Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

April 2017

Als quasi-kommunistische Endzeit-Kommune

29.04.2017. Die SZ fühlt den Pistolenlauf im Mund, wenn Oliver Frljić im Münchner Marstall sehr unhipp eine Revolution anzettelt. Der Freitag erlebt mit Jim Jarmuschs Film "Gimme Danger" Iggy Pops hedonistische Selbstdemontage. Im Filmdienst erklärt Regisseurin Angela Schanelec: "Ich mache meine Filme, um nicht sprechen zu müssen." Und auch die Welt übt jetzt mit den Schülern der Becher-Klasse den frontalen Blick.

Überschuss an Schönheit

28.04.2017. Die Welt besucht den neuen Konzertsaal im Dresdner Kulturpalast, die NZZ besichtigt das Konzerthaus La Seine Musicale in Boulogne-Billancourt. Nach wie vor hin und weg sind die Filmkritiker von Angela Schanelecs "Der traumhafte Weg". Le Monde fragt sich, was Netflix-Produktionen auf einem Filmfestival wie Cannes zu suchen haben. Computerspielemusik wird immer komplexer, berichtet die SZ. Außerdem schreibt sie einen Nachruf auf Joe Ouakam, Afrikas ersten modernen Künstler.

Zornig, euphorisch, kraftvoll

27.04.2017. FAZ und FR lernen in den monumentalen Fotografien der Becher-Schüler in Frankfurt die Möglichkeiten der Kunst kennen. Die taz lässt sich von dem Schriftsteller und "Wrong Elements"-Regisseur Jonathan Littell die Psyche von Tätern erklären. Das art-magazin wird von der Starpower auf der Art Cologne erschlagen. Und die Feuilletons vermissen die Zeiten, als Alben der Gorillaz noch relevant waren.

Theatralisch, aber nicht laut

26.04.2017. ZeitOnline spricht mit Jonathan Littell über seine Doku "Wrong Elements", die sich mit Ugandas Kindersoldaten befasst. Die SZ lernt mit Pierre Klossowski, an den profanen Eros zu glauben. Die NZZ feiert den Jazzpianisten Jean-Paul Brodbeck, der soulige Hitze in die deutsche Innigkeit brachte.

Nicht auszuhalten, eine solche unmenschliche Perfektion

25.04.2017. Die NZZ fragt, wie viel Sozialkompetenz der Kunstbetrieb braucht. Die taz huldigt den grellbunten Wandmalerein, mit denen Klaus Paier einst das Aachener Bürgertum entsetzte. SpOn erkennt in Angela Schanelecs neuem Film "Der traumhafte Weg", dass auch Bilder Lust aufeinander haben können. Und die SZ verneigt sich vor Uderzo, der sie die Egalité zwischen Gallier, Römer, Wildschwein und Leser lehrte.

Stabil am Abgrund

24.04.2017. Die Welt feiert den Lübecker Weg als großen Durchbruch in der Stadtplanung. Der Standard plädiert für eine Architektur des Sorgetragens. Der Nachtkritik offenbart sich mit "Einstein on the Beach" in Dortmund die Magie der Wiederholung. Die SZ lauscht den Hirtenliedern des Ensemble Graindelavoix. In der NZZ trauert Felix Philipp Ingold um den guten alten Literaturkanon, der im saisonalen Geschäft ausgedient zu haben scheint.

Ich, Du, Politics, Language

22.04.2017. Die NZZ sucht ihr Drehbuch in Hans Op de Beecks Wolfsburger Rauminszenierungen. Die SZ reist durch die Konzertsäle Europas auf der Suche nach dem besten Klang. Keine Gummibäume mehr und keine toten Fische, verspricht der neue Leiter der Wiener Festwochen Tomas Zierhofer-Kin im Standard. Ilma Rakusa reist für die FAZ auf Rilkes Spuren durch Russland.

Tanz des Ungenügens

21.04.2017. Beim Internationalen Filmfestival in Istanbul offenbart sich die Spaltung der türkischen Filmszene, berichtet die SZ. Philippe de Chauverons Abschiebungskomödie "Alles wird gut" ruft bei ZeitOnline Unbehagen hervor. Die taz wohnt bei der Berliner Ausstellung von Stefan Panhans und Andrea Winkler Formen des Unvermögens im Verhalten menschengesteuerter Avatare bei. Und Stefanie Sargnagel bereitet den Kritikern mit ihrem Stück "Ja, Eh!" einen launigen Beislabend im Wiener Rabenhof.

Ausgedachte Details

20.04.2017. Schon Theodor Fontane war ein Produzent von Fake News - im Auftrag der Neuen Medien des 19. Jahrhunderts, informiert die FAZ.  Kommunikation wird designtechnisch immer mehr zum reinen Dialog, ohne störende Materie, notiert die NZZ. Die Filmkritiker hätten sich John Lee Hancocks Biopic "The Founder" noch etwas kapitalismuskritischer gewünscht.

Osmotische Nähe zum eigenen Soma

19.04.2017. Intendant Oliver Reese fordert in der FR, Frankfurts marode Bühnen nicht nur zu sanieren, sondern komplett neu zu bauen. Die SZ lässt sich vom Ensemble Modern ins musikalisch-extravagante Niemandsland des Harry Partch entführen. Die Berliner Zeitung amüsiert sich mit der unpathetischen Kunst des Juergen Teller. Die NZZ liest die Klassiker der dystopischen Literatur.  Und im CulturMag rekonstruiert Krimi-Autor Frank Göhre das Italien von 1975, als Pier Paolo Pasolini ermordet wurde.

Ein ganzes Meer von Händen

18.04.2017. Der Guardian berichtet verstört von Damien Hirsts Bombast-Schau in Venedig, die Schönheit und Ungeheuerlichket zelebriert - in Gold, Bronze und Jade. Die NZZ freut sich, dass Europas Architekten wieder mit den guten alten Backsteinen bauen. Die Welt erinnert daran, dass der Klassizismus auch etwas mit schwulem Begehren zu tun hat. In der Welt huldigt die Berliner Autorin Annett Gröschner auch dem FC Union, den akute Aufstiegsgefahr erfasst.

100 Euro, das scheint erst mal sehr verlockend

15.04.2017. Die SZ feiert Kendrick Lamars "Damn." als bestmögliches Rap-Album zur schlimmstmöglichen Zeit. Außerdem macht sie sich Sorgen, dass sich Yasuhisa Toyotas radikale Akustik durchsetzt. Die taz besichtigt die Kleinstwohnungen der Berliner Tinyhouse University. Publikum und Kritik feiern Nestroys Verwechslungskomödie "Liebesgeschichten und Heiratssachen" am Wiener Burgtheater. Und die NZZ wägt bei einer Berner Doppelausstellung Kunst gegen Kitsch ab.

Männlichkeit im Plural

13.04.2017. Die Filmkritiker trauern um den Meister des Lichts, den großen Kameramann Michael Ballhaus. Der Freitag analysiert die metrosexuelle Wende im Literaturbetrieb. Auf Zeit online bekennt F.W. Bernstein seine Sympathie für Gottfried Benn. Selbst schuld, meint die NZZ in Richtung der Salzburger Osterfestspiele, wo die Besucher dutzendweise aus Salvatore Sciarrinos "Lohengrin" marschierten. Der Tagesspiegel schreibt die Geschichte des Requiems.

Ein jeder seine Haue

12.04.2017. Der Tagesspiegel meint: Die Prügel, die Klaus Wowereit jetzt verteilt, hat er selbst verdient. Der Standard huldigt im Wiener Museumsquartier dem politischen Shootingstar Norbert Nadler. Die FAZ lauscht Charlotte Moormans Friedenssonate auf dem Rücken von Nam June Park. Die Welt tanzt an der Schaubühne mit einer Handvoll Nonnen eine satanische Nummernrevue.

Totems, um die verfeindete Stämme kämpfen

11.04.2017. In der Sache Chris Dercon meldet sich jetzt auf einmal Klaus Wowereit zu Wort: Er finder seine Berufung nicht gut. Außerdem stellt die FAZ fest, dass in der Kunstwelt wieder erbittert gestritten wird. In der NZZ erklärt die Schriftstellerin Imbolo Mbue, warum afrikanische Einwanderer in den USA kaum etwas mit schwarzen Amerikanern zu tun haben. Der Standard erlernt in der Wiener Secession die Knotentheorie des Jean-Luc Moulène. Und in der taz erklärt der Hamburger Kunsthallen-Direktor Christoph Vogtherr die Schwierigkeiten multikultureller Museumpädgogik.

Schwesterlein werden gekocht

10.04.2017. Die Eröffnung der Osterfestspiele in Salzburg und Baden-Baden steht die FAZ nur mit einem kräftigen Schluck Retro-Zaubertrank durch. NZZ und Nachtkritik feiern in Zürich mit Herbert Fritschs "Grimmigen Märchen" der schwarzen Bürgerseele eine Messe. Die taz hadert mit der unanstößigen Eleganz des südafrikanischen Künstlers Kemang Wa Lehulere. Die Welt erliegt dem Größenwahn von Father John Misty.

Konzeptkunst, sagt Frau Minujín

08.04.2017. Heute eröffnet die Documenta in Athen, statt in Kassel, und zahlt griechische Schulden in Oliven-Valuta zurück: Die Welt winkt dankend ab. Die Zeit bewundert immerhin den Mut zur Selbstentwurzelung. In der NZZ erklärt Herbert Fritsch, was er an der Bibel liebt: sie ist so schön grausam und pervers. Hexameter machen den Krieg auch nicht schöner, lernt Brigitte Kronauer in der FAZ. Im Zeit-Blog 10 nach 8 feiert Annett Gröschner die Ästhetik des doppelten Blicks der Sibylle.

Weit weg vom Nutzlicht

07.04.2017. Der Übersetzer Frank Heibert seziert für Tell detailliert und kenntnisreich Stephan Kleiners Übertragung von Hanya Yanagiharas Roman "Ein wenig Leben". Bei der Möbelmesse in Mailand staunt die SZ, wie die LED-Technik die Fantasie der Lampendesigner beflügelt. Sehr angetan sind die Kritiker von Claudio Caligaris drittem und letztem Spielfilm "Tu nichts Böses". Die Zeit stöhnt über reaktionäre Regression und Weltmüdigkeit in der deutschen Rockmusik.

Die Moderne ist unser Späti

06.04.2017. Die Feuilletons bejubeln die asoziale Energie in Jakob Lass' "Tiger Girl". Im SZ-Interview beklagt der Regisseur die hiesige FilmförderungFAZ und Tagesspiegel finden in Paris das Primitive in Picassos Bildern. In der NZZ erklärt Raoul Schrott die Analogien von Poesie und Physik. Und in der Zeit wirft Maxim Biller seinen Kritikern Antisemitismus vor.

Hie und da ein Möbelwurf

05.04.2017. In tunesischen Gefängnissen wird jetzt gelesen wie nie zuvor, erzählt die NZZ: Bei Gründung eines Lesezirkels gibt es Straferlass. Die taz stellt die präzis-unscharfe Fotografie der Künstlerin Shirana Shahbazi vor. Die Welt plädiert auch im urbanen Quartier für eine strikte Trennung von Öffentlichem und Privatem. Die FAZ feiert den Kinderbuchautor und Wunderwirker Wolf Erlbruch.

Ein bisschen Lebenslust

04.04.2017. Der Guardian jubelt über die große Schau der Tate Britain zu hundert Jahren schwuler Kunst. In der taz erklärt Feridun Zaimoglu, warum ihn Luther mehr interessiert als der knallverrückte Thomas Müntzer. Die NZZ lässt sich von der magischen Stimme des Juan Diego Flórez betören. Die SZ feiert Ibrahim Amirs böse Migrationskomödie "Homohalal" und wünscht sich mehr politisch unkorrektes Theater. Und der Tagesspiegel freut sich, dass Sam Raimis Horrorklassiker "Tanz der Teufel" endlich freigegeben ist.

Knarzer, Nöhler, Kratzer

03.04.2017. In der Nachtkritik fordert der Theaterwissenchaftler Thomas Schmidt eine Entmachtung der Intendanten. Die FAS schreibt in der Diskussion um kulturelle Aneignung bei der Whitney-Biennale: "Es gibt keine Zensur in einer Demokratie, auch keine aus verletzten Gefühlen." Die SZ blickt mit Bangen einem neuen Monumentalismus in der Kunst entgegen. Die FAZ hört bei Wolfgang Rihms "Requiem-Storphen" die Flüsse erstarren. Und während Bob-Dylan-Fans in den Feuilleton die Entgegennanhme des Nobelpreises bejubeln, seufzt die Welt: "Kein Sänger hat so pubertäre Anhänger wie er."

Im Dienst des Fortschritts

01.04.2017. Teletubbies auf LSD? Tibetische Totenbegleitung? An den Münchner Kammerspielen inszeniert  Susanne Kennedy sehr frei Jeffrey Eugenides' "Selbstmordschwestern" und lässt die Kritiker recht konsterniert, fasziniert, befremdet und unberührt zurück. Die Welt lernt von der russischen Revolutionskunst in der Royal Academy, dass Fliegen aus reiner Menschenkraft möglich sein müsste. Die FAZ sorgt sich um den Fortbestand des Manesse-Verlags bei Random House. ZeitOnline wünscht sich mehr Licht in Johns Zorns Musik.