn er eine "Suche nach erträglichen Kompromissen" fordert: "Selbst die Sentenz von der für Russland 'gesichtswahrenden' Lösung ist noch imprägniert von dieser unrealistischen Idee - zumindest auf dem Feld des Krieges und der internationalen Beziehungen. Eine Gesichtswahrung Russlands kann kein anzustrebendes Ziel sein, weil es eine Symmetrie suggeriert, die durch den einseitigen Angriff Russlands und durch die brutale Kriegsführung unheilbar verloren scheint. Eine Kriegsführung, von der Putin in seiner heutigen Rede zur Nation versprach, sie 'systematisch' fortzusetzen. (…) Friedensverhandlungen sind nicht die Voraussetzungen für die Lösung des Konflikts, sondern ihr Endpunkt. Solange Russland, wie Verhandlungsangebote und Kontaktaufnahmen durchaus vermitteln, die Spielräume einengt und offensichtlich kompromisslos kämpft, auch mit einem zivilisatorisch befremdlichen interesselosen Umgang mit eigenen Verlusten, müssen die Ukraine und der Westen die Optionen erhöhen - dazu gehören nicht nur, aber derzeit in erster Linie militärische."

"Wer Putin nicht Einhalt gebietet, ermuntert ihn, seine völkerrechtswidrigen imperialistischen Fantasien weiterzutreiben. Er wird nicht von allein stoppen. In der Republik Moldau sehen wir bereits weitere Destabilisierungsversuche durch Russland", warnen etwa die beiden ehemaligen Präses der Synode der EKD Katrin Göring-Eckhardt (Grüne) und Irmgard Schwaetzer in der Welt in einem Appell für weitere Waffenlieferungen: "Friedensethik muss sich als glaubwürdig in der Realität bewähren. Pazifismus gehört zweifelsohne zum Christentum, er prägt uns als einzelne Menschen. Aber gemäß der Unterscheidung von Amt und Person ist Pazifismus für staatliches Handeln nicht die einzig mögliche oder legitime Antwort auf eine reale Bedrohung. Auch in der Präambel unseres Grundgesetzes wird uns aufgegeben, in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. Die Ukraine hat jedes Recht, sich zu verteidigen. Dabei schützt sie auch unsere Freiheit und unsere europäische Sicherheit. Ohne Waffenlieferungen wäre ihr dieses Recht zur Selbstverteidigung verwehrt. Es würde die Ukraine und das ukrainische Volk heute nicht mehr geben."

Auch Jagoda Marinić kann in der taz den Aufruf zu Verhandlungen nicht mehr hören, solange er die Fakten ignoriert: "Viele, die jetzt für einen Verhandlungsfrieden argumentieren, klammern aus, wie vieles von dem, was sie heute als Verhandlungsoption präsentieren, Russland bereits 2014 zugesichert und der Ukraine abgesprochen wurde. Welches Interesse sollte Russland haben, sich nach einem Jahr Kriegsführung mit dem Status quo von vor Kriegsbeginn zufriedenzugeben? Wer also fordert, man müsse jetzt mit Russland verhandeln, sollte auch erklären, ob er Russland noch mehr zugestehen möchte."

"Scharfe wirtschaftliche Sanktionspakete, Abkehr von russischer Energie, massenhafte Abwanderung westlicher Unternehmen aus Russland, Revision der bilateralen Abkommen mit Moskau, Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung für die Ukraine - all dies und noch viel mehr hätte schon vor neun Jahren passieren müssen", ärgert sich derweil der ehemalige belarussische Diplomat Pawel Sljunkin, der im Tagesspiegel ebenfalls nachdrücklich Unterstützung für die Ukraine fordert: "Es gibt erst dann eine Chance auf gerechtere Verhandlungen, wenn beide Seiten wenigstens annährend die gleichen Bedingungen haben. Wenn Russland die eroberten Gebiete zurückgegeben und seine Truppen von dort abgezogen hat. Wenn ukrainisches Gebiet nicht mehr beschossen wird und die von Russland entführten Kinder zu ihren Eltern zurückkehren. (...) Während die Ukraine mit der Waffe in der Hand verzweifelt um ihr Existenzrecht kämpft, geht es manchen europäischen Politikern darum, eine andere Schlacht zu gewinnen - die Schlacht gegen die eigene Nostalgie, gegen die Sehnsucht nach den alten, komfortablen Zeiten."
 
Im FR-Gespräch ist sich auch BND-Chef Bruno Kahl sicher, dass Putin weitere europäische Staaten angreifen wird: "Das deckt sich sogar teilweise mit den Ankündigungen russischer Akteure, die das ganz klar selber sagen. Es geht in dieser Auseinandersetzung nicht nur um die Ukraine, sondern darum, dass Putin sein Herrschaftsmodell durchsetzen will. Dazu gehört ein großer Einflussbereich um Russland herum. Davon ist die Ukraine nur ein Teil. Letztendlich wehrt er sich dagegen, dass demokratische, rechtsstaatliche Verhältnisse so nah an die russische Grenze heranrücken, dass sie eventuell auch für seine eigenen Landsleute attraktiv werden könnten."

Für Putin ist das Feindbild des Westens eine "Art Grundversicherung", kommentiert Frank Nienhuysen in der SZ: "Sie hilft ihm, mit Leichtigkeit all das zu begründen, was andernfalls für ihn schwierig zu vermitteln wäre: dass auch nach einem Jahr in Kiew immer noch Wolodimir Selenskij fest im Amt sitzt, dass Russland kaum militärische Erfolge in der Ukraine vorweisen kann, dass die Nato-Erweiterung nach langer Pause durch ihn wieder in Gang gebracht wurde, dass die heimische Wirtschaft sich loyal den Interessen des Militärs unterordnen muss. Und dass die Menschen in Russland kaum noch eine Möglichkeit haben, andere Meinungen als die des Kremls zu äußern. Solange der Krieg andauert, so lange entzieht sich die Führung in Moskau der Notwendigkeit, eine unerfreuliche Bilanz ziehen zu müssen."

Im Interview mit Zeit online ist der amerikanische Journalist und Schriftsteller George Packer immer noch sauer darüber, wie die USA sich aus Afghanistan zurückgezogen haben: ohne Absprache mit den Aliierten, ohne Konzept für die afghanischen Helfer. So gesehen ist er Putin fast dankbar für dessen Überfall auf die Ukraine: "Nach 20 Jahren des Versagens in Afghanistan und im Irak ist es geradezu schockierend zu sehen, dass Washington immer noch weiß, wie man eine Allianz zusammenhält. Biden und seine Berater handeln kompetent. Und es macht mich schon stolz, wenn Ukrainer sich für die amerikanische Hilfe bedanken. Es gibt einem das Gefühl, dass wir doch etwas in der Welt bewirken können, ohne dass es im Debakel endet. Putins Entscheidung hat ironischerweise den Niedergang der amerikanischen Macht in der Weltpolitik umgekehrt." Und die Amerikaner könnten jetzt außerdem noch von den Ukrainern lernen: "Die ukrainische Gesellschaft ist mobilisiert, aber von unten her. Und der Patriotismus, den ich da erfahren habe, richtet sich auch gegen die korrupte, autoritäre Tradition des eigenen Landes. Das hat mich mit einiger Wehmut erfüllt: Die Werte, für die die Ukraine eintritt, verfallen in Amerika. Dort versucht man gegen extreme Widerstände eine Demokratie aufbauen, während wir in den USA ihrer Zerstörung zuschauen."
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Medien

In einem offenen Brief beschuldigen tausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der New York Times die Zeitung der "tendenziösen Berichterstattung" bei Transgender-Themen, berichtet Birgit Schmid in der NZZ: "Der offene Brief beanstandet ein paar Artikel in der Times, die den starken Anstieg von Transdiagnosen und Behandlungen schon von Kindern kritisch hinterfragen. Dazu gehört ein Beitrag, in dem eine junge Frau berichtet, ihre Transition bereut und rückgängig gemacht zu haben. Auch die Sprache wird in einem Times-Artikel kritisiert. So stört man sich am Wort 'Patient' für ein Kind, das sich eine geschlechtsangleichende Behandlung wünschte: 'Patient' verunglimpfe die Transidentität als Krankheit, die man fürchten müsse. Richtig gelesen. Was im Brief nur nebenbei erwähnt wird: In den vergangenen Jahren hat sich die New York Times in zahlreichen Texten und Meinungsbeiträgen für die Rechte von Transmenschen ausgesprochen, und dies so einfühlsam und ausführlich, dass man manchmal den Eindruck erhielt, hier würde lobbyiert. Doch den Briefunterzeichnern wäre lieber, wenn nur noch positiv über Transthemen berichtet würde."
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Geschichte

Zur Zeit der Märzrevolution 1848 war Berlin ein Brennpunkt, die Anzahl der Menschen hatte sich in knapp dreißig Jahren mehr als verdoppelt, erinnert im Tagesspiegel der Historiker Rüdiger Hachtmann. Aber im Revolutionsjahr begann auch Berlins Entwicklung hin zu einer europäischen Metropole, schreibt er: "Mit der Vertreibung des französischen 'Bürgerkönigs' Louis Philippe und der Ausrufung der Republik am 24. Februar 1848 wurde den Zeitgenossen bewusst, dass nun die Revolution einen Siegeszug durch ganz Europa angetreten hatte. Nachdem am 13. März die Wiener den lange Zeit allmächtigen Fürsten Metternich in die Flucht getrieben hatten, war mit dem Sieg der Berliner Bevölkerung über das preußische Militär am 18./19. März klar: Auf dem ganzen europäischen Kontinent hatten (mit Ausnahme des zaristischen Russlands) die alten Obrigkeitsstaaten abgedankt - allerdings nur vorübergehend, wie sich zeigen sollte."
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