Efeu - Die Kulturrundschau

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Dezember 2022

Schinkel-Grün und Barcelona-Orange

31.12.2022. Die SZ bewundert das Zusammenspiel von Action und Intellekt in Noah Baumbachs Verfilmung des DeLillo-Romans "Weißes Rauschen". In der taz möchte Kim de l'Horizon mit allen Männern die Schönheit männlicher Körper erdreamen. Der Guardian badet in den Farben der Annie Sloane. Die NZZ erinnert an eine Zeit, als Architektur auf Sperrholz, Dachpappe oder Eternit setzte statt auf Marmor und Edelhölzer. Und: Dirigent Franz Welser-Möst verspricht in der FR unbekannte Strauss-Musik beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker. In diesem Sinne wünschen wir allen Lesern einen guten Rutsch ins neue Jahr und viel purple rain to you!

Unterfutter eines gewaltigen Weltwissens

30.12.2022. Die Welt erfreut sich im Leipziger Museum für Völkerkunde an Enotie Paul Ogbedors farbsatten Gemälden von Benin-Bronzen und erfährt nebenbei auch noch etwas über die Rolle der Frauen in Benin. In der Berliner Zeitung kämpft der polnische Theaterregisseur Jakub Skrzywanek für Meinungsfreiheit in Polen. Die FR ertastet die Oberflächenstruktur in der Musik von Barre Phillips und György Kurtág jr. NZZ und FAZ bringen erste Nachrufe auf Vivienne Westwood, die so wunderbar jedem Bild entsprach, das man sich von britischen Exzentrikern macht.

So real wie ein Bombenkrater

29.12.2022. Die NZZ fröstelt in einer Ausstellung über "Kunst und Krieg", wo die Greuel in den Grafiken von Goya und Callot sich in den Bildern aus der Ukraine spiegeln. Der Tagesspiegel freut sich über die Unmittelbarkeit der Prosa Stephen Cranes, wenn der von Slums oder dem amerikanischen Bürgerkrieg erzählt. Die FAZ hört sich begeistert durch den Klassik-Streamingdienst Symphony.Live. Die Jungle World begutachtet die Diversitätsstrategien bei Disney.

Gequält lächelnd, verkrampft blinzelnd

28.12.2022. Die New York Times huldigt dem kubanischen Bildhauer Juan Francisco Elso. Der New Yorker diagnostiziert bei der Filmkritik eine Art Stockholm-Syndrom. Die Welt erlebt Annie Ernaux in dem Essayfilm "Die Super-8-Jahre" genauso unfroh wie in ihren Büchern. Der Standard erschauert vor der gigantomanischen Nationalkathedrale, die Bukarest direkt neben Ceausescus Palast errichten lässt. Auf Telepolis beschreibt Berthold Seliger, wie sich der Fonds-Kapitalismus durch die Musikbranche gräbt.  

Das Archiv ist die Rache am Autor

27.12.2022. Die NZZ lernt von japanischer Architektur das Jetzt zu flicken und zu stopfen. FAZ und SZ sehen in München eine Supersonne über dem Bayerischen Staatsballett aufgehen. Die SZ seufzt: Björn Andrésen, ist nicht mehr Viscontis Ikone der Schönheit, sondern eine des Leidens. Die Welt porträtiert Orkun Ertener, früher Autor, jetzt Creative Producer von "Neuland".  Die taz schließt sich den Freunden von Reibegeräuschen an.

Zwischen künstlerischer Größe und selbstreflexivem Ghetto

24.12.2022. Die SZ schaut in Hannover erschüttert auf die blutverschmierten Frauen, die Paula Rego in den Neunzigern malte, um die Legalisierung der Abtreibung in Portugal voranzutreiben. artechock fragt ungehalten, wann der deutsche Film eigentlich zuletzt echte Debatten und ästhetische Fantasien entfesselt hat. Die taz lauscht in Berlin der iranischen Komponistin Aida Shirazi, die ein Gedicht Walt Whitmans wie kriechende Termiten klingen lässt. Und alle trauern um den Lyrikkritiker Michael Braun, der sich mit Neugier und Offenheit auch unbekannten Dichtern widmete.

Rhythmus im Ostinato

23.12.2022. Die FAZ erlebt einen historischen Wendepunkt beim Konzert des Israel Philharmonic Orchestra in Abu Dhabi. Zugleich kritisiert sie den Whataboutism von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, ab dem neuen Jahr Leiter des Hauses der Kulturen der Welt. Warum wird die Filmkunst in Deutschland so wenig ernst genommen, fragt im Filmdienst der Regisseur Daniel Sponsel. Die SZ feiert Nduduzo Makhathinis "In the Spirit of Ntu" als Jazzalbum des Jahres.

Es ist pure Liebe. Pures Licht

22.12.2022. Die FAZ betrachtet den neuen Geschwisterfrieden in der Kunsthalle Tübingen. Die Welt würdigt Sivan Ben Yishais "Bühnenbeschimpfung" am Gorki Theater als Angriff auf die eigene Blase aus der Blase heraus - hätte ihm nur Regisseur Sebastian Nübling nicht den Stachel gezogen. Die SZ fragt entgeistert, was an der "Harry & Meghan"-Netflix-Serie bitte schön dokumentarisch sein soll? Das VAN-Magazin unterhält sich mit dem Youth Symphony Orchestra of Ukraine. Die taz erinnert an die deutsch-litauische Malerpoetin Aldona Gustas.

Hoheitlich lektorierte Kultur

21.12.2022. Die SZ fragt angesichts des Streits um Wajdi Mouawads "Vögel", ob künftig Wahrheitskommissionen darüber entscheiden, welche Stücke gespielt werden dürfen. Der Standard meldet, dass Stefan Bachmann neuer Direktor des Burgtheaters wird. Die Welt bewundert in Mailand die Kunst der Römer, Schönheit zu recyclen. Die FAS versucht Jerzy Skolimowskis geheimnisvollen Filmhelden EO zu ergründen. Außerdem trauern die Feuilletons um Terry Hall, bei dessen Specials Weiß und Schwarz noch zusammen gegen die Deindustrialisierung anspielten.

Der echte Alarm

20.12.2022. Die SZ opponiert gegen den Kuschelfeminismus, mit dem Leonie Böhm in Hamburg Schillers Jungfrau von Orleans dezidiert nicht in die Schlacht ziehen lässt. Außerdem schwärmt sie von lässigen Licks und schlurfenden Grooves bei Little Simz. Die NZZ geht den Ursachen der Kinokrise nach und verirrt sich im Dickicht der Vertriebsförderung. Die FAZ berichtet vom Tauziehen um Joshua Reynolds Porträt eines jungen Polynesiers, für das die National Portrait Gallery bis März 50 Millionen Pfund aufbringen muss, um das Bild im Land zu halten.

Dieses Erbe des Absolutismus

19.12.2022. SZ und FAZ beobachten hingerissen, wie sich Elfriede Jelinek in ihrem neuen Stück "Angabe der Person"" die Wunden aufreißt, die ihr das deutsche Finanzamt schlug. Die FR erklärt, warum dagegen Tyrannen auf der Bühne so wenig hergeben. Die SZ berichtet von der Verhaftung der iranischen Schauspielerin Taraneh Alidoosti. Und die NZZ beleuchtet den skurrilen Kosmos klassischer Orchestermusiker.

Stille Erlösung von der Wirklichkeit

17.12.2022. Die FAZ notiert betrübt die Gemeinsamkeiten Michel Houellebecqs mit dem rechtspopulistischen Philosophen Michel Onfray. Außerdem feiert sie die die Modernetauglichkeit katholischer Intelligenz in Charles Tournemires Oper "La Légende de Tristan", deren Uraufführung nach knapp hundert Jahren jetzt das Theater Ulm besorgt hat. Die NZZ berichtet vom Filmfestival in Havanna. Und: "Der Esel ist der ultimative Laienspieler", erklärt Filmregisseur Jerzy Skolimowksi in der taz. Der Standard hört Free Jazz zweier heiliger Narren aus dem Jahr 1977.

Auf dem roten Sofa in Köpenick

16.12.2022. Die FAZ erkennt in Paris das politische Anliegen hinter Frida Kahlos Mix aus präkolumbianischem Schmuck und europäischem Gouvernantenstil. Im Jüdischen Museum in Frankfurt begegnet sie dem Who's who der Nachkriegszeit im Nachlass von Gisèle Freund. artechock wünscht sich weniger Geschlecht und mehr Geschmack im Kino. Die SZ tanzt mit John Neumeier und Johann Sebastian Bach in Hamburg durch Kampfzonen der Hoffnung entgegen. Und die nachtkritik feiert in Zürich mit Elfriede Jelinek und Nicolas Stemann eine Strandparty im Angesicht der Klimakrise.

Kosmopolitische Perspektiven

15.12.2022. Die NZZ bewundert in einer Basler Ausstellung ukrainische Künstler, die oft als Russen galten. Die FAZ unterhält sich mit Autor Kai Sina über Enzensbergers Zeitschrift Transatlantik. Zelda Biller staunt über den antiisraelischen Kitsch des Netflixfilms "Farha". Die taz erliegt den extrem assoziativen Klangsprache Fritz Brückners. Die designierte neue Schauspielchefin in Salzburg Marina Davydova erzählt im Interview mit der SZ von ihrer Flucht - erst aus Baku, dann aus Moskau.

Haut, Wasser und Leder

14.12.2022. James Camerons Blockbuster "Avatar 2" soll Geld in die Kinokassen spülen, die Filmkritik ist berauscht von dem Meeres-Fantasy-Spektakel in 3D, auch wenn sich manche ein Drehbuch gewünscht hätten. Im Filmdienst beobachtet Lars Henrik Gass derweil, wie im deutschen Kino wirtschaftliches Unvermögen zu kultureller Relevanz umgedeutet wird. Die FAZ spürt in der Hamburger Kunsthalle dem Hauch der Inspration nach. Und in der SZ erzählt Stuart Murphy, wie der English National Opera von einem Tag auf den anderen die Subventionen gestrichen wurden.

Eine gut gemalte Rübe

13.12.2022. Die FAZ pilgert nach Madrid, wo das Museo Thyssen-Bornemisza Kunst der ukrainischen Avantgarde zeigt. Der DlfKultur fragt, wie das Zentrum für Politische Schönheit auf die Idee kommen konnte, in Otto Muehls ehemaliger Kommune eine Werkschau zu planen. Die SZ liest berührt Hans Wollschlägers Briefe, in denen sich der matte Glanz einer tragischen Schriftstellerexistenz offenbart. Die Welt sieht sich bestätigt: Die ganze moderne Architektur hätte nie gebaut werden dürfen. Außerdem entschwebt die SZ ein letztes Mal in den Wolkenfelder des Krautrock-Gitarristen Manuel Göttsching.

Optimistische Gedankengebäude

12.12.2022. Nach der Verleihung des Europäischen Filmpreises an Ruben Östlunds "Triangle of Sadness" fragen sich Welt und Tagesspiegel, wie das europäischen Autorenkino der amerikanischen Übermacht entgegentreten kann. Die FAZ feiert mit dem Leipziger Museum für bildende Kunst die Malerin Olga Costa und mit ihr die mexikanische Moderne. Im Standard ätzt Wolfgang Prix gegen das neue Biedermeier in der Architektur. Die taz geht ins Atelier Friedl Dicker und Franz Singer. Die FAZ lauscht verzückt der pedallos perlenden Geläufigkeit des Pianisten Walter Gieseking.

Beim urbanen Stromern ins Driften geraten

10.12.2022. Rieke Süßkow schiebt Peter Handke in Wien ins Pflegeheim ab und die Feuilletons amüsieren sich über so viel Respektlosigkeit. Nur die FAZ schluchzt: Skandal! Wo bleibt da die Ehrfurcht? Außerdem sucht die FAZ nach den Gemeinsamkeiten französischer Literatur-NobelpreisträgerInnen. FR, Welt und FAZ verbrennen sich in Frankfurt an der beißenden Ironie von Rosemarie Trockel. "Europa bleibt zersplittert", erkennt der Tagesspiegel auch bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises. Und die taz stolpert auf den Algenteppichen von rRoxymore.

Oder ich zanke mit Mami

09.12.2022. Kollektivpanik ist Religionsausübung, ruft Jonathan Meese im Gespräch mit der SZ (zusammen mit Alexander Kluge) allen Aktivisten entgegen. Die Welt erzählt, wie deutsche Behörden den iranischen Filmemacher Ata Mehrad schikanieren. Der Tagesspiegel fragt nach der Premiere von Antoine Fuquas Sklavereidrama "Emancipation": Black Trauma Porn, wirklich? Die FAZ liest in Nora Kienasts Dissertation "Musikwettbewerbe unter Legitimationsdruck" von Seilschaften und Absprachen im Klassikbetrieb.

Eine Sprache der Verschleierung

08.12.2022. Annie Ernaux hat ihre Nobelpreisrede gehalten und der Tagesspiegel staunt, wen sie alles repräsentieren will. Im Interview mit der nachtkritik erklärt die iranische Dramatikerin Mahin Sadri den Unterschied zwischen Deutsch und Farsi. Die nmz hört sich in Frankfurt mit Tschaikowskis Oper "Die Zauberin" an die Grenzen der Tonalität. Die FAZ lernt in einer Tudor-Ausstellung, wie Heinrich der VIII. mit dem Heiland kommunizierte. Die Zeit beobachtet, wie Chimamanda Ngozi Adichie und Ayad Akhtar der Cancel-Culture die Zähne ziehen.

Alles freudlos und aschgrau

07.12.2022. Die FAZ bewundert die glamouröse Tilda Swinton in einer Mode-Performance mit  Kostümen aus Pasolini-Filmen. Ebenfalls in der FAZ erinnert sich Christoph Ransmayr an eine Reise mit Enzensberger in den Kernschatten des Mondes. Die Jungle World verabschiedet sich nach elf Staffeln "The Walking Dead" vom Zombiefilm, der nur noch resignative Utopien formuliere. Und dem Standard graut vor Sidos Rückkehr auf den Rap-Dampfer.

Neue Fenster, bitte!

06.12.2022. Peter Handke wird achtzig. Die Feuilletons feiern seine Poesie, weniger seine Lust an der Provokation und seine Serbien-Obsession. Als Stück der Stunde feiert die NZZ Francesco Cavallis Oper über den queeren Kaiser Eliogabalo von 1667. Die FAZ bewundert die neue, für Licht und Menschen durchlässige Kunstakademie von Jerusalem. Der Filmdienst beobachtet den großen Paradigmenwechsel in der Filmkritik. Kino ist nicht mehr fürs Publikum, sondern für Akademiker. Pitchfork kürt seine besten Songs des Jahres.

Auf dem blauen Kanal

05.12.2022. In Berlin tagte zum ersten Mal der PEN Berlin. Schön divers ist er, freut sich die FAZ, jünger, weiblicher, migrantischer. Die politischen Konflikte waren allerdings schon ganz schön handfest, berichtet die SZ, und ZeitOnline stellt fest, dass der neue PEN nicht mehr links, sondern liberalkonservativ ist. Die Nachtkritik schluckt schwer bei Kirill Serebrennikows Schreckensinszenierung "Der Wij" in Hamburg. ZeitOnline lauscht den Tuareg-Jams, die im mauretanischen Flüchtlingscamp M'berra entstehen.  

Komm, sag was Gegendertes

03.12.2022. Die SZ wünschte sich, es gäbe heute mehr Schriftsteller mit dem ungeschützten Wagemut eines Heinrich Böll statt dem Gratismut einer salongeschützten Altlinken wie Annie Ernaux. Außerdem hofft sie, dass die Wahl von Chantal Akermans "Jeanne Dielman" als bester Film aller Zeiten eine diversere Filmgeschichtsschreibung einleitet. Toller feministischer Film, meint auch die Welt, nur leider kann man ihn in Europa nirgends im Stream sehen. Der Tagesspiegel feiert Anita Rocha da Silveiras feministische Horror-Groteske "Medusa", die von einem Brasilien der Zukunft erzählt, in dem Christenfundamentalismus herrscht.

Der Geist von Tegel

02.12.2022. Die Berliner Zeitung bewundert ungarische Kunst aus dem Untergrund der Nachkriegszeit. Das British Filminstitute versucht den Filmkanon umzuschreiben: Als bester Film aller Zeiten gilt ihm jetzt Chantal Akermans "Jeanne Dielman 23, quasi du Commerce, 1080 Bruxelles". Die SZ staunt bei der Pressekonferenz zum Nachlass von Rilke über die originellen Gründe des Literaturarchivs in Marbach, warum der Kaufpreis nicht genannt wird. Die Musikkritiker trauern um Christine McVie von Fleetwood Mac, die Architekturkritiker um Meinhard von Gerkan.

Die große Geste bleibt

01.12.2022. Welt, SZ und Perlentaucher freuen sich über das Chaos der Zivilisationen in Kurdwin Ayubs Filmdebüt "Sonne". Die FAZ erlebt in Nürnberg ein witziges Spiel mit Polystilistik und reinstes Komponistenglück bei der Uraufführung von Anno Schreiers Oper "Turing". Die Welt steht staunend vor den verstrahlten Kokosnüssen, die der Schweizer Künstler Julian Charrière vom Bikini-Atoll nach Neuss mitgebracht hat.