Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

September 2020

Zudem eine zarte Philanthropie

30.09.2020. Der Guardian steht in der National Gallery mit schlotternden Knie vor den Bildern der Artimisa Gentileschi, die sich mit Meisterwerken an ihrem Vergewaltiger rächte. Geschichte der Gegenwart fragt, wie man heute Othello oder auch Lucia di Lammermoor sinnvoll besetzt. FAZ und FR verdrehen genervt die Augen über den Feldzug gegen J.K. Rowling. FAZ und Tagesspiegel erleben mit Oskar Roehlers Fassbinder-Film "Enfant Terrible" Regie-Berserker-Kino reinsten Wassers.

Wild wogende Deutungsmachtfantasie

29.09.2020. Nach über dreißig Jahren gibt es in Berlin wieder einen neuen "Ring", und Stefan Herheims "Walküre"-Inszenierung lässt die Kritiker vor Entgeisterung nach Luft ringen. Lise Davidsens überhelle Sieglinde beschert der FAZ allerdings verdichtetes Opernglück. Mit schmerzhafter Klarheit tritt die amerikanische Armut der taz in den Bildern von Jerry Berndt und Matt Black entgegen. Der Standard erinnert an die Dissidenten der belarussischen Literatur. Die SZ kniet vor der smarten Millie Bobby Brown nieder.

Alles gleich schwer und gleich gefährlich

28.09.2020. Der Observer berichtet, dass ein Verbund internationaler Museen, darunter die Tate Modern und die National Gallery of Art, ihre Philip-Guston-Schau absagen: Sie müssen erst noch herausfinden, ob seine Bilder politisch korrekt sind. Die SZ sichtet, was von der russischen Avantgarde im Museum Ludwig übrig bleibt. In der Berliner Zeitung setzt Thomas Hettche die Eigengesetzlichkeit der Literatur gegen das permanente Moralisieren in den sozialen Medien. Die FAZ klickt sich durch die Geschichte der Ikea-Kataloge.

Die Reime lagen auf der Straße

26.09.2020. Die SZ lässt sich vom Trüffelduft der Blockbuster-Ausstellung "Dekadenz und dunkle Träume" in der Alten Nationalgalerie nicht darüber hinwegtäuschen, dass die belgischen Symbolisten von den Kolonien profitierten: Sie hätte sich auch Fotos von abgehackten Kinderhänden aus dem Kongo gewünscht. Die FAZ schleicht sich an die scheuen AutorInnen Portugals heran. Auf ZeitOnline erklärt Julia Wissert, die erste schwarze Intendantin an einem deutschen Stadttheater, wie sie das Theater diverser machen will. Die Berliner Zeitung sucht mit Chuck D von Public Enemy den Wert der Kultur auf den Straßen der Bronx.

Kosmologie von Mensch und Hund

25.09.2020. Im Van Magazin sucht der Komponist Yannis Kyriakides mit Hilfe einer Computerstimme nach einer neuen musikalischen Sprache. Die Malerin Chantal Joffe erzählt in der NYRB von ihren Zeitreisen. Der FAZ-Literaturkritiker Friedrich Sieburg war ein Funktionär des Dritten Reichs und keineswegs im geistigen Widerstand, erinnert die SZ. Der Tagesspiegel lernt von KaDeWe-Model Hengameh Yaghoobifarah, wie kapitalistisch Kapitalismuskritik sein kann.

Eine gewisse Historizität des Dancefloors

24.09.2020. In der Welt erzählt der Schriftsteller Colson Whitehead, wie schwer es für einen schwarzen Vater in den USA ist, einen positiven Ort für seine Kinder zu finden. Die Berliner Zeitung kann sich gar nicht satt sehen an den Bildern des kenianischen Künstlers Michael Armitage im Münchner Haus der Kunst. Die Zeit lernt mit Armitage sogar Paviane, Alligatoren und Schlangen lieben. Die SZ stellt anlässlich von Corona-Infektionen beim Gallery Weekend in Berlin fest: Künstler sind auch nicht besser als Fußballfans. Die Musikkritiker trauern um Juliette Greco, die Filmkritiker um den Schauspieler Michael Gwisdek.

Der tiefe Sturz in den Zeuthener See

23.09.2020. Die SZ feiert die Wiederentdeckung von Ruggero Leoncavallos veristischer Oper "Zazà" in Wien. Der Freitag reitet mit dem Cowboy Dean Reed noch einmal in den Untergang der roten Sonne. In der FAS wünscht sich die italienische Schriftstellerin Giulia Caminito einen gewaltlosen Anarchismus. In der NZZ sieht Zürichs Musikdirektor Paavo Järvi in der Coronakrise nur eine Generalprobe. Und die Filmkritik trauert um Michael Lonsdale, den großen einsamen Mann des französischen Kinos.

Ruhig bleiben in Stockholm

22.09.2020. Die NZZ setzt mit Julian Schnabel in der Krise auf die Kunst. Die FAZ weint mit Christoph Marthaler in Zürich Tränen des Glücks. In der FR erklärt Alfons Kaiser Karl Lagerfeld als "Preußen in Dandy-Gestalt". Der Tagesspiegel sondiert die Lage in der Schwedischen Akademie vor der Vergabe des Literaturnobelpreises. ZeitOnline fürchtet das große Veranstaltersterben im nächsten Jahr.

Sie sind mächtig und sie sind fremd

21.09.2020. Die NZZ durchstreift in Moskau die Wohneinheiten von A bis F in Moisse Ginsburgs luxussaniertem Narkomfin-Haus. Nachtkritik und Berliner Zeitung setzen sich lust- und angstvoll She She Pops anatomischer "Hexploitation" aus. In der Welt meldet sich Katharina Wagner zurück auf dem Grünen Hügel. Die Schwäbische Zeitung berichtet vom Filmfestival in San Sebastian, das einen Auftakt mit Woody Allen wagt. Die Zeit erliegt mit Anne Imhof dem Masochismus. Und die taz beneidet den siebzig gewordenen Bill Murray um seine glückselige Melancholie.

Beim ersten Mal arpeggiert er aufwärts

19.09.2020. Die SZ begeistert sich für Lang Langs standpunklose, dafür Möglichkeiten auffächernde Aufnahme der Goldberg-Variationen. Ilija Trojanow verbringt für die FAZ eine Nacht allein in einem Bücherkaufhaus. Claus Peymann und Thomas Bernhard setzen die nachtkritik dem Horst-Wessel-Lied aus. Die SZ besucht die Manifesta in Marseille. Bei meedia hoffen die Filmemacher Thomas Frickel und Hannes Karnick auf Netflix, um den Dokumentarfilm sichtbarer zu machen.

Strom ist die Droge der Gitarre

18.09.2020. Der Tagesspiegel bestaunt den höchst aktuellen überspannten Menschen in der Symbolismus-Ausstellung in der Alten Nationalgalerie. Und er feiert "Nackte Tiere", das Spielfilmdebüt der dffb-Absolventin Melanie Waelde. Zeit online porträtiert die Regisseurin Anta Helena Recke als neuen Shootingstar im deutschen Theater. Die taz betrachtet das "gerechter" umgebaute Hebbel-Theater. Die Musikkritiker erinnern an die musikalische Vision von Jimi Hendrix, der vor 50 Jahren starb.

Die Technologie - das sind wir

17.09.2020. Alex Ross sucht den linken Wagner, den Lenin und George Bernard Shaw liebten. Im Van Magazine diagnostiziert der Komponist Sergej Newski eine neue zeitliche Asynchronität seit Ausbruch der Coronakrise. Warum spielt die moderne Kommunikationswelt in der Gegenwartsliteratur kaum eine Rolle, fragt sich in der Berliner Zeitung die argentinische Autorin Samantha Schweblin. Die taz erkennt mit Roy Anderssons Film "Über die Unendlichkeit", dass auch bei Könnern ästhetisches Gelingen eine Frage des Glücks sein kann. Die Zeit meditiert vor Gerhard Richters drei Fenstern für das Kloster Tholey.

Dieser Beethoven ist für euch!

16.09.2020. Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis provoziert FAZ bis taz zu großem Einverstandensein. Im Spectator zeigt Nick Cohen, dass eine Perücke ausreicht, um aus J.K. Rowling eine Hexe zu machen. Der Guardian freut sich über den Deutsche Börse Preis für den Fotografen Mohamed Bourouissa, der Marktwirtschaft zeigt, wo sie am härtesten zuschlägt. Benedict Andrews' Biopic hat Jean Seberg nicht verdient, finden Jungle World und SZ. Das Neue Deutschland hört eine Fünfte on fire.

Stets trifft Tanz auf Mode

15.09.2020. Die NZZ erlebt mit Trajal Harrells Choreografie "The Köln Concert" ein wahres Theaterbeben in Zürich. Im Standard fürchtet Claus Peymann nur die neue Pest der opportunistischen Theaterintendanten. Die SZ hält der "normierenden, fiesen Tampon-Industrie" Lucy McKenzies "Mooncup" entgegen. Die FAZ sieht in der Aufregung um Maïmouna Doucourés "Mignonnes" ein eher mutwilliges Missverständnis. Die Jungle World hält zum unkorrekten, aber komplexen Humor von "30 Rock".

Fiesheit und Farce

14.09.2020. Die Filmfestspiele von Venedig enden mit einem Goldenen Löwen für Chloé Zhaos "Nomadland" mit Frances McDormand. Die Entscheidung lässt die Kritiker jubeln, naja, außer einem. Rainald Goetz überwältigt SZ, FAZ und Welt mit seinem geschichtsphilosophischen Drama "Reich des Todes" am Hamburger Schauspielhaus. Die FAZ lässt im Amsterdamer Nxt Museum ihre emotionale Stabilität errechnen. Die NZZ verteidigt die Autonomie der Kunst gegen die Mythenverächter.

Von Bob Dylan hat er nie gehört

12.09.2020. So einig hatte sich Ferdinand von Schirach das Urteil über sein Sterbehilfe-Stück "Gott" wohl nicht vorgestellt: Das "Gegenteil  von Theater", staubtrocken, "pures Papier", winken die TheaterkritikerInnen ab. Mehr Spaß hat die SZ bei der Berliner Art Week auf den Toiletten des Berghain. Die FR lauscht in Venedig angetan einer feuchten Unterhaltung zwischen Dennis Hopper und Orson Welles. In der FAZ sendet Jan Wagner Postkarten aus dem Iran. Und im Standard möchte Joachim Meyerhoff keine Betroffenheitsliteratur schreiben.

Das Unbehagen an der Realität

11.09.2020. Keinen Wagner nur Barock hört das Van Magazin im prachtvollen Markgräflichen Opernhaus in Bayreuth. Die FAZ betrachtet Totentänze in Chur. Die Literaturkritiker trauen der Macht der Literatur längst nicht so wie Mario Vargas Llosa in seiner Eröffnungsrede für das Internationale Literaturfestival in Berlin, lernen wir. Auf Zeit online meint Georg Seeßlen: Filmförderung kann weg. Die taz wärmt sich am neuen Album der Folksängerin Shirley Collins.

Gestern noch friedliche Nachbarn

10.09.2020. In Europa sind wir keine Feinde mehr, rief Navid Kermani in einer Rede zur Eröffnung des Harbour Front Literaturfestival in Hamburg den Autoren zu, die nicht mit Lisa Eckhart auf eine Bühne wollten. Die Zeit dokumentiert die Rede. In Sachen sexueller Belästigung hat sich in der Opernwelt kaum was geändert, seit Enrico Caruso im New Yorker Affenhaus verhaftet wurde, meint das Van Magazin. Zuviel Glanz und Gloria erlebt die SZ in der Jubiläumsausstellung des Metropolitan Museums in New York. In Venedig wurde Frederick Wisemans Doku über die Bostoner "City Hall" gezeigt: Bombay oder Teheran wären interessanter gewesen, meint Artechock. Die FAZ fragt: Warum fehlen die freien Ensembles auf der Karte der Deutschen Orchestervereinigung?

Im Putzlicht

09.09.2020. Etwas verstört reagieren die Zeitungen auf die Absage der Frankfurter Buchmesse als Live-Ereignis: Ist das nur traurig oder hat es auch was Gutes? Und dass die Buchmesse ihre Implosion als Erfolg ausgibt, macht den Tagesspiegel fassungslos: Ist das Galgenhumor? Oder Ironie? In der SZ geißelt die Regisseurin Anna Lengyel die Machtpolitik in der ungarischen Theaterwelt. FR und SZ feiern Gianfranco Rosis in Venedig gezeigten Film "Notturno" als universales Poem auf das Weiterleben. Monopol und berliner Zeitung tanzen zu den wabernden Rhythmen der Berlin Art Week im Berghain.

An Tischbeinen und Türkanten

08.09.2020. Die Welt erklärt die Bedeutung von Aby Warburg. Die Nachtkritik reist mit Christopher Rüping und Thomas Klöck zu den Katastrophenorten des Kapitalismus. Im DlfKultur spricht Joachim Meyerhoff über seinen Schlaganfall. Der Tagesspiegel freut sich, dass er aus Venedig nichts Aufregendes melden muss.  Und ZeitOnline erkennt den Trend zum gestiefelten Sneaker.

Schlupflöcher freihauen

07.09.2020. Marie-Eve Signeyrole eröffnet mit ihrem in Berlin uraufgeführten Musiktheater der SZ eine neue Beethoven-Dimension. Mit Michael Armitage entblättert sie die innere Rinde der Natalfeige. Die FAZ feiert Benny Claessens als queeren Brandauer. Die FAS entdeckt in Cemile Sahins Romanen eine Finsternis, die in der aktuellen deutschen Belletristik ziemlich allein dasteht. Die NZZ hadert mit dem unsubtilen Schriftsteller-Aufruf gegen Donald Trump. Der Tagesspiegel berichtet beglückt von den Vanessa-Kirby-Festspielen in Venedig.

So sichtbar. So verletzlich. So wunderschön

05.09.2020. Die NZZ bewundert das Konzept der Leere in den Arbeiten der Künstlerin Marion Baruch. Tagesspiegel und Berliner Zeitung besuchen die wokeste Berlin Biennale ever. Im Gespräch mit der Literarischen Welt sucht Karl Heinz Bohrer den existenziellen Hass in der zeitgenössischen Literatur. Die taz besucht schwierige Proben in der Volksbühne. Die Filmkritiker trauern um den Schauspieler Birol Ünel.

Am Ende steht die Welt in Flammen

04.09.2020. Berliner Zeitung und Tagesspiegel jubeln: Potsdam wird ein neuer Wallfahrtsort des Impressionismus mit über hundert Gemälden aus der Sammlung Plattner. Die Welt staunt über die ironielosen chinesischen Werte im Disney-Remake von "Mulan". Die NZZ freut sich schon auf die Extremtänzerin Florentina Holzinger in der Volksbühne. Die taz porträtiert die Indieband Erregung Öffentlicher Erregung. Die FAZ lässt sich in Essen noch einmal von Keith Haring beeindrucken.

Die Wahrheit über die Welt

03.09.2020. taz, SZ und FAZ erliegen dem Pathos der Marina Abramović, die sogar Maria Callas zu Wiederauferstehung zwingt. Van unterhält sich mit der Komponistin Milica Djordjević über das Körperliche und Elementare in ihrer Musik. Die FR steht in der Schirn verwirrt auf einem Bild des iranischen Künstlerkollektivs Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian. Die FAZ durchlebt in Würzburg noch einmal die Geschichte der Bundesrepublik mit der Fotosammlung von Michael Schupmann. In der NZZ erklärt der amerikanisch-jüdische Journalist Massoud Hayoun, warum er sich immer auch als Araber beschreiben würde.

Bombast ist gar kein Ausdruck

02.09.2020. In Venedig beginnen heute die Filmfestspiele, coronabedingt mit wenig Stars und viel Abstand. Die FR kann sich die herzliche Mostra bisher nur schwer als Distanzerlebnis vorstellen. Die SZ erlebt in Paris die Umkehrung der Banlieue von der Vorstadt zum Weltgefühl. Der Guardian verehrt mit Richard Rogers auch das lausige Zeichnen, chaotische Arbeiten und unverständliche Urteil. Auf 54books verteidigt die Schriftstellerin Katharina Hartwell ihren finanziellen Ehrgeiz. Und die taz zieht mit den Bright Eyes von Stonehenge zum Mount Everest.  

Es geht immer um die Sache.

01.09.2020. In der SZ pocht Marina Abramovic auf die künstlerische Pflichterfüllung. SZ und FAZ feiern Hakan Savaş Micans Großstadtballade "Berlin Oranienplatz", mit dem das Gorki Theater in die neuen Saison startet. In der Welt wünscht Klaus Honnef dem Institut für Fotografie, egal ob in Essen oder Düsseldorf, vor allem ein theoretisches Fundament. Nach dem Aus von Columbia Artists Management fragt Crescendo, ob sich die Dinosaurier der alten Klassikwelt nicht eh überlebt haben. Und dem Guardian offenbart sich im V&A-Museum die schweigend strahlende Schönheit des Kimonos.