Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

September 2018

Die zitternden Nuancen historischer Erfahrung

29.09.2018. Der Tagesspiegel meditiert anlässlich des Europäischen Monats der Fotografie über Zeit und Licht. Die SZ liegt in Paris Annie Ernaux zu Füßen. In seinem Kracauer-Stipendiumsblog feiert Lukas Foerster Claudia Weills Indie-New-York-Film "Girlfriends". Nachtkritik und SZ begutachten am Münchner Residenztheater die Revolution.

Schwermütiger Spaß

28.09.2018. Die Filmkritiker erliegen der stillen, nachhaltigen Wucht von Eva Trobischs Filmdebüt "Alles ist gut", das die Geschichte nach einer Vergewaltigung erzählt. Die SZ befällt ein leichter Grusel beim Besuch der neuen Frankfurter Altstadt, wo jeder Quadratmeter 5000 bis 7000 Euro wert ist. Die FAZ amüsiert sich bei einer Lesung mit 14 weiteren Besuchern über das literarischen Gaunertum von Arno Schmidt und Hans Wollschläger. Die SZ erleidet einen Zuckerschock mit Nile Rodgers Comeback-Album.

In kühner Untersicht

27.09.2018. Die Presse berichtet von einer Düsseldorfer Weltverschwörung gegen Künstlerinnen. Die Welt bummelt mit Christoph Mäckler durch die Frankfurter Neu-Altstadt. Spon kommt mit Depressionen von einem Branchentreff der Kinobetreiber. Die SZ dokumentiert Volker Brauns kapitalismuskritische Kamenzer Rede.

Eine Ich-Ich-Ich-Welt

26.09.2018. Im Guardian fragt Kunstkritiker Jonathan Jones seine deutsche Kollegen, was sie bitte an der kaltherzigen Pornografie des Martin Eder so toll finden. Die FAZ feiert mit Vasarely die Rückkehr der Siebzigerjahre-Kunst in die Museen. In der SZ erzählt Terry Gilliam von 25 Jahren katastrophaler Produktionsgeschichte seines Cervantes-Epos "The Man Who Killed Don Quixote". Auf ZeitOnline ärgert er sich über die  Spießigkeit der Öffentlichkeit. Die Jungle World huldigt dem Krimi-Schriftsteller Cornell Woolrich.

Fortschreitender Kontrollverlust

25.09.2018. Der Guardian steht in der Ozeanien-Ausstellung der Royal Academy vor der Göttin Dilukai und erblickt den Ursprung moderner Kunst. Die NZZ erlebt in Barrie Koskys Züricher Schreker-Inszenierung, wie die geschundene Kreatur zurückbeißt. In der FAZ erkennt Wilhelm Genazino: Werke sagen nicht zuwenig, meist sagen Worte zuviel. Als Pizza mit ein bisschen viel drauf genießt Republik.ch  Terry Gilliams Cervantes-Verfilmung ""The Man Who Killed Don Quixote".

Meinst Du Kant oder Cunt?

24.09.2018. Nachtkritik und NZZ geraten in Zürich mit Chris Kraus ins feministisch-crossreferentielle Delirium.  Die SZ reiht sich beim Steirischen Herbst in die Volksfronten ein, während Yoshinori Niwa den Grazern kostbare Memorabilien abluchst. Außerdem steigt sie noch einmal mit Prince in zärtlichste Falsetts auf. Die Jungle World würdigt die obskuren Expertisen, die sich in den Kellern des kanadischen Edmonton entwickeln. Wolf Wondratschek wünscht sich mehr Leser mit Stift in der Hand.

Ich bin Mensch Igor

22.09.2018. Die Absage des Dau-Projekts in Berlin versetzt die Feuilletons in Aufruhr: Innerdeutschen Postkolonialismus wirft in der FAZ Intendant Thomas Oberender den Kritikern vor. Wer Diktatur erleben will, soll nach Hohenschönhausen fahren, meint Lea Rosh im Dlf-Kultur. In der taz spricht Igor Levit darüber, wie ihn aktuelle deutsche Debatten plötzlich zum Migranten machen. Ebenfalls in der taz spricht die Schriftstellerin Dima Wannous über Frauen in Syrien. Der Standard ärgert sich über Selbstgefälligkeit im Theaterbetrieb.

Die Angst vor dem eigenen Ich

21.09.2018. In der taz vermisst der Popjournalist Matthew Collin die subversiven Wurzeln von House und Rave. Die Welt verteidigt die Rekonstruktionsarchitektur. In der Berliner Zeitung warnt die Regisseurin Karen Breece: Obdachlosigkeit droht auch der Mittelschicht. Die NZZ sucht nach Gründen für das Scheitern des Stroemfeld Verlags. Die taz würdigt die verstorbene Grande Dame der rumänischen Konzeptkunst, die Künstlerin Geta Brătescu.

Lauter Setzungen, lauter Ausrufezeichen

20.09.2018. Zwei Vibrafone. Vier Trompeten. Zwei mal vier Hörner: Dem Tagesspiegel dröhnen noch die Ohren von 60 verschiedenen Lautstärkegraden bei der Aufführung von Stockhausens "Inori" in Berlin. Die taz sieht mit Aneesh Chagantys Thriller "Searching" die Zukunft des Films: Screen Movies. Die NZZ sucht den Surrealismus in der Schweiz. Er baut den Wandel, verkündet Renzo Piano in der Zeit.

Aus dem Kerker des kollektiven Menschen

19.09.2018. Die Welt freut sich über die Wiederentdeckung der schwermütigen Malerin Lotte Laserstein. In der NZZ sieht David Claerbout im Bild die Macht des Proletariats. In der FR denkt Olga Martynova darüber nach, was die Literatur dem Individuum schuldet.  Die Zeit feiert die Jazzcombo Shake Stew, die auch da Melodien spielt, wo andere Bässe schlagen. FAZ, SZ und Berliner Zeitung verdammen Erik Poppes Film "Utøya 22. Juli", der aus dem Massenmord des Anders Breivik ein frivoles Spektakel macht.

Wohlgeruch statt Raubtieratem

18.09.2018. In der SZ spaziert Horst Bosetzky ein letztes Mal durch die Berliner Bleistreustraße. Der Standard lernt im Centre Pompidou von Franz West das heiter-produktive Nichtstun. Die NZZ plädiert gegen allzu viel Lockerheit und für ein bisschen mehr Stilbewusstsein. In der Berliner Zeitung erklärt Peter Eötvös Stockhausen zu Besten, was der Musik im 20. Jahrhundert passieren konnte. Ebenda ruft Paul Weller den von der Politik Enttäuschten zu: Packt selber an!

Vor dem Häppchenbuffet unserer Bildschirme

17.09.2018. Nach einem Bad in lauwarmem Humanismus macht die SZ auf dem Literaturfestival echte Entdeckungen: Carmen Boullosa und Patrick Chamoiseau. Im Standard erklärt Jennifer Egan ihre neue Lust am Epischen. SZ und Nachtkritik winken sich in Kay Voges "Parallelwelten" von den Bühnen in Dortmund und Berlin zu. Die NZZ zieht die Lederschuhe aus, streift die Senakers über und baut Muskelmasse auf. Critic gibt sich mit Dorothy Arzners Filmen der Macht des Gefühls hin.

Kurz gesagt: Eleganz

15.09.2018. In der Berliner Zeitung vermisst Stephan Wackwitz schmerzlich etwas Lässigkeit und Pragmatimus in deutschen Diskursen. In der FAZ sieht Hans Christoph Buch die Geier über den Parolen des sandinistischen Nicaragua kreisen. NZZ und Nachtkritik sehen in Zürich Barbara Freys klugen, leicht unterkühlten "Hamlet". Die taz übersteht mit Pierre-Laurent Aimard verletzungsfrei die gehämmerten Cluster in Stockhausens Klavierstück 9.

Mein Gehen ist mein Tanzen

14.09.2018. Die Nachtkritik berichtet, dass Tänzerinnen nun auch dem Choreografen Jan Fabre sexuelle Übergriffe vorwerfen. Es galt die Devise: Kein Sex, kein Solo.  Euphorisiert von Anne Teresa de Keersmaekers Choreografie zu Bachs Brandenburgischen Konzerten blicken Tagesspiegel und Berliner Zeitung sogar mit Nachsicht auf Chris Dercon. In der SZ huldigt Kat Kaufmann dem Jazz-Giganten Wayne Shorter, von dem sie träumendes Fliegen lernte. Die NZZ hört wieder Blues. Und die FAZ freut sich, dass Frankfurt nach Auto Center und Eros Center jetzt auch ein Fassbinder Center bekommt.

Was ist ein Ton?

13.09.2018. SZ und Tagesspiegel erleben mit Alice Rohrwachers "Glücklich wie Lazzaro" ein italienisches Kinowunder. Die SZ durfte einen Schritt in die Retrodiktatur des Dau-Projekts setzten. Die Welt fragt: Worin steckt mehr DDR - im Wiederaufbau der Mauer oder im Verbot eines Kunstprojekts? Die taz bemerkt schockiert, dass sich selbst die All-Time-Favourites ihrer Playlist der BDS-Kampagne gegen den European Song Contest in Israel angeschlossen haben. Und der Guardian läuft noch einmal im Begräbniszug für Prinzessin Diana mit.

Wetterfest, aber auch mitfühlend

12.09.2018. Die SZ erlebt in Wolfgang Fischers Filmdrama "Styx" die große Fallhöhe der souveränen Westlerin. Georg Seeßlen erkundet in einem Essay auf epd Film den moralischen Film. Nach Bekanntgabe der Shortlist für den Deutschen Buchpreis imaginiert der Tagesspiegel schon die Dankesrede eines geschmeichelten Maxim Biller. Und die FAZ unterhält sich mit dem Direktor der Kunstsammlungen Chemnitz, Frédéric Bußmann, über Ängste und Phantome in der Stadt.

Trivial und feminin

11.09.2018. The Nation stellt zwei führende Figuren des Pariser Impressionismus vor: Mary Cassatt und Berthe Morisot. Der Tagesspiegel bringt einen Offenen Brief gegen Ilya Khrzhanovskys Mauer-Projekt. Auf Dazed kann Blood Orange gar nicht genug kulturelle Aneignung empfehlen. Die FAZ freut sich, dass das Berliner Staatsballett endlich internationalen Rang erreicht. Und der taz zeigt die Insolvenz des Stroemfeld Verlags, dass Verlage mehr öffentliche Unterstützung brauchen.

Sie denkt so wütig

10.09.2018. Zum Abschluss der Filmfestspiele von Venedig wurde der Goldene Löwen an Alfonso Cuaróns "Roma" vergeben. Die FR feiert die Qualität des Festivals, der Standard fürchtet jedoch nach diesem Erfolg für Netflix eine Neukalibrierung der Branche. Nachtkritik und SZ feiern zum Saisonauftakt am Deutschen Theater in Berlin mit René Pollesch eine tolle Pyjama-Party. Die SZ erlebt in Peking, wie Theater aufrütteln kann. Und die Jungle World berichtet,  wie sich Techno-Clubs in Georgien vor homophoben Übergriffen schützen müssen.

Das Wirken Ihrer Redaktion

08.09.2018. Die NZZ schnurrt vor Entzücken, wenn ihr Nagasawa Rosetsu mit einem Prankenhieb in den Nacken die Augen für japanische Bildwelten öffnet. Die SZ bewundert, wie György Kurtag aus Becketts "Endspiel" eine lichte und versonnene Oper machen konnte. Die Welt hält die neue dystopischen Romane von Frauen nicht mehr für feministisch, sondern für autoaggressiv. Auf ZeitOnline attackiert der britische Regisseur Peter Kosminsky Knebelverträge und der imperialistischen Streamingdienste.

Die Unmittelbarkeit ihres Rauschens

07.09.2018. Eva Menasse eröffnet das Internationale Literaturfestival Berlin mit einem Rundumschlag gegen den digitalen Zeitgeist. FAZ und SZ wagen leisen Widerspruch. Die taz würdigt die Minimal-Music-Komponistin Catherine Christer Hennix. Zeit online hört Anna Calvis gesungenen Wunsch nach abwechslungsreichem Geschlechtsverkehr. Die Filmkritiker streiten sich über Jennifer Kents Vergewaltigungsdrama "The Nightingale" in Venedig. Die FAZ möchte nicht mehr nackte Männer in der Kunst sehen, sondern mehr Malerinnen.

Die Bürde des Werdens

06.09.2018. Im Tagesspiegel kann Florian Henckel von Donnersmarck auch nicht erklären, warum er in "Werk ohne Autor" Gaskammerszenen mit Bildern von der Bombardierung Dresdens gegengeschnitten hat. Der Standard versucht mit Hilfe virtueller Realität sein Mitgefühlspotenzial zu steigern. Lasst Kinder lesen wie sie Lust haben, ermuntert in der FAZ die Kinderbuchautorin Frida Nilsson. Im Interview mit der neuen musikzeitung verspricht der neue Intendant der Semperoper Peter Theiler den Sachsen innovatives, verantwortungsvolles und zeitbezogenes Theater.

Postkarten vom Großen Kino

05.09.2018. Hyperallergic feiert Jugoslawiens Architektur als in Beton gegossene Utopie. Mit Entsetzen quittiert die FAZ Florian Henckel von Donnersmarcks in Venedig gezeigtes Gerhard-Richter-Biopic "Werk ohne Autor", die SZ fand ihn dagegen schön. Die taz erlebte beim #WirSindMehr-Konzert die Versöhnung verfeindeter Punk-Lager. Der Welt hätte das Event noch besser gefallen, wenn auch ein paar Frauen und migrantische Musiker auf der Bühne gestanden hätten. Und in der Spex klagt Schorsch Kamerun über eine neue Eskalation der Gentrifizierung: Jetzt wird in der Dortmunder Nordstadt sogar das billige Saufen "Trend"!

Bis die Quinte ihr Machtwort spricht

04.09.2018. Die SZ blickt geschockt nach Rio de Janeiro, wo ein Brand das bedeutendste ethnologische Museum Lateinamerikas zerstörte. Kleinlich nationalistisch nennt die NZZ Forderungen, die Kunst wieder nach kultureller Zugehörigkeit zu sortieren. Die FAZ erkennt mit Balthus die Tragödie des Anti-Avantgardisten. Die taz beobachtet, wie die Mode die Kunst vereinnahmt. Die FR erkundet in Venedig eine große Filmruine.

Blutorgie mit Tuba

03.09.2018. Immersion hatte von Anfang an etwas Autoritäres, meint der Tagesspiegel, doch mit dem Berliner Mauer-Spektakel "Dau" wird sie stalinistisch. Die NZZ begeistert sich für den Genueser Pragamatismus und Renzo Pianos Entwurf einer neuen Brücke für die Stadt. Der Standard folgt den migrantischen Spuren in der deutschsprachigen Literatur. Nach  Luca Guadagninos Remake von Dario Argentos Horrorklassiker "Suspiria" kratzen sich die Kritiker in Venedig am Kopf: Ist das Blödsinn oder Camp?

Die Ränkespiele bleiben vorhersehbar

01.09.2018. Die NZZ beklagt, dass nur noch körperpolitische Musik Revolutionen entfachen kann. Außerdem erliegt sie der bedrohlich unvertrauten Erotik von Balthus. Die FAZ lässt sich beim Tanz im August von Noé Soulier ganz verzaubert die Metaphysik des Tanzens zeigen. Im DlF-Kultur und in der taz erzählen Ai Weiwei und Adrian Piper von ihren Fluchterfahrungen. Und die Filmkritiker berichten von Tag zwei in Venedig.