Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

September 2015

All diese Herzen, Brüste und Phalli

30.09.2015. In acht Bildern erkennt die NZZ den ganzen Cy Twombly. Die SZ berichtet vom Prozess gegen den russischen Künstler Pjotr Pawlenski, dem Vandalismus vorgeworfen wird. Die Welt feiert den Mix aus Entertainment und Gehirnforschung im neuen Pixarfilm "Alles steht Kopf". Die Berliner Zeitung tariert ihr inneres Ungleichgewicht mit New Order. Hellmuth Karasek ist tot - erste Reaktionen.

Diese gewisse Atmosphäre

29.09.2015. Wie Kunst gemacht und wie Kunst zerstört wird, beobachtet die Presse bei der Biennale in Moskau. In der FAZ hört der Lyriker Dirk von Petersdorff den Theodor Storm im neuen Album von Lana del Rey. Die NZZ porträtiert den vielsprachigen Dramatiker Stefano Massini als neuen Europäer. Eine Basaltbuddha passt ausgezeichnet neben eine nackte Schöne von Cezanne, lernt die Welt im von der Heydt Museum.

Deutschland schreibt sich schön

28.09.2015. München streitet über die geplante "Internationale Schlepper- und Schleusertagung" der Münchner Kammerspiele. Zeit online sucht Bücher für den Biomarkt. The Quietus liest Morrisseys Debütroman. David Böschs Münchner Inszenierung des "Prinzen von Homburg" zeigt ein Preußen, bevor es eine knallharte Staatsmacht wurde.

Kirchentag ist anders

26.09.2015. "Jedes Zitat ein Treffer", freuen sich Tagesspiegel und FR bei der Arno-Schmidt-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste. Die SZ beschreibt, wie die CIA für Käsesandwiches und Tequila Geheimdienstinformationen an Hollywood verkaufte. Die Welt denkt bei der Düsseldorfer Ausstellung "The Problem of God" über die Gemeinsamkeiten von Kunst und Religion nach. Und alle amüsieren sich prächtig mit Sibylle Bergs neuem Stück "Und dann kam Mirna" am Maxim-Gorki-Theater.

Die Entwicklung zu Unisex

25.09.2015. Die SZ besucht eine Ausstellung über Erich Kästners Zeit im "Dritten Reich". Roberto Saviano antwortet in der Repubblica auf Plagiatsvorwürfe. Die taz untersucht die Krise des Stadttheaters in Rostock. In der NZZ bescheinigt Hannelore Schlaffer der modernen weiblichen Kleidung einen Hang zur Päderastie. Zeit online bewundert eine Musikdoku über Arcade Fire.

Nur was für harte Jungs

24.09.2015. Welt und SZ umkreisen die Botticelli-Girls. Die FAZ begeistert sich für den Handwerker unter den deutschen Dramatikern, Lutz Hübner. In der Zeit erklärt Ruth Klüger: Hitler war total unnötig. Die Spex feiert Rose McGowan im feministischen Rollenspiel zwischen nacktem Alien und rotglitzernder Glamourkönigin.

Erotische Normabweichung

23.09.2015. Der New Yorker stellt The Broad vor, das neue Museum für zeitgenössische Kunst in LA. Akzeptiert die Fluidität eures Körpers, ruft Peaches uns aus der taz zu. Die Welt entdeckt durch Thomas Mann die Vorliebe Theodor Storms für junge Mädchen. In der FR warnt der syrische Autor Yassin Al Haj Saleh vor dem europäischen Zentralismus, der Adonis als Aufklärer vereinnahmen will. Die Zeit kritisiert den Kunstizismus Danh Vos.

Melancholisches Hintergrundrauschen

22.09.2015. Anish Kapoor ist wütend, dass er die antisemitischen Sprüche auf seiner Skulptur "Dirty Corner" entfernen muss. In der NZZ erklärt Martin Amis, warum er niemals mit Grabesstimme über den Holocaust schreiben würde. Der Tagesspiegel feiert das Randständige beim Musikfest Berlin. Die FAZ feiert Sidi Larbi Cherkaouis von Noam Chomsky und Alan Watts inspirierte Choreografie "Fractus V".

Kein totes Leopardenbaby

21.09.2015. Freud und Leid der Theaterkritiker war an diesem Wochenende besonders groß: Applaus für Katie Mitchells Flüchtlingsdrama nach Motiven von Herta Müller "Reisende auf einem Bein" in Hamburg, Michael Wertmüllers und Dea Lohers Oper "Weine nicht, singe" in Hamburg und  Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" in Frankfurt. Die Publikumsbeschimpfungen des Zentrums für politische Schönheit sah man dagegen als Masturbation des Grauens. Die Zeit sucht die Geister vergangener Triumphe im neuen Album von New Order.

Ich will Kunst als Poesie

19.09.2015. In der Welt erzählt Karl Ove Knausgård, wie seine Figuren plötzlich mit ihm stritten. Die FR erkennt in London die maximale Lakonik Ai Weiweis. Die Berliner Zeitung bewundert den unerhört mutigen Schauspieler Milan Peschel. Zeit online wüsste gern, warum selbst beim angeblich alternativen Lollapalooza-Festival so wenig Musikerinnen zu hören waren. In der FAZ fände es Sadiq al-Azm schlicht unaufrichtig, würde der Osnabrücker Friedenspreis an Adonis verliehen. Die Kunstkritiker trauern um Jean-Christophe Ammann.

Gleichmut, Stringenz, Serialität

18.09.2015. Die SZ wird meditativ in der Münchner Ausstellung von Hanne Darboven, die FR wird in der Frankfurter Ausstellung eher depressiv. Der Standard besucht die neue Betonbadewanne des Sprengel Museums. Tagesspiegel und taz haben überhaupt keine Lust, in Patrick Wengenroths feministischer Theatercollage "thisisitgirl" zu lachen. Der FAZ-Kritikerin zerreißt es das Herz, wenn Christian Gerhaher als Wozzeck irre lächelt. Die Jungle World besteht auf Spezialistentum in der Germanistik. Die taz empfiehlt Schorsch Kamerun: Sing lieber auf Deutsch.

Updates, Nachjustierungen, Autokorrekturen

17.09.2015. Die taz amüsiert sich angesichts der Shortlist für den Deutschen Buchpreis über reihenweise gekillte Darlings des Literaturbetriebs. Die Welt fragt entsetzt: Wo ist Clemens J. Setz? In der Zeit feiert Cees Nooteboom die Männerkörper unter den Kutten Francisco de Zurbaráns. Der Tagesspiegel ärgert sich über den Gratismut von Tilman Köhlers pegidakritischer Shakespeare-Inszenierung in Dresden. Valery Gergiev wird die Münchner Philharmoniker aufs Äußerste fordern, freut sich schon mal die SZ.

Signaturen des Kosmos

16.09.2015. Auf Zeit online denkt Philipp Theisohn über die Besonderheit der außerirdischen Literatur nach. Wim Wenders erzählt in The New Republic, wie er im kriegszerstörten Düsseldorf seine Eltern ins Museum zerrte. Die FR macht Diskurswohnen in München. Der SZ fremdelt mit Max Richters neuer Komposition "Sleep". Der Tagesspiegel führt durch die Art Week in Berlin.

Wie für sich singt dieser Wozzeck

15.09.2015. Einen fantastischen "Wozzeck" hörten die Musikkritiker in Zürich - Andreas Homokis Inszenierung, das Orchester unter Fabio Luisi und Christian Gerhaher in der Titelrolle, einfach alles war grandios. Atmosphärisch eher Apokalypse funny findet die SZ die Abrisskunst Thomas Hirschhorns in Bremen. Die FAZ gerät mit Salvatore Sciarrinos "Wenn wir erwachen" in das Grenzgebiet zwischen hörbaren und unhörbaren Tönen. Der Standard kapituliert vor "Fack Ju Göhte 2": eine Filmkomödie für die Generation Smartphone.

Parodie auf das Anderssein

14.09.2015. Auf der Ruhrtriennale hatte Wagners "Rheingold" Premiere: Ein schlankes Wunder hörte die Welt - dank Dirigent Teodor Currentzis. Politischen Wagner-Rezeptionsmüll sah die FAZ - dank Regisseur Johan Simons. SZ und FAZ entwickeln politische Fantasie bei Matthias Lilienthals Münchner Aktion "Shabbyshabby apartments". Sehr unzufrieden sind die Filmkritiker mit dem Goldenen Löwen für Lorenzo Vigas' Mafiafilm "Desde allá" in Venedig. Und der Komponist Karlheinz Essl möchte, dass wir morgen seine Klanginstallation WebernUhrWerk abspielen - und zwar möglichst laut!

Demokratie ist billiger

12.09.2015. Starke Nebenreihen und Dokus entschädigen die Kritiker für einen eher schwachen Wettbewerbsjahrgang der Filmfestspiele in Venedig. Die FR rät zur Entdeckung des expressionistischen Malers Reinhold Ewald in Frankfurt und Hanau. Der Architekturhistoriker Jürgen Tietz beschwört in der NZZ das identitätsstiftende Potenzial der europäischen Baudenkmäler. Und die taz ergründet die Sehnsucht nach Waldeinsamkeit und Natur in den aktuellen Alben von Deradoorian, White Poppy und DJ Richard.

Lemuren, Gespenster, Übeltäter

11.09.2015. Luk Percevals "Liebe" auf der Ruhrtriennale ist noch pessimistischer als Emile Zolas als Vorlage dienender Romanzyklus über die Rougon-Maquarts, klagt die nachtkritik. Die Welt lernt in einer Ausstellung, wie düster die zwanziger Jahre in Berlin eigentlich waren. Artechock sah in Venedig mit Jerzy Skolimowskis "11 Minutes" den ultimativen unlinearen Film. In der NZZ erklärt der Arzt und Bariton Christian Gerhaher die medizinischen Experimente an Wozzeck.

Wirklich gemeine Fragen

10.09.2015. Die Welt bewundert hingerissen den Urknall von Individualität in den Bildern Giottos. Prätention oder Reflexion? Die Filmkritiker diskutieren über Terrence Malicks "Knight of Cups". Die taz kritisiert die neue Bescheidenheit des Burgtheaters. Die Zeit sieht auf der Bühne nur noch Zombies. Der Freitag stellt Politthriller vor, die weh tun.

Das letzte Faktum

09.09.2015. In der FAZ feiert Iris Hanika das echte Leben in der Ukraine, wo noch täglich im Krieg gestorben wird. Die FR will alle Filme retten, wirklich alle, nicht nur den Kanon. In Venedig wird die taz von Paranoia gepackt, die Welt beobachtet das ganz normal neurotische Leben. Der Tagesspiegel lernt Fotografiegeschichte in einer Ausstellung zu 100 Jahre Leica-Fotografie. Die Welt fragt: Wie lange darf Berlins Ballettchef Nacho Duato noch nichts tun?

Der Abstraktionsgrad auf der einzelnen Kachel

08.09.2015. Der syrische Dichter Adonis ist kein Freund von Assad, aber den religiösen Fanatismus lehnt er eben auch ab, erklärt die FR. Die Welt versucht alte Bücher zu verkaufen. Die NZZ bewundert Majolikaböden in Palermo. Die SZ staunt über die brutale Eleganz, mit der die Biennale in Istanbul über die Leichen im Mittelmeer hinweggeht. Für die taz ist das okay: Bloß keine plakative Politkunst. Die Musikkritiker feiern das flüssig Zuviele in der Musik von Miley Cyrus und den Schizo-Pop von FKA Twigs.

Die Notwendigkeit des Redens

07.09.2015. Am Berliner Gorki Theater eröffnet Yael Ronen die Saison mit "The Situation", einem Deutschkurs für Menschen aus dem Nahen Osten. Im Standard informiert der Autor Serhij Zhadan über den Stand der Demokratiebewegung in der Ukraine. Feridun Zaimoglu schimpft in der FAZ über die Deutschenverachtung der Eliteausländer. Die NZZ rühmt das Wunder von Paul Schneider-Eslebens Nachkriegsarchitektur. Die Filmkritiker stellen sich mit Frederick Wiseman auf eine Kreuzung in Queens und hören einfach zu.

Frösche küssen

05.09.2015. Weite Wege und posthumanistisches Rauschen erlebt die FAZ bei der Biennale in Istanbul. Bei moviepilot erklärt Werner Herzog rigoros, nicht der Kultur der Wehleidigkeit anzugehören wie all die anderen Hollywood-Weicheier. Der Tagesspiegel hört einen hypnotischen Schönberg. In der Literarischen Welt erzählt Übersetzer Juri Elperin, warum Pasternak nie grüßte. Die Theaterkritiker saßen in Weimar beim Rimini-Protokoll-Abend "Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2".

Spuren von Strychnin

04.09.2015. In der Berliner Philharmonie blieb Ai Weiwei auch im Gespräch mit Liao Yiwu bei seinen gemäßigten Tönen, berichten leicht enttäuscht die Zeitungen. Die Presse besucht die Feininger-Kubin-Ausstellung in Wien. Die Filmkritiker berichten aus Venedig über Cary Fukunagas Wettbewerbsfilm "Beasts of No Nation". Presse, SZ und Spex wollen Miley Cyrus jetzt ernst nehmen.

Entspannung ist immer unklassisch

03.09.2015. In Venedig hat Baltasar Kormákurs Bergdrama "Everest" das Filmfestival eröffnet: ein Werbefilm für gemütlichen Wanderurlaub im Sauerland, meint die Welt. Der Tagesspiegel nimmt das Theater Bochum bei den Ohren: Er muss sich nicht in einen Lkw sperren lassen, um Empathie mit Flüchtlingen zu empfinden. Die NZZ erzählt, wie der Textilfabrikant Paul Cavrois lernte, die Architekturmoderne zu lieben. Kölner Stadtanzeiger und FAZ berichten über den Streit um den Remarque-Friedenspreis für Adonis.

Keine Einfühlungscoupons

02.09.2015. Die Welt ist erleuchtet und feiert Miley Cyrus' neues Popalbum. Die FAZ bewundert die provokante Leichtigkeit von Frederic Rzewskis Auschwitz-Oratorium "Der Triumph des Todes" in Weimar. Im Tagesspiegel bietet Shermin Langhoff der Volksbühnenbande an, ihr Ost-Schild am Gorki anzuschrauben. Wenig Freude haben die Filmkritiker mit Werner Herzogs "Königin der Wüste": Rosamunde Pilcher lässt grüßen, schnaubt die taz.

Produktive Irritationen

01.09.2015. Die NZZ versucht den Unterschied zwischen illegalem Plagiat und legaler Appropriation zu erklären. Quentin Tarantino feiert im New York Magazine den Western als zeitgenössisches Genre. Andreas Kriegenburgs "Nathan"-Inszenierung mag ja Humor haben, aber diskurstechnisch ist noch reichlich Luft nach oben, urteilt der Tagesspiegel. Total altmodisch finden Berliner Zeitung und taz den Gegensatz von widerständigem Pop und regierungstreuer Subventionskunst. Und: alle trauern um Wes Craven.